Nachruf

Rodolphe Prager (1918-2002)

Michel Lequenne

Rudi war ein Mensch, den man gern haben musste. Keinerlei Heftigkeit war an diesem unerschütterlichen Revolutionär zu bemerken: eine ruhige Kraft, eine nicht aus der Fassung geratene Leiden¬schaft, ein lächelnder Humor, eine langsame, aber sichere Gangart. Sein politischer Lebenslauf ist wie die reine und schlichte Bahn eines Pfeils. Zu seinen Kindern, die ihn baten, über sein Leben zu erzählen, sagte er, nachdem er über seine eigene Kindheit gesprochen hatte, einfach: „Mehr hab' ich nicht zu sagen, ich habe getan, was ich musste, das ist alles!“

So war er eben: Er tat, was er tun musste, das was ihm ein scharfer Verstand, eine völlige Integrität, eine vor­urteils­freie Intelligenz zu tun vorgaben, und er hat es gut gemacht. Und das war nicht immer einfach, in dieser für unnachgiebige Revolutionäre, die von allen Seiten bedrängt werden, doch chao¬tischen geschicht­lichen Zeit. Für ihn noch weniger, da er am 31. März 1918 als Staatenloser und Sohn eines ungarischen Juden und einer deutschen Mutter in Berlin zur Welt kam, wo kurz vorher die Spartakisten geschlagen worden waren. Eine derartige Umgebung ist allerdings in der Tat zugleich dazu angetan gewesen, einen zum Internationalisten werden zu lassen. Vor allem, als dann noch die Folgen der fürchterlichen Wirtschaftskrise von 1929 hinzukamen, durch die die Familie zur Emigration aus Deutschland gezwungen wurde. Seine Mutter war in der SPD und hatte ihn gerade veranlasst. sich den Roten Falken anzuschließen. bei denen er im Sommer in der Nähe von Köln an einer „Kinderrepublik“ teilgenommen hatte. Fast ohne Unterbrechung war er folglich ab 1931 bei den „Jeunesses socialistes“ [der Jugendorganisation“ der SFIO, der sozialdemokratischen Partei]. dann bei den „Campeurs rouges“ [den Roten Zeltern]; dort traf er Roger Foliier. einen anderen bewunderungswürdigen Genossen, der mehr als eine Generation geschult hat (und zugleich weiterhin einer der am meisten Verleumdeten ist). Unter seiner Anleitung war er – nachdem er im Juli 1932 an einem internationalen Jugendlager teilgenommen hatte. auf dem er eine Delegation der deutschen Roten Falken wiedertraf – an der Gründung eines ähnlichen Verbands in Frankreich beteiligt; dieser Arbeit widmete er sich bis 1935.

Diese Organisation war ein wahres Nest von künftigen Trotzkisten. Rudi selber, der zu der Zeit des Entrismus mit entrolltem Banner, wie Trotzki ihn [1934] empfohlen hatte. arbeitete wieder in dem sozialistischen Jugend­verband mit und sympathisierte umgehend mit den Thesen dieser „Bolschewiki-Leninisten“ und trat ihrer Gruppe bei. Nicht lange, denn die Trotzkisten wurden auf dem Parteitag vom Juni 1935 ausgeschlossen. Im Januar 1936 bildeten die jüngeren den Jugendverband JSR (Jeunesse socialiste révolutionnaire). Rudi wurde, noch vor seinem 18. Geburtstag Mitglied des Zentralkomitees der JSR. Die Trotzkisten blieben jedoch zunächst Mitglieder der Roten Pioniere, erst im November gelang es der SFIO, sie auszuschließen, nachdem sie eine nicht gering zu schätzende Rolle bei der Unterstützung der großen Streiks [von Mai/Juni 1936, kurz nach dem Wahlsieg der Volksfront] gespielt hatten.

Infolge der Spaltung der französischen trotzkistischen Bewegung in zwei Strömungen befanden sich Prager und Foirier in der Opposition zu Fred Zeller, dem führenden Kopf der JSR, und sie traten der „Parti communiste internationaliste“ (PCI) bei, die [im März 1936] von Raymond Molinier und Pierre Frank gegründet worden war.

Für den Rest seines Lebens sollte er Pierre Frank treu bleiben. Er war Mitglied des ZK der PCI und nahm im September 1937 an der Gründung einer „Jeunesse communiste internationaliste“ (JCI) teil, und er war dann Redaktions­mitglied ihrer Zeitung, des Jeune bolchevik.

Im Mai 1938 folgte ein erneuter Entrismus, dieses Mal in die von der SFIO suspendierte „Fédération de la Seine“ [Bezirk Paris und Umgebung] der sozialistischen Partei. Nach dem Ausschluss sämtlicher Anhänger und AnhängerInnen von Marceau Pivert entstand aus dieser Strömung die Sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei (Parti socialiste ouvrier et paysan – PSOP), mit einer JSOP, der sich die Mitglieder der JCI anschlossen, nachdem sie sich auf der Grundlage eines politischen Berichts von Rudi selbst aufgelöst hatten. Zur selben Zeit gewann er eine kleine Gruppe von Gegnern des Stalinismus aus dem kommunistischen Jugendverband in Montreuil, die führenden Köpfe waren Jacques Grinblat (Privas) und Pierre Boussel (P. Lambert).

Damals wurden junge Immigranten ohne große Umstände eingebürgert, damit sie Soldaten werden konnten. Nachdem er im Januar 1938 Franzose geworden war, kam Rudi im November „zur Fahne“. Während er den Militärdienst ableistete, löste die PCI sich auf und trat als Tendenz „La Vérité“ in die PSOP ein. Der unmittelbar bevorstehende Krieg veranlasste die Trotzkisten jedoch, sich auf das Schlimmste einzustellen, was dann auch eintrat. Auf Beschluss seiner Organisation desertierte Rudi (was ihn die französische Staatsbürgerschaft kosten sollte) und bildete im Juli 1939 mit Pierre Frank und Raymond Molinier [in Brüssel] eine Auslandsdelegation. Im August und September veröffentlichten sie eine Correspondance internationaliste, von der bis April 1940 zwanzig Ausgaben erschienen und die rasch nur noch illegal erscheinen konnte, weil sie von der belgischen Regierung verboten wurde. Darin veröffentlichten sie zwei Aufrufe; der erste bezog sich auf den deutsch-sowjetischen Pakt, der andere auf die Kriegserklärung; sie waren mit folgenden Namen gezeichnet: Jung (Prager), Cive (der Belgier Georges Vereeken), Remember (Raymond Molinier) und Morris (der Spanier Mauricio) – die alle bis an ihr Lebensende Trotzkisten bleiben sollten. Rudi war bis zum 19. Dezember 1939 regelmäßiger Mitarbeiter dieser Korrespondenz, dann wurde er verhaftet, er ging in eine Falle, als er anstelle von Molinier zu einem Treffen ging. Er wurde wegen falscher Identität zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und in die Haftanstalt von Mons verbracht; der deutsche Angriff auf Belgien verhalf ihm im Mai 1940 zur Freiheit. Kaum wieder in Brüssel angekommen, wurde er wieder gefasst, erneut ins Gefängnis gesteckt und aufgrund der belgischen Kapitulation erneut freigelassen.

Er kehrte dann nach Frankreich zurück und sorgte für die erneute Zusammen­fassung der Mitglieder der ehemaligen PCI; mit Foirier und Grinblat bildete er die Leitung einer Gruppe, die sich erst „La Seule Voie“ (Der einzige Weg), dann „Comités communistes internationalistes“ nannte.

Diese CCI sind vor kurzem Gegen­stand von (mehr oder minder feindseligen) Angriffen in Büchern und Presse¬artikeln geworden, und zwar wegen ihrer Handlungen – bzw. ihres Nichthandelns – während des Kriegs. Alles wird auf eine (in der Tat abwegige) Linie reduziert, die von Henri Molinier [1] entwickelt wurde, die aber weniger lang galt als der deutsch-sowjetische Pakt. Henri Molinier war sicherlich ein Mitglied vom reinen bolschewistischen Typus und insofern ein Aktivist, der nicht viel Federlesens machte, was die Mittel angeht, aber absolut kein Theoretiker. Als einziger „Alter“ in der kleinen Gruppe „La Seule Voie“ entwickelte er die defätistische Vorstellung, der zufolge Stalins Bündnis mit Hitler mit einem Hitlerschen Sieg über ganz Europa eine lange Periode des Rückgangs bzw. ein wirtschaftliches System einleiten werde, das irgendwo zwischen dem Kapitalismus und dem stalinistischen Kasernen­sozialismus angesiedelt sei, und es könne sich, wie es in Deutschland und in Österreich der Fall gewesen sei, aufgrund des sozialen Anscheins des Nazismus ein „linker“ Flügel entwickeln. War Marcel Déat [1894–1955, galt als Theoretiker einer systematischen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich], der Gründer des „Rassemblement national populaire“ (RNP – Nationale Völkische Sammlung), nicht ein ehemaliger führender Sozialist, der sich [1933] als Linker von der SFIO entfernt hatte? Von der Feststellung ausgehend, dass eine Reihe von Sozialisten sowie die „abondancistes“ der Gruppierung von Jacques Duboin [2] in das RNP Zuflucht suchten, schlug Henri Molinier einen „Entrismus“ in diese Partei vor. Er trat in sie ein und zog kaum jemanden mit außer Maurice Déglise, der sich dort festsetzte, und für ganz kurze Zeit Roger Foirier. Sonst niemanden. Und vor allem nicht Rudi, den Hauptverantwortlichen für die Kurskorrektur, die zur Folge hatte, dass Henri Molinier im Januar 1941 aus der Leitung der CCI entfernt wurde.

Im Gegensatz zu dieser gefährlichen Abdrift war der Kurs des CCI unter der Leitung von Prager und Grinblat ganz auf die Perspektive der Transformation des inter­imperialistischen Kriegs in eine proletarische Revolution und im wesentlichen auf die Verankerung in den Fabriken orientiert; vor allem in unserer zukünftigen proletarischen Bastion, den Vororten Puteaux und Suresnes [industriell geprägten Gemeinden westlich von Paris], wo die Flugblätter von „La Seule Voie“ in den Wohnhäusern verbreitet wurden. Die CCI hatte in der Vorkriegszeit in dem „Centre laïque“ der Jugendherbergen gearbeitet. Daran konnte jetzt angeknüpft werden und es wurden – ähnlich wie bei der (anderen trotzkistischen Organisation) POI –neue Mitglieder gewonnen, in kleinerer Zahl, aber mit großen Qualitäten, Simonne Minguet [3] ist hierfür ein Beispiel.

Anfang 1943 nahm Rudi zu Marcel Gibelin, dem führenden Kopf der POI-Linken, Kontakt auf. Sie führten zu nichts, doch die Kontakte, die ein wenig später zwischen den beiden Leitungen und dem Repräsentanten des Europäischen Sekretariats der IV. Internationale, Michel Raptis (Pablo) aufgenommen wurden, sollten zu der Vereinigung führen. Im September 1943 wurde Rudi in das Europäische Sekretariat aufgenommen. Und im Februar 1944 fusionierten CCI, POI und die „Groupe Octobre“ (die ein Jahr vorher von Henri Molinier mit ehemaligen Mitgliedern der Bewegung der „abondancistes“ gegründet worden war) zur „Parti communiste internationaliste“ (PCI). Rudi war Mitglied des Politischen Büros der PCI. Seine Aktivitäten bestanden alsbald in der Mitarbeit in der Redaktion von La Vérité (deren legales Erscheinen die PCF [von 1944] bis Anfang 1946 verhinderte, bis wir sie nach Auseinander¬setzungen mit stalinistischen Kommandos auf der Strasse durchsetzten) und in der antikolonialistischen Arbeit (vor allem in der Unterstützung der vietnamesischen trotzkistischen Gruppe in Frankreich); diese Schwerpunkte behielt er dauerhaft bei, sie entsprachen seinen Vorlieben.

Aber im Mai 1945 holte ihn seine Vergangenheit als Deserteur ein; er wurde verhaftet und zwei Monate im Gefängnis Sante festgehalten. Er wartete das Urteil nicht ab, durch das ihm 1951 die französische Staatsbürgerschaft wieder entzogen wurde, und ging erneut in die Illegalität, dann suchte er, sich in Israel einbürgern zu lassen, wo er von März 1950 von Dezember 1952 lebte. Obwohl seine Lebensgefährtin Louisette ihm folgte (sie heirateten) und dort ihr erstes Kind geboren wurde, betrachtete er diesen Zeitabschnitt als den moralisch gesehen härtesten in seinem Leben.

      
Mehr dazu
Michael Löwy: Armenak Manoukian (1898–1944). Ein Trotzkist im Pariser Pantheon, die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024) (nur online).
Rodolphe Prager: Die Trotzkisten in Buchenwald, Inprekorr Nr. 284 (Mai 1995).
 

Dies ließ ihn jedoch nicht verbittern oder zerbrechen, obschon das, was ihn bei der Rückkehr nach Frankreich erwartete, nicht erhebend war: ein Kampf für seine Freilassung, was er 1953 erreichte, und für die Annullierung des Entzugs der Staatsbürgerschaft, was er erst 1955 erreichen konnte; und zum anderen eine Internationale, die in Scherben lag. Er schloss sich wieder seinem treuen Freund Pierre Frank und der winzigen Gruppe an, zu der die PCI geworden war. Umgehend wurde er Mitglied ihres Politischen Büros. Nach dem Ausbruch der algerischen Revolution [im November 1954] zögerte er nicht, Aufgaben im Einklang mit seinem Mut zu übernehmen: nicht nur seine Artikel (gezeichnet als Robert Leblond) in La Vérité des travailleurs, die Anklagen vor Gericht zur Folge hatten, sondern auch direkte Hilfe für die algerische FLN (Nationale Befreiungsfront); diese Tätigkeit setzte er ab 1959 in Tunesien unter dem Deck¬mantel einer Beschäftigung bei dem Tourismusamt fort. Er blieb bis 1963 dort, nach der Rückkehr nahm er seinen Platz im Politischen Büro wieder ein, bald war er auch Mitglied der Kontrollkommission der IV. Internationale sowie des nationalen Büros des französischen „Comité Vietnam“. Gleichzeitig trat er in die PSU (Parti socialiste unifié–Vereinigte Sozialistische Partei) ein, 1966 wurde er Mitglied von deren Nationalen Politischen Komitee; 1969 wurde er ausgeschlossen, weil er bei der Präsidentschaftswahl, zu der Alain Krivine antrat, die Kandidatur von Michel Rocard ablehnte.

Dazwischen war 1968. Die Älteren von der PCI übergaben den Stab der jungen trotzkistischen Generation, die aus der „Jeunesse communiste révolutionnaire“ (JCR) kam. Auf dem Gründungskongress der „Ligue communiste“ vom April 1969, wie die erneuerte französische Sektion der IV. Internationale sich nun nannte, schied Rudi aus der Leitung aus.

Es begann der letzte Abschnitt seines Lebens, es war nicht der unwichtigste: Trotz des schmerzlichen Handicaps einer sich stets verschlimmernden Diabetes, wurde er zum sorgfältigen Historiker der trotzkistischen Bewegung. Er verfasste zahlreiche Artikel, vor allem für das Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier français, (Biogra¬phisches Wörterbuch der französischen Arbeiter­bewegung), den sogenannten „Maitron“, Vorworte zu Büchern, und schließlich wurde er zum Haupt­verant¬wortlichen für vier Bände mit Dokumenten der Kongresse der IV. Internationale [4]; nur dadurch, dass die Erkrankung schlimmer wurde, ging das Projekt nicht mehr weiter.

In den letzten drei Lebensjahren wurde die Krankheit immer ernster. Bei unserem letzten Telefongespräch konnte er schon weder lesen noch schreiben (bezeichnenderweise ging es darum, ihn nach Einzelheiten zu einem jener im Schatten gebliebenen politisch Aktiven zu fragen, an den er sich zweifellos als letzter erinnert hat: einer, der sein Leben riskiert hatte und bei einer Expedition zur Befreiung eines unserer Kriegsgefangenen in Deutschland nicht ohne schwere Schäden davongekommen ist). Dann war auch das Gehirn betroffen. Aber in seinen hellen Momenten zeigte er noch lebhafte Freude über die Zuwendung der ihm Nahestehenden, und mit der Hinnahme seines Endes gewann er die Sympathie derjenigen. die für ihn sorgten. Schließlich kamen das Koma und der Tod.

Mit ihm verlieren wir nicht nur einen der größten unter uns, nicht nur für diejenigen, die ihn gekannt haben, einen Freund, sondern auch eine wahrhaftige Erinnerung, zu einem Zeitpunkt, wo unsere Feinde mit Schaum vor dem Maul unsere Geschichte verfälschen und beschmutzen. Genügend Gründe, sein Beispiel im Gedächtnis zu behalten.

Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 369 (Juli 2002). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Henri Molinier (1898–1944) ist der ältere Bruder von Raymond (1904–1994) – Anm. d. Web-Red.

[2] J. Duboin (1879–1976) gründete 1934 die Liga für das Recht auf Arbeit sozialen Fortschritt, die sich später „Mouvement français pour l'abondance“(Französische Bewegung für Überfluss) nannte.

[3] Von ihr liegen Erinnerungen vor, in denen sie vor allem über ihre politische und gewerkschaftliche Aktivität in den verstaatlichten Flugzeug¬werken in den Jahren unmittelbar nach der Befreiung berichtet: Mes années Caudron. Caudron-Renault. Une usine autogérée à la Libération (1944–1948), mit einem Vorwort von Rodolphe Prager, Paris: Editions Syllepse, 1997.

[4] Les congrès de la IVe Internationale. Manifestes, thèses. résolutions, hrsg. von Rodolphe Prager, Paris bzw. Montreuil: Editions La Brèche-PEC, 1978–1989.