Nachruf

Inge Segall (1924-1996)

Rudi Segall

Inge Segall starb am 10. Januar 1996 in Frankfurt/M. Sie wurde in Coburg am 24. August 1924 geboren. Ihre Eltern stammten aus kleinbürgerlichem Milieu; der Vater war in den 20er Jahren lange arbeitslos, die Mutter ernährte die Familie mehr schlecht als recht mit einem kleinen Laden. Unter Hitler erhielt der Vater einen Job in der Bewegung. Die Mutter, die entscheidenden Einfluß auf Inge hatte, brachte ihr die Bücher nahe – sie wurde eine unermüdliche Leserin: Nach Pflichtjahr, Kriegshilfsdienst und Arbeitsdienst begann sie Anfang 1944 – wie ihre 1940 verstorbene Mutter es erträumt hatte – eine Ausbildung als Lehrerin und hat bis 1948 in einer Schule in Bayreuth, wohin die Familie 1936 übergesiedelt war, Unterricht gegeben.

Nur wenige haben in Deutschland die Zeit von 1933 bis 1945 als Trotzkisten überlebt, wenige auch sind aus der Emigration wieder zurück in unsere Bewegung gekommen. Inge traf bereits 1945 auf einen von ihnen – Georg Jungclas, der unter abenteuerlichen Bedingungen überlebt hatte und in Bayreuth blieb. So wurde Inge vermutlich die erste „eingeborene“ Anhängerin der Vierten Internationale im Nachkriegs-Deutschland. Aus einem eher unpolitischen Milieu stammend und ohne Kontakt zur Arbeiterbewegung stieß sie zur revolutionären Organisation und setzte sich mit ganzer Kraft für sie ein.

Wer heute das erste Organ der Vierten Internationale in Deutschland Unser Weg in die Hand nimmt – die erste Nummer erschien im Juli 1947 – hält die Arbeit von Inge in den Händen. 28 Nummern sind im Zeitraum von drei Jahren (bis Juli 1950) erschienen – eng beschrieben, hektographiert und geheftet. Nachdem 1962 der Druck der Internationale in Österreich eingestellt wurde, hat Inge hier weiter daran gearbeitet.

Aber sie beschränkte sich nicht auf die Schreibarbeit für die Organe der Vierten. Inge war Zeit ihres Lebens die große Gastgeberin der Bewegung. Ihre Wohnungen in Bayreuth und Aschaffenburg waren nicht nur Mittelpunkt der Organisation (hier trafen Wolf Salus und andere alte und neue Genossen ein), sondern auch der Platz, wo es Übernachtung, Essen und Diskussion in jeder Menge gab. Als wir beide 1950 in Frankfurt heirateten, sah es bei uns nicht anders aus: Vor einem Weltkongreß übernachteten fünf Genossen in unserem Doppelbett – Inge bewirtete sie alle – eine Tradition, die sich auch in Dreieichenhain (1961-1966) und dann wieder in Frankfurt fortsetzte und noch in der Arbeit an der Trotzki-Ausgabe in Frankfurt bis 1994 gehütet wurde.

Inländische und ausländische Genossen trafen sich bei Inge: Mehrfach hatten wir Besuch von Ernest, von Livio, von Pierre Frank; auch Louis Sinclair und Rodolphe Prager besuchten uns zwei Wochen lang – erst kürzlich kamen Genossen zu Stippvisiten aus den USA und Rußland.

Inge war bei jeder Demonstration der 50er und 60er Jahre dabei: Ob es gegen den Atomtod oder zum Ostermarsch ging, ob das Ziel Bonn hieß, ob es, viel später, für die PDS und gegen Ausländerhaß ging, ihr Einsatz stand außer Zweifel. Auch die Tagungen um die Vereinigung mit der KPD waren ein Feld für sie, um mit den neuen Partnern zu diskutieren und einander kennenzulernen. Viele werden sich an sie erinnern.

Aber ihre Ausstrahlung ging weit über die Bewegung hinaus. An ihrem Arbeitsplatz in der Deutschen Bundesbank (1952 bis 1978) war sie bald Vertrauensfrau ihrer Gewerkschaft (ÖTV), wurde in den Personalrat gewählt und in ihren letzten vier Jahren dafür (1974-1978) freigestellt. Mit Klugheit, Charme und Energie setzte sie sich für ihre Kolleginnen ein – und noch zehn Jahre nach ihrem Ausscheiden aus der Bank wurden wir unterwegs rund um die Bundesbank von Kollegen und besonders Kolleginnen, für die sie sich im Laufe der Jahre erfolgreich eingesetzt hatte, immer wieder angesprochen. Und dann dieser Kampf im Personalrat, in dem sie lange Zeit einzige Frau gewesen war... Ihr bedingungsloses Eintreten für die Frauen fand auch in ihrer langjährigen Mitarbeit bei der Sexualberatung der Pro Familia ihren Ausdruck.

Nie konnte Inge ruhig zusehen, wenn sie auf Rassismus oder Ungerechtigkeit stieß. Immer wieder hatte sie Diskussionen und Zusammenstöße in den öffentlichen Verkehrsmitteln und auf den Frankfurter Straßen. Wie sie gegen das Zusammenschlagen eines von Polizisten festgenommenen kleinen Dealers intervenierte, wie sie eine Schulklasse in der Tram wegen Italiener-feindlichen Äußerungen zurechtwies, und vieles mehr – meist stand sie dabei ganz allein, elegant und unerschütterlich. Wie ihre ÖTV-Kolleginnen schrieben: „Wir haben eine bewundernswerte, engagierte und kluge Frau verloren.“

Ihr ganzes Leben hindurch kehrte sie zu ihrer alten Leidenschaft zurück: dem Buch. In der Schönen Literatur der Gegenwart war sie zuhause, und sie bemühte sich, jedes bemerkenswertes Buch kennenzulernen. Viele Autoren waren ihr lieb, besonders aber Uwe Johnson. Sie litt unter der politischen Entwicklung in der Welt, fast resignierte sie am Ende. Sie schrieb wunderbare Briefe und für sich selber ein kleines Tagebuch.

Rudolf Segall, 13.1.1996



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 292 (Februar 1996).