Nachruf

Ernesto Herrera (1949–2024)

Ernesto Herrera – mit bürgerlichem Namen Antonio Maria Nuñez Guglielmi – nahm als Pseudonym den Namen eines uruguayischen Schriftstellers an, der unter anderem von dem Bürgerkrieg berichtete, von dem Uruguay 1904/05 gebeutelt wurde.

Charles-André Udry

In den 1950er Jahren stürzte Uruguay in eine sozioökonomische Krise. In diesem Klima begann Ernesto als Metallarbeiter seine Tätigkeit als Gewerkschaftsdelegierter bei Benas SA, einer Fabrik, die Ventile für Gasflaschen herstellte. Im Vergleich zur Gewerkschaftsbewegung waren die politischen Kräfte der Linken schwach. Die politisch-institutionelle Ebene war von zwei Parteien besetzt: den Blancos – einer nationalen Partei, die mit den Großgrundbesitzern verbunden war – und den Colorados, einer Partei, die das städtische Bürgertum in Montevideo repräsentierte. Ernesto engagierte sich zunächst in der Kommunistischen Partei Uruguays. Mitte der 1960er Jahre fand ein Zusammenschluss der Gewerkschaftsbewegung statt, als die Convención Nacional de Trabajadores (CNT) entstand.


Kämpfe und Exil


 

Foto: A l’encontre

1973 trat Ernesto der PST (Partido Socialista de los Trabajadores, dt. Sozialistische Arbeiterpartei) bei, die sich als trotzkistisch verstand und den bewaffneten Kampf ablehnte. Vor der Fabrik, in der er arbeitete, verkaufte der PST-Aktivist Juan Luis Berterretche, der einer seiner engsten Kampfgefährten wurde, die Monatszeitung dieser Organisation.

Ab 1967 setzten sich Militarisierung und Belagerungszustand durch; die sozialen Kämpfe wurden intensiver; eine Stadtguerilla-Bewegung, die Tupamaros, verstärkte ihre Aktivitäten. Zu den beiden traditionellen Parteien kam die FA (Frente Amplio, dt. Breite Front) hinzu, ein breites Bündnis von Kräften der linken Mitte und der Linken. Die PST war 1971 an der Gründung beteiligt. Die herrschende Klasse stützte sich auf die Armee, um 1972 einen „internen Krieg“ gegen die Guerilla und die Volksklassen zu erklären und die noch verbliebenen historischen sozialen Errungenschaften zu zerstören. Es folgte der Staatsstreich vom Juni 1973. [1] Die Diktatur hielt sich bis 1985.

Von 1973 bis 1975 spielte Ernesto eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der organisatorischen Strukturen im Untergrund, bevor die Repression noch stärker wurde. Für die Mitglieder der PST bedeutete dies eine Kombination aus Untergrundarbeit mit Verhaftungen, Gefangenschaft und Unterstützung der Familien der Inhaftierten. Ernestos Lebensgefährtin Marita wurde in dem Frauengefängnis Punta Rieles zur Sprecherin des internen Widerstands gewählt.


Exil und Internationalisierung der Aktivitäten


1982 ging Ernesto mit anderen Mitgliedern der PST nach Brasilien ins Exil; dort knüpfte er enge Beziehungen zu den Aktivist:innen von Democracia Socialista, einer Strömung in der Arbeiterpartei (PT). 1983 kehrte Ernesto heimlich nach Uruguay zurück, um an der Mobilisierung gegen die Diktatur und der Reorganisierung der PST sowie an den politischen Debatten teilzunehmen. Die Frente Amplio entwickelte sich weiter, die Tupamaros (Movimiento de Liberación Nacional, Nationale Befreiungsbewegung, MLN) trat ihr 1989 bei. Ab dem gleichen Jahr wuchs sie bei Wahlen an, und es entstand ein Zusammenschluss von linken Kräften in der FA, der sich Movimiento de Participación Popular (MPP, Bewegung der Volksbeteiligung) nannte.

Ernesto war Mitglied der föderalen Leitung des MPP. Er erkannte schon damals, welche Kraftfelder die Gesellschaften und damit auch die Kräfte, die sich auf einen revolutionären Sozialismus beriefen, verändern würden.


Von der Gegengesellschaft zum Reformismus ohne Reformen


2005 eroberte die FA die Regierungs„macht“. In ihr setzte sich der Bestandteil durch, der von der MLN herkam, einige Beobachter:innen prägten die Formel „von den Waffen zu den Wahlurnen“. Ernesto Herrera zitierte aus einem Buch von Carlos Real de Azúa, um zu verdeutlichen, was die Frente Amplio ursprünglich darstellte, nämlich eine „echte Gegengesellschaft“, die von Basisversammlungen, sozialer Mobilisierung, politischer Radikalisierung und einer kollektiven Praxis des „Bruchs“ – nicht nur mit dem Zweiparteiensystem, sondern auch mit dem sozioökonomischen System in den Händen der Eigentümerklassen und der imperialistischen Organisationen – geprägt war. Ernesto betonte, dass es nicht einfach einen Übergang vom „bewaffneten Kampf“ zum „Weg der Wahlen“ gab, sondern einen Bruch mit dem historischen Programm der Frente, so dass man im Zuge der Regierungsbeteiligung bei einem „Reformismus ohne Reformen“ endete.

      
Mehr dazu
Ernesto Herrera: Von Strukturreformen zum „progressiven Projekt“, Inprekorr Nr. 5/2015 (September/Oktober 2015)
Ernesto Herrera: MLN Tupamaros . die ehemalige Guerilla an der Regierung, Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006)
Ernesto Herrera: Dilemma in der PT-Linken, Inprekorr Nr. 384/385 (November/Dezember 2003)
Ernesto Herrera: Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Revolutionäre, Inprekorr Nr. 370/371 (September 2002)
Ernesto Herrera: Die neoliberale Unordnung, Inprekorr Nr. 339/340 (Januar/Februar 2000)
 

Von 1985 bis 2003 übernahm Ernesto Herrera für die Vierte Internationale die Arbeit der „Koordinierung“ in Lateinamerika. Er tat dies auf der Grundlage seiner politischen Praxis, seines Verständnisses für die politischen Entwicklungen und für die Unterschiede zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in den verschiedenen Gesellschaftsformationen sowie seines aktiven Internationalismus, der unter anderem mit seinem politischen Exil verbunden war.

Das Jahr 2003 war davon geprägt, dass in Brasilien Lula an die Regierung kam; Mitglieder von Democracia Socialista beteiligten sich an dieser Regierung. Ernesto konnte nicht anders, als seine Ablehnung dieser Unterordnung von Leitungsmitgliedern der DS unter die Imperative von Lulas Regierungsmaschinerie zum Ausdruck zu bringen. Die Hoffnung, die Mitglieder des Führungskreises der Vierten Internationale in die von der Regierung Lula ausgelöste Dynamik setzten, ließ deren Meinung nach die Verantwortung, die Ernesto Herrera für die „Koordinierung“ hatte, nicht mehr angebracht erscheinen.

Er konnte allerdings seine politische Tätigkeit in Uruguay fortsetzen, politische Verbindungen in Südamerika aufrechterhalten und sich mit Genoss:innen aus verschiedenen europäischen Ländern austauschen. Dieses Netzwerk schuf die Voraussetzungen für den Start des Bulletins Correspondencia de Prensa und später der gleichnamigen Webseite. So wie Ernesto als langjähriger Aktivist viele Jahre lang eine Ressource für die Aktivitäten revolutionärer Sozialist:innen in Südamerika war, so verlängerten und erweiterten der Newsletter und die Webseite die Verfügbarkeit dieser Unterstützung.

Es gibt Nachrufe, die verstorbene politisch Aktive zu größeren Figuren machen, als sie zu Lebzeiten wahrgenommen wurden. Was Ernesto Herrera sicherlich nicht gewollt hätte, das wage ich aufgrund unserer 40-jährigen gemeinsamen politischen Aktivitäten und Freundschaft zu vermuten. Ich hoffe, dass ich dieser Art von Fallstrick entgangen bin. Die posthume Veröffentlichung eines Buches über die Geschichte der Tupamaros und das gegenwärtige sozio-politische Leben Uruguays und seiner Bewohner:innen wird dazu beitragen, aus einer reflektierten Vergangenheit ein Instrument für die Gegenwart zu machen.

26. Januar 2024
Übersetzung aus dem Französischen: Wilfried
Eine längere Fassung dieses Artikels erschien auf der Schweizer Webseite „à l’encontre“. Die hier wiedergegebene gekürzte Fassung ist in Inprecor, Nr. 717, Februar 2024, abgedruckt worden.
Charles-André Udry (Jg. 1946) ist Wirtschaftswissenschaftler und betreibt die Online-Publikation à l’encontre und den Verlag Page Deux (Lausanne). Er war 1969 Mitbegründer der Schweizer Sektion der Vierten Internationale (RML/LMR, ab 1980 SAP/POS) und viele Jahre lang Mitglied des engeren Leitungsgremiums der Vierten Internationale, des früheren „Vereinigten Sekretariats“.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Ernesto Herrera hat den Staatsstreich, den Widerstand und seine Grenzen in einem im Juli 2023 auf Spanisch und Französisch veröffentlichten Beitrag analysiert: Uruguay – 50 ans après le coup d’Etat. 1973: l’imposition d’un régime contre-révolutionnaire