Ernest Mandel

Brücke zum Sozialismus

Die Grundidee des Übergangsprogramms: Aufgabe der Übergangsforderungen ist es, eine Brücke zu bauen, über die sich die Arbeiter durch ihre eigene Erfahrung vom Kampf für ihre unmittelbaren Anliegen weiterbewegen zum Kampf, das Schicksal der Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen, z.B. zum Kampf für die Arbeitermacht. Wir würden die folgenden Übergangsforderungen als Ergänzungen - nicht Ersetzungen - zu denen im Übergangsprogramm von 1938 vorschlagen:

Ernest Mandel

1. Verringerung der durchschnittlichen Arbeitswoche auf 30 Stunden (oder 28 Stunden: vier Tage zu je 7 Stunden) ohne Verringerung des Wochenlohns in allen Industrie- und „Schwellenländern“. Allgemeines Verbot von Überstunden.

Obligatorische Einstellungen, um zu sichern, daß diese Maßnahmen die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern beseitigen.

Arbeiterkontrolle in den Betrieben, um die volle Umsetzung dieser Maßnahmen zu garantieren.

2. Keine Verschärfung des Arbeitstempos. Arbeiterkontrolle (z.B. Vetorecht) auf Betriebsebene über Arbeitsrhythmus und -organisation.

Internationale Beratung und Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und klassenkämpferischen Gewerkschaftern, um den Versuchen multinationaler Konzerne entgegenzutreten, Betriebe entsprechend der Lohndifferenzen zu verschieben.

Statt ständiger Lohnkürzungen in „Hochlohnländern“ progressive Lohnerhöhungen in „Niedriglohnländern“.

4. Statt des „auf Export orientierten“ Musters ökonomischer Entwicklung in „Niedriglohnländern“ ein Muster ökonomischer Entwicklung, das auf die Ausweitung des inneren Markts zielt, indem der Befriedigung unerfüllter Grundbedürfnisse der Menschen Priorität gegeben wird.

5. Statt der internationalen Arbeitsteilung, die dazu tendiert, Ausstoß und Entwicklung moderner Technologie in den imperialistischen Ländern zu monopolisieren, systematischer Transfer solcher Technologie in die relativ weniger entwickelten Länder zu niedrigen Kosten.

6. Verteidigung der Sozialleistungen. Keine Kürzung der Sozialausgaben für Gesundheit, Bildung usw.

7. Streichung aller Schulden und Schuldendienste der weniger entwickelten Länder. Radikale Verringerung der internen Verschuldung aller Länder außer für Kleinaktionäre bis zu einer gewissen Grenze und Nutzung der so freigesetzten Mittel, um die unerfüllten Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen.

8. Radikale Land- und Stadtreform in den Ländern der Dritten Welt.

9. Völliges Verbot der Produktion atomarer, biologischer und chemischer Waffen. Zerstörung der bestehenden Vorräte dieser Waffen unter Kontrolle der Bevölkerung.

10. Sofortiges Verbot des Baus neuer Atomkraftwerke. Schrittweise Schließung bestehender Atomkraftwerke ohne Verringerung der gesamtverfügbaren Energie durch gleichzeitige Entwicklung ökologisch „sauberer“ Energiequellen.

11. Verbindliche Volksabstimmungen vor dem Einsatz bewaffneter Kräfte außerhalb der nationalen Grenzen. „Laßt die Menschen entscheiden über den Krieg!“

12. Verbot der Privatisierung von Großbetrieben in den früheren „sozialistischen“ Ländern. Vetorecht der Beschäftigten aller Betriebe dort über die genaue Eigentumsform der Betriebe.

13. Wiederherstellung aller sozialen Vorteile der Menschen in den früheren „sozialistischen“ Ländern bei kostenlosen Gesundheits-, Bildungs- und Kulturdienste, die vor dem Wandel des Regimes existierten.

14. Volle politische Freiheit für die Menschen aller Länder, einschließlich der früheren „sozialistischen“ Länder: Freiheit der Vereinigung und der friedlichen Demonstration, Freiheit der Presse, das Recht auf Streik und zur Bildung von Streikpostenketten, Verbot der Entlassung von Gewerkschaftsvertretern und -aktivisten.

15. Freie Wahl parlamentarischer Körperschaften mit einem Mehrparteiensystem. Gleicher Zugang aller Parteien über einer gewissen Schwelle zu den Massenmedien. Verbot der privaten Finanzierung von politischen Parteien und Wahlkampagnen in allen Ländern.

16. Gesetzliche Einführung von Volksabstimmungen auf Initiative der Bevölkerung in allen Ländern. Verbot von Volksabstimmungen, die von Staaten und Regierungen ausgehen.

17. Verteidigung des Rechts der Frauen zur Entscheidung über Abtreibung. Freie Verteilung von Verhütungsmitteln.

18. Freie Kinderbetreuung, ständig verfügbar für alle Beschäftigten in allen Betrieben.

19. Voll bezahlter Schwangerschafts- und Mutterschaftsurlaub für mindestens vier Monate.

20. Gewählte Frauenkomitees in allen Betrieben und Institutionen mit Vetorecht bei allen Entscheidungen, welche die Bedingungen der Frauen betreffen.

21. Festgeschriebenes Recht der Frauen, Halbzeitarbeit ohne Verringerung des Wocheneinkommens zu wählen, wenn es von wenigstens 20 Prozent der Frauen gefordert wird.

22. Europäische verfassungsgebende Versammlung gewählt durch allgemeines Wahlrecht, um die europäischen Institutionen radikal zu durchforsten.

23. Lateinamerikanische verfassungsgebende Versammlung gewählt durch allgemeines Wahlrecht, um eine lateinamerikanische Föderation zu schaffen.

24. Schaffung einer ähnlichen Körperschaft für die arabischen Länder.

25. Schaffung einer ähnlichen Körperschaft für die südasiatischen Länder.

26. Schaffung einer ähnlichen Körperschaft für die afrikanischen Länder.

27. Verbot des Privatbesitzes von Fernseh- und Radiostationen sowie Tages- und Wochenzeitungen über einer gewissen Auflage. Zugang aller Arbeiterorganisationen und aller Bürger zu Medien im öffentlichen Besitz. Keine Regierungszensur der Massenmedien.

28. Rechtsverfahren generell vor Geschworenengerichten. Wahl der Richter durch allgemeines Stimmrecht. Freier Zugang zu Rechtsanwälten für alle.

29. Unterdrückung geheimer Sicherheitsdienste von Staat und Regierung. Öffnung aller Akten für die betroffenen Menschen.

30. Recht auf Volksabstimmungen mit aufschiebender Wirkung in der Umgebung aller Projekte, die Gesundheits-, Sicherheits- und ökologische Bedenken auslösen.

      
Mehr dazu
Heinrich Neuhaus: Das Übergangsprogramm - ein bedeutendes Erbe, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021).
François Vercammen: Ein unerschütterlicher Optimist, Inprekorr Nr. 287 (September 1995).
Jakob Moneta: „Versucht zu beginnen, die Welt zu verändern!“, Inprekorr Nr. 287 (September 1995).
Politisches Sekretariat des RSB: Ernest Mandel (1923-1995), Inprekorr Nr. 287 (September 1995).
Ernest Mandel: „Die Botschaft ist: sich politisch einzusetzen“, Inprekorr Nr. 287 (September 1995).
Livio Maitan: Ansprache zum Gedenken an Ernest Mandel, Inprekorr Nr. 289 (November 1995).
 

31. Unbegrenztes Recht zu reisen für alle unabhängig von Rasse, Nationalität und Religion. Volle politische Rechte für alle Einwanderer in allen Ländern nach zwei Jahren Aufenthalt und Übernahme (mit Recht zur Auswahl) angebotener Jobs.

32. Verbot von Automobilen mit Verbrennungsmotoren in den Innenstädten.

33. Weltkonferenz für Notmaßnahmen zur Wiederherstellung der Ozonschicht, zur Bekämpfung der Vergiftung der Ozeane, zum Stopp der Zerstörung der Wälder und zur Verteidigung der Umwelt der Menschen gegen jegliche Gefahr, die in die Verantwortung von mehr als nur einem Land fällt.

34. Ersetzung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank durch Körperschaften, welche die Völker (nicht die Regierungen) der fünf Kontinente proportional vertreten.

35. Sammlung eines weltweiten Solidaritätsfonds zur Beschleunigung der Entwicklung armer Länder.

36. Senkung des Rechts zu wählen und gewählt zu werden auf 16 Jahre.

Dieser Beitrag ist ein Auszug eines längeren Redemanuskripts für eine Veranstaltung in New York am 11.11.1994, in der Ernest Mandel sich mit „trotzkistischem“ Sektierertum auseinandersetzte. Eine deutsche Übersetzung wird in Kürze erscheinen.
Quelle: Bulletin in Defense of Marxism, Mai/Juni 1995.
Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 287 (September 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz