Dossier Gaza-Krieg

Zusammenstehen gegen Krieg und Rassismus

Trotz des immensen Drucks durch die Regierung und weite Teile der israelischen Gesellschaft kommt es in Israel immer wieder zu Mobilisierungen gegen den Gazakrieg und die Apartheid gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Das Interview mit Uri Weltmann wurde am 24. Dezember 2023 von Federico Fuentes für das australische Magazin LINKS International Journal of Socialist Renewal geführt.

Interview mit Uri Weltmann

 Wie wird Israels Krieg gegen den Gazastreifen nach mehr als zwei Monaten Krieg und steigenden Opferzahlen von der israelischen Gesellschaft wahrgenommen? Und wie haben die Israelis auf das Vorgehen von Premierminister Benjamin Netanjahu seit dem 7. Oktober reagiert?

Der 7. Oktober war ein schrecklicher Moment für die israelische Gesellschaft. Der brutale Angriff der Hamas auf Städte und Dörfer – bei dem Zivilisten, darunter Kinder und ältere Menschen, in ihren Häusern ermordet und 240 Israelis als Geiseln genommen wurden – hat unsere Gesellschaft schockiert und in Trauer und Wut versetzt. Daher hat der Krieg in der israelischen Öffentlichkeit breite Unterstützung gefunden und Netanjahus Behauptung, dass es dabei darum gehe, „die Hamas-Herrschaft zu stürzen“, wurde von den meisten Kommentatoren und Politikern nicht in Frage gestellt.

 

Infostand von „Standing Together

Foto: Hanay

Mehr als zwei Monate nach Beginn des Krieges wächst jedoch die Unzufriedenheit mit Netanjahus Politik. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Israelischen Instituts für Demokratie zeigt, dass zwei Drittel der Israelis glauben, die Regierung habe keinen klaren Plan für den Tag nach dem Krieg. Eine große Mehrheit ist auch der Meinung, dass nach dem Krieg vorgezogene Wahlen abgehalten werden sollten. Meinungsumfragen gehen davon aus, dass die regierende Likud-Partei bei einer solchen Wahl ein Drittel ihrer Sitze verlieren würde und dass die Parteien in Netanjahus rechtsextremer Koalition ihre Mehrheit in der Knesset verlieren würden.

Diese Unzufriedenheit äußert sich vor allem auf der Straße in Form einer wachsenden Protestbewegung, die von den Familien und Freunden der in Gaza gefangen gehaltenen israelischen Geiseln angeführt wird. Sie fordern Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen, das den Geiseln die Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen würde. Etwa 130 Geiseln befinden sich noch im Gazastreifen, darunter ältere Bürger, die medizinische Hilfe benötigen, und sogar Kinder, darunter ein 11 Monate altes Baby.

Die Proteste dieser Familien werden von breiten Schichten der israelischen Gesellschaft unterstützt, obwohl sie die Regierung scharf kritisieren. Im ganzen Land sind deswegen Zehntausende auf die Straße gegangen und haben maßgeblich dafür gesorgt, dass die Regierung in das Waffenstillstandsabkommen im November einwilligen musste und weiterhin unter Druck gesetzt wird, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.

Dabei spielt sicher eine Rolle, dass es in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023, also im Vorfeld des Krieges, in Israel eine Massenprotestbewegung gegen die von Netanjahu geplante Justizreform gab, die es seiner Regierung ermöglicht hätte, durch die Ernennung von Richtern und die Beschneidung demokratischer Freiheiten mehr Macht in ihren Händen zu konzentrieren. Auch wenn diese Proteste nach dem 7. Oktober so nicht mehr weitergeführt wurden, haben sie doch für eine allgemeine Ablehnung gegenüber der Regierung Netanjahu gesorgt.

 Standing Together hat in ganz Israel jüdisch-arabische Solidaritätskundgebungen organisiert. Außerdem hat Standing Together die „jüdisch-arabischen Solidaritätswachen“ ins Leben gerufen, die in Konfliktfällen deeskalieren sollen. Was gibt es über diese Initiativen und die Resonanz darauf zu erzählen?

An jeder unserer jüdisch-arabischen Solidaritätskundgebungen in Städten in ganz Israel haben Hunderte von Menschen teilgenommen, trotz der Versuche von Rechtsextremisten, Druck auf die Vermieter der von uns gemieteten Veranstaltungssäle auszuüben, damit sie ihre Zusage zurückziehen. Auf diesen Kundgebungen sprachen jüdische und arabische Vertreter von Standing Together, die sich für den israelisch-palästinensischen Frieden, die Beendigung der Besatzung und der rassistischen Hexenjagd gegen palästinensische Bürger Israels, die öffentlich gegen die Ungerechtigkeiten des Krieges auftreten, einsetzten.

Unser öffentlich vorgetragenes Anliegen ist die volle Gleichberechtigung – als Personen und Nation – für die palästinensischen Bürger*innen Israels sowie der Widerstand gegen den schrecklichen menschlichen Tribut, den der Krieg gegen Gaza unter den unschuldigen Zivilist*innen fordert. Wir tun dies nicht von außen, sondern mitten aus der Gesellschaft heraus, mit tiefem Mitgefühl für unsere Freunde, Verwandten, Mitarbeiter und Partner, die am 7. Oktober bei dem ungerechtfertigten und unvertretbaren Terrorangriff der Hamas auf Zivilisten ihre Angehörigen verloren haben.

Die bisher größte Kundgebung fand in Haifa statt, wo 700 Menschen teilnahmen. Rechtsradikale übten Druck aus, um uns daran zu hindern, unsere Kundgebung in einer Veranstaltungshalle abzuhalten, also gingen wir in die Moschee im Stadtteil Kababir in Haifa. Für mich persönlich war es das erste Mal, dass ich eine politische Veranstaltung in einer Moschee organisierte. Dennoch kamen Hunderte von jüdischen und arabisch-palästinensischen Einwohnern von Haifa! […]

Standing Together hat außerdem im ganzen Land lokale Gruppen gegründet, die sich Jüdisch-Arabische Solidaritätsnetzwerke oder Jüdisch-Arabische Solidaritätswachen nennen, um gewappnet zu sein, da die politische Führung des israelischen Staates die jüdischen gegen die palästinensischen Bürger*innen aufwiegelt. Itamar Ben-Gvir – der radikalste unter den nationalistischen Hardlinern, der jemals an einer israelischen Regierung beteiligt war – gibt offen zu, ein Szenario wie im Mai 2021 entfachen zu wollen. Er hat Waffen verteilt und dazu aufgefordert, lokale Milizen in großen gemischten Städten wie Yafa, Haifa, Akko und Lyd zu bilden. Dies ist eine sehr gefährliche Entwicklung.

Anstatt die Hände in den Schoß zu legen und der Rechten die Initiative zu überlassen, diese gefährliche Entwicklung voranzutreiben, haben wir von Standing Together zusammen mit anderen Partnern vor Ort gearbeitet und diese Solidaritätsnetzwerke aufgebaut, um jüdische und arabische Einwohner aus verschiedenen Vierteln derselben Stadt oder benachbarter Städte zusammenzubringen, um Solidarität und gegenseitige Hilfe zu leisten und Gleichheit und Antirassismus im öffentlichen Raum zu fördern.

Die Solidaritätswache hat auch eine Hotline eingerichtet, die von Freiwilligen betrieben wird und bei der Menschen um Hilfe bitten können. Wir bekämpfen Rassismus und Diskriminierung und unterstützen arabische Bürger, die an ihrem Arbeitsplatz oder in höheren Bildungsstätten diskriminiert oder schikaniert werden. Wir haben auch rassistische und Gewalt verherrlichende Aufrufe aus dem öffentlichen Raum entfernt und andere aufgestellt, die zu Frieden und Solidarität aufrufen.

Einige unserer Gruppen waren mit staatlichen Repressionen konfrontiert. Aktivisten von Standing Together in Westjerusalem, sowohl Juden als auch Palästinenser, wurden von der Polizei verhaftet, weil sie Plakate aufgehängt hatten, auf denen stand: „Juden und Araber, wir werden das gemeinsam durchstehen“. Dies zeigt das momentane Ausmaß der Volksverhetzung in Israel.

 Die Ereignisse der letzten Wochen haben viele zu dem Schluss veranlasst, dass die Option einer Zwei-Staaten-Lösung vom Tisch ist. Wie sieht Standing Together das Thema Ein-Staaten- vs. Zwei-Staaten-Lösung und wie wirkt sich dieser Krieg darauf aus?

Alle Diskussionen über die Zukunft dieses Landes müssen auf einer ganz grundlegenden Prämisse aufbauen: Es gibt Millionen jüdischer Israelis in diesem Land, und keiner von ihnen wird fortziehen, ebenso wenig wie die Millionen arabischer Palästinenser in diesem Land. Diese Prämisse sollte der Eckpfeiler jeder ernsthaften Diskussion darüber sein, wie der jahrzehntelange gewaltsame nationale Konflikt beendet werden kann.

Dies ist nicht die Auffassung des israelischen politischen Establishments, das in den letzten zwanzig Jahren das Konzept der „Konfliktbewältigung“ vertreten hat. Dieses Paradigma, das jedoch am 7. Oktober völlig gescheitert ist, besagt, dass die Lösung der palästinensischen Frage nicht dringlich ist und dass Israel weiterhin seine Militärherrschaft über Millionen von Palästinensern im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen aufrechterhalten kann, die keine Staatsbürgerschaft haben und denen grundlegende Menschenrechte verweigert werden.

Das israelische politische Establishment ist der Ansicht, dass gelegentliche Gewaltausbrüche zwar bedauerlich sind, aber nur lokal und ephemer auftreten werden und dazwischen Jahre der „Normalität“ liegen. Dies ist nicht nur Netanjahus Meinung, sondern auch die seiner politischen Gegner innerhalb des Establishments, wie z. B. Naftali Bennet, der, bevor er Premierminister wurde, sagte, der israelisch-palästinensische Konflikt könne nicht gelöst werden, sondern müsse ertragen werden, wie ein „Schrapnell im Hintern“.

      
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Der 7. Oktober hat gezeigt, dass – wie gesagt – dieses Konzept der „Konfliktbewältigung“ gescheitert ist. Jeder Gedanke an eine ewige Militärherrschaft über die Millionen von Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten ist zum Scheitern verurteilt und führt zu weiterer Gewalt und untergräbt zudem die Sicherheit sowohl der Palästinenser als auch der Israelis.

Das palästinensische Volk wird nicht bereit sein, auf sein Recht auf nationale Selbstbestimmung in einem eigenen Staat zu verzichten. Unter den gegebenen Kräfteverhältnissen besteht daher die Wahl zwischen der Zwangsumsiedlung von Millionen Palästinensern, die damit erneut zu Flüchtlingen werden (eine Option, die von einigen im israelischen Establishment nicht ausgeschlossen wird), der physischen Vernichtung eines ganzen Volkes (wovon einige ultranationalistische Politiker offen sprechen) oder der Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Souveränität und Unabhängigkeit.

Diese letzte Option ist eine Schreckensvision für die israelische Rechte. Die von Bezalel Smotrich geführte Partei des religiösen Zionismus ließ kürzlich ein riesiges Plakat an der Ayalon-Autobahn im Zentrum von Tel Aviv aufstellen mit der Aufschrift „Die Palästinensische Autonomiebehörde = Hamas“.

Sie wissen, dass nach dem 7. Oktober immer mehr Stimmen laut werden, die vertreten, dass eine Rückkehr zum Status quo ante bellum unmöglich ist und dass die Verhandlungen mit der PLO im Hinblick auf eine diplomatische Lösung wieder angedacht werden müssen, vor allem, wenn die Mitte-Links-Parteien eine Mehrheit in der Knesset erreichen, wie es die Meinungsumfragen nahelegen.

Standing Together setzt sich für das Recht beider Völker in unserem Land ein, in Frieden, Sicherheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit zu leben, und unterstützt die Forderung nach einer Wiederaufnahme der Gespräche mit der PLO, um ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen zu erreichen. Sowohl die Hamas als auch der Likud leugnen das Recht des jeweils anderen Volkes auf ein Leben in Frieden und Sicherheit. Wir stellen uns dagegen und auf die Seite der Menschen in diesem Land, die eine sichere Zukunft verdienen.

Uri Weltmann ist nationaler Organisator von Standing Together.
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz