Michael Schilwa und Friedrich Dorn
Am 4. September ist Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung offiziell an den Start gegangen. Die Resonanz dürfte selbst die Initiator*innen positiv überrascht haben. Schon vor dem offiziellen Start hatten sich über 100 000 Unterstützer*innen registriert [1], mittlerweile sind es über 140 000 – das sind immerhin mehr als doppelt so viele, wie die ganze Linkspartei Mitglieder hat.
Sicher haben sich manche nur registriert, um via Newsletter an Infos aus erster Hand zu kommen. Und natürlich wird das politische Aktivitätsniveau vieler „Gesammelter“ nicht darüber hinausgehen, am Sonntag vor dem TV ihre Ikone Sahra bei „Anne Will“ zu bewundern. Andererseits: Sich bei einem politischen Projekt als Unterstützer*in zu registrieren, ist schon mehr als ein „Like“ bei Facebook.
Aber es soll ja auch keine Kaderpartei werden, auch Mitgliederparteien und politische „Bewegungen“ wie Podemos oder „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich) bestehen nicht zu 100 % aus Aktivist*innen.
Auf jeden Fall ist dieser fulminante Start zunächst mal ein gutes Zeichen gegen den Rechtsruck in Deutschland – das vorherrschende Bild, dass die Rechtspopulisten die Unzufriedenen und Abgehängten gegen das Establishment von CSU bis Linkspartei sammeln, bekommt Risse. Vielleicht geht ja auch was von links.
Das sieht die organisierte (parlamentarische und außerparlamentarische) Linke in Deutschland naturgemäß anders. „Anpassung an die Rechtsentwicklung“ ist noch ein eher harmloser Vorwurf. Viele sehen in „Aufstehen“ sogar einen rechten Angriff auf die Linkspartei.
Das ist in dieser Pauschalität falsch. Bei einer Grobverortung der Sammlungsbewegung im politischen Koordinatensystem landet diese irgendwo links der SPD und rechts von der Partei Die Linke. Betrachtet mensch nur Linkspartei und „Aufstehen“, dann – aber nur dann – ist letztere tatsächlich „rechts“.
Das aktuell gültige Erfurter Programm der Linkspartei bietet durchaus marxistische Antworten auf die kapitalistische Krise, während im Gründungsaufruf von „Aufstehen“ Begriffe wie Kapitalismus – Imperialismus – Klassen(-kampf) nicht ein einziges Mal auftauchen. Aber dieser Fokus ist zu eng eingestellt. Die entscheidende Perspektive ist gesamtgesellschaftlich.
Und hier stellt „Aufstehen“ einen – wenn auch zaghaften – Schritt nach links dar. Wir reden doch im Moment nicht über irgendwelche Linksverschiebungen, sondern über einen ziemlich heftigen Rechtsruck – alle linken Bemühungen müssen aktuell daran gemessen werden, ob sie ein Beitrag gegen diesen Rechtsruck sind oder nicht.
Bei unserer programmatischen Kritik der Sammlungsbewegung sollten wir die Kirche im Dorf lassen. Es ist klar, dass ein derart breit angelegtes Projekt nicht kristallklar revolutionär-marxistisch sein kann. Ein tatsächlich linkssozialdemokratischer Aufbruch wäre ja schon mal was in diesem Land. Klar ist auch: Wer wie „Aufstehen“ auf neue parlamentarische Mehrheiten zielt, zahlt dafür auch einen programmatischen Preis. Das merkt mensch dem Gründungsaufruf an – er ist einziges Plädoyer für eine Rückkehr zum Sozialstaat des sozialdemokratischen „Modell Deutschland“ der 1970-iger Jahre. Wir sollten das nicht so kritisieren, dass wir sagen: Revolution ist aber besser!
Zielführender ist der Hinweis, dass selbst „eine anti-neoliberale Reformpolitik ohne einen Bruch mit der kapitalistischen Logik“ heute nicht mehr möglich ist (Ulla Jelpke). [2] Die ökonomischen Rahmenbedingungen und das politisches Kräfteverhältnis haben sich spätestens seit Thatcher und Reagan dramatisch verändert – der damalige Klassenkompromiss wurde nicht von unten, sondern von oben aufgekündigt. Gerade hat das Beispiel Griechenland gezeigt, wie brutal und effektiv das transnationale Kapital selbst bescheidenste Ausbruchsversuche aus dem Austeritäts-Dogma bekämpft.
Eine rot-rot-grüne Bundesregierung hängt auch nicht an der Frage, ob der Mindestlohn 8,50 € oder 12 € betragen soll, sondern an der Akzeptanz der bundesdeutschen EU- und NATO-Staatsräson. Nicht umsonst ist der Gründungsaufruf hier besonders schwammig.
Es ist durchaus legitim, die Programmatik der neuen Bewegung auch anhand von Äußerungen der unbestrittenen Führerin zu kritisieren. Groteske Übertreibungen wie „Reichtum ohne Gier“ oder Ludwig Erhard als neues linkes Vorbild sorgen sicher auch bei vielen „Aufstehen“-Anhänger*innen für Unbehagen. Sahra Wagenknecht will einen sozialverträglichen Kuschel-Kapitalismus – neuestes Beispiel ist ein Interview in der Berliner Zeitung vom 4. August, in dem sie allen Ernstes „seriöse und risikolose (sic!) Geldanlagen“ fordert, aber natürlich mit „angemessener Rendite“. [3] Das grenzt an Volksverdummung – mensch muss kein Börsenexperte sein, um zu wissen: Je höher die Rendite, desto größer das Risiko – und umgekehrt.
Natürlich entwickeln sich soziale Bewegungen nicht immer idealtypisch (aus unserer Sicht): Entstanden in praktischen Kämpfen – lupenrein demokratisch – geprägt ausschließlich von Aktivist*innen. „Aufstehen“ allerdings ist bislang ein geradezu prototypisches Top-Down-Projekt, überdeutlich orientiert am „Unbeugsamen Frankreich“ des egomanischen Autokraten Jean-Luc Mélenchon.
Über 100 000 Menschen wollten mitmachen (auf welchem Level auch immer) und standen wochenlang vor der kafkaesken Situation, dass sie die Führung ihrer eigenen Bewegung nicht nur nicht gewählt hatten, sondern nicht einmal kannten!
Ob „Aufstehen“ tatsächlich nicht mehr wird als ein „Prominentenkreis mit Internetverteiler“ (Ulla Jelpke) oder ein „als Werbeevent organisierter Internetauftritt“ (Thies Gleiss) scheint uns allerdings noch nicht ausgemacht. Es gibt in der Geschichte genug Beispiele, dass Apparate die Kontrolle über Bewegungen verloren haben. Jeremy Corbyn hätte vor Jahren eigentlich gar nicht für den Labour-Vorsitz kandidieren dürfen, weil er irgendwelche satzungsgemäßen Quoten nicht erfüllte – die blairistische Führung gab ihm dann quasi eine „wild card“, damit die Wahl (zwischen lauter neoliberalen Kandidat*innen) nicht zu langweilig wird. Vorgesehen war er als „kämpferische Deko“ – seine überraschende Wahl und die sich anschließende ungeheure Dynamik der Momentum-Bewegung hatte niemand auf dem Schirm.
Es ist heute durchaus möglich, demokratische Diskussions- und Entscheidungsprozesse auch einer großen Zahl von Menschen digital zu organisieren. „Aufstehen“ setzt (wie die Piratenpartei) auf „Liquid Democracy“ und verwendet die Software Pol.is.Die wird nicht nur von Regierungen von Kanada bis Neuseeland genutzt, sondern spielte auch bei „Occupy Wallstreet“ eine zentrale Rolle. Ob wir es gut finden sollen, nach dem Schreiben eigener und dem Bewerten anderer Kommentare automatisch einer „Meinungsgruppe“ zugeordnet zu werden, ist eine andere Frage.
Sehr schlecht funktioniert bislang die Abwehr von Kaperungsversuchen durch Rechte, Querfrontler und „Trolle“, da die Registrierung bei „Aufstehen“ nicht überprüft oder einem Plausibilitäts-Check unterzogen wird (was aber bei 140 000 Registrierungen und einer Handvoll Administrator*innen auch eine Herkules-Aufgabe darstellt).
Aber auch „analog“ gibt es zumindest die Chance, dass sich die „Gesammelten“ nicht dauerhaft wie eine Fan-Gemeinde oder Schafherde verhalten. Dafür spricht nicht nur die „eigenmächtige“ Gründung von „Aufstehen“-Ortsgruppen schon vor dem offiziellen Start etwa in Berlin und Hamburg, sondern auch die nahezu flächendeckende Basisverankerung binnen kürzester Zeit nach dem Start. Im Osten performt „Aufstehen“ spürbar stärker als im Westen – überfüllte Säle von Potsdam bis Leipzig, in Berlin musste am Samstag, 29. September, zusätzlich zu einer Versammlung in der UFA-Fabrik eine „Kennenlern-Kundgebung“ auf der Straße angesetzt werden, zu der 400 Leute kamen. Das sollte nicht nur, aber vor allem den ostdeutschen Landesverbänden der Linkspartei zu denken geben. Aber auch im Westen war der reale Start der Bewegung beachtlich.
In der Altersstruktur dominiert die Generation „Ü 50“. Die Grundstimmung bei fast allen Versammlungen: Raus aus dem Internet, rein in die Straßen.
Vielleicht wird das ja doch noch eine „richtige“ Bewegung. Dafür spricht, dass sich auf den Versammlungen wie auf Facebook sehr viele, die bei „Aufstehen“ mitmachen wollen, dafür aussprechen, dass die Sammlungsbewegung etwa bei den Großdemos am Hambacher Forst am 6.10. oder bei „#Unteilbar“ in Berlin am 13.10. dabei ist, gut sichtbar und mit einem eigenen Block. [4]
Der Gründungsaufruf fordert eine Rückbesinnung auf „die Friedenspolitik Willy Brandts“. Nichts gegen die Ostverträge, die die Kriegsgefahr tatsächlich reduziert haben. Wir erlauben uns aber daran zu erinnern, dass der „Friedenspolitiker“ Brandt auch führend an der Strangulierung der portugiesischen Nelkenrevolution von 1975 beteiligt war – immerhin der letzte ernsthafte Versuch, in Europa den Kapitalismus in Frage zu stellen.
Relevanter als das Fremdschämen für derart peinliches Bedienen der Willy-Nostalgie ist die Skepsis gegenüber der Größe des von „Aufstehen“ vermuteten dissidenten Potentials in Grünen und SPD. Wer nach 30 Jahren Agenda-Politik mit Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung noch in einer dieser Parteien ist, hat bestenfalls resigniert bzw. ist ein Karrierist oder auch eine Karrieristin. Das gilt für die Grünen vollumfänglich, für die SPD mit Abstrichen/Fragezeichen (Stichwort: Corbyn).
Dass die Frage der Wahlbeteiligung besonders heißblütig diskutiert wird, verwundert nicht. Hier geht’s schließlich ums Eingemachte, sprich: Posten, Kohle, Macht, Privilegien.
Sahra Wagenknecht und die ihren haben mehrfach unmissverständlich deutlich gemacht, dass „Aufstehen“ ganz bewusst keine Partei sein will und also auch nicht bei Wahlen anzutreten gedenkt. Wollen wir eine seriöse und solidarische Debatte, müssen wir das erstmal ernst nehmen. Die Resolution des Länderrats der Antikapitalistische Linke (AKL) vom 16. September [5] tut genau das nicht und wirft „Aufstehen“ eine „ausschließliche (sic!) Orientierung auf Wahlkämpfe und Regierungsbeteiligung“ vor.
Gleichwohl darf gefragt werden, welche Halbwertszeit dieses Bekenntnis zur Wahlabstinenz haben wird. Denn gleichzeitig verkündet Wagenknecht immer wieder das strategische Ziel neuer, parlamentarischer Mehrheiten.
Es sind aber auch durchaus andere Szenarien denkbar:
Die nächste „große“ Wahl ist die Europa-Wahl. In seiner jetzigen Verfasstheit würde „Aufstehen“ gut zu dem von Mélenchon gegründeten europäischen Wahlbündnis passen (wobei unklar ist, ob das ohne Parteistatus in Deutschland überhaupt geht).
Eine weitere nicht unwahrscheinliche Variante: Wagenknecht setzt – mit „Aufstehen“ als Druckmittel in der Hinterhand – bei kommenden Wahlen in der Linkspartei Offene Listen durch, die dann natürlich mit möglichst vielen Gefolgsleuten besetzt werden sollen.
An die Frage der Wahlbeteiligung schließt direkt an die Frage, ob „Aufstehen“ der Linkspartei schaden oder sie gar spalten wird. Faustformel: Je weniger beide um dasselbe Klientel balgen, desto geringer die direkte Konkurrenz auf der Wahl- und Organisationsebene.
Es schwirren jede Menge Zahlen durch die Debatte, realistisch scheint uns folgende Annahme: Bei „Aufstehen“ registriert haben sich ca. 10 % der Mandats- und Funktionsträger*innen und etwa 20 % der Mitglieder der Partei Die Linke. Laut Umfragen können sich bis zu 40 % der bisherigen Linkspartei-Wähler*innen vorstellen, „Aufstehen“ zu wählen, so sie denn anträten. Was eine positive und eine negative Seite hat, es bietet Chancen und Risiken.
Grob gerechnet fühlen sich bis jetzt um die 100 000 Menschen von „Aufstehen“ angesprochen, die die Linkspartei nicht (mehr) erreicht – ein Riesenpotential für deutsche Verhältnisse, das die gesamte Linke nicht einfach „rechts“ liegen lassen darf. Gelänge es nur die Hälfte oder ein Drittel dieses Potentials tatsächlich für eine reale Bewegung zu aktivieren, würde „links“ gestärkt und nicht geschwächt.
Aber natürlich kann das für das „linke Lager“ auch böse in die Hose gehen. Bewegungen kommen und gehen, Parteien sind (nicht immer, aber meist) „haltbarer“.
Die durch die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie und die Implosion des Stalinismus entstandene „Lücke“ wurde in Europa und Deutschland von „neuen linken Formationen“ gefüllt. Die schiere – auch und gerade parlamentarische – Existenz der Partei Die Linke ist eine historische Errungenschaft, die die gesamte Linke (also auch „Aufstehen“) nicht leichtfertig aufs Spiel setzen darf. Träte „Aufstehen“ zu Wahlen an und würde tatsächlich von sagen wir 20 bis 40 % bisheriger Wähler*innen der Linkspartei gewählt, so flöge sie höchstwahrscheinlich aus dem Bundestag und den westdeutschen Landesparlamenten – das kann auch bei „Aufstehen“ niemand wollen.
Wem diese Argumentation zu „wahlarithmetisch“ ist, dem geben wir zu bedenken, dass z.B. der Mindestlohn in Deutschland nicht durch Massenstreiks erkämpft wurde, sondern eher eine Reaktion auf allgemeinen politischen Druck war, der sich auch durch Wahlerfolge der Linkspartei aufgebaut hat. Im Übrigen sind Wahlen nun mal auch für viele Menschen in dieser Partei und bei „Aufstehen“ das entscheidende politische Terrain (auch wenn uns das noch so wenig gefällt).
Das erklärte strategische Ziel von „Aufstehen“ sind „neue Mehrheiten“. Nicht nur Raul Zelik [6] fragt daher zu Recht, warum sie sich nicht einfach den „Bartschisten“, also dem Regierungsflügel der Linkspartei anschließen. Neben den üblichen Machtkämpfen um aussichtsreiche Listenplätze, persönliche Animositäten etc. sehen wir zwei Gründe:
Erstens zeigt das Forum Demokratischer Sozialismus (fds) Auflösungserscheinungen. Wichtiger ist zweitens, dass es durch den dramatischen Absturz der SPD (nach neuesten Umfragen liegt die AfD nicht nur im Osten, sondern auch bundesweit vor der SPD) schon rein rechnerisch nicht mehr für Rot-Rot-Grün (R2G) reicht.
Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht schwebt nun wohl so etwas wie eine „Basis-Frischzellenkur“ vor – sie wollen die Führungen von SPD und Grünen durch Druck von unten zu einem Politikwechsel zwingen, der dann die ersehnten Parlamentsmehrheiten erzeugen soll.
Aufschlussreich war die große Debatte, die am 5. September im Berliner Kino Babylon stattgefunden hat. [7] Jakob Augstein verglich „Aufstehen“ mit einem politischen „Bypass“, der gebraucht werde, um verstopfte Adern zu umgehen. Wagenknecht griff das auf und erklärte nicht unplausibel, warum eine Bewegung und keine Partei gegründet worden sei. Unzufriedene SPD-Mitglieder sollen mitmachen können, ohne sie in die Zwangslage zu bringen, dafür die SPD verlassen zu müssen.
Das stimmt ja erstmal: Mitmachen in SPD und in der Partei Die Linke zugleich geht nicht – SPD und „Aufstehen“ schon. Fragt sich nur, wie viele enttäuschte Basis-SPDler*innen es zur neuen Bewegung zieht...
Die Linkspartei macht es sich erstaunlich einfach mit der neuen Herausforderung und tut sich damit selbst keinen Gefallen. Von Bernd Riexinger bis zu den Flügeln (von ganz rechts bis ganz links) – der Tenor geht ungefähr so: Neue Sammlungsbewegung? Was soll das denn? Die gibt’s doch schon – wir sind die Sammlungsbewegung!
Das ist nicht nur arrogant (ähnlich wie die anmaßende Selbstbezeichnung DIE LINKE), sondern verstellt auch den Raum für eine selbstkritische Reflexion der eigenen Schwächen und Defizite.
Warum fühlen sich so viele von Wagenknecht angesprochen, die die Linkspartei nicht oder nicht mehr erreicht? Wagenknechts mediale Dauerpräsenz? Altmaier und Oppermann sind auch andauernd im TV und werden trotzdem nicht als „Volkstribune“ wahrgenommen.
Dass die Linkspartei zunehmend als Teil des Allparteien-Kartells und nicht als radikale Opposition wahrgenommen wird (im Osten zu Recht, im Westen meist zu Unrecht) hat natürlich viel mit Regierungsbeteiligungen zu tun. Im Gegensatz etwa zu SAV [8] und AKL sehen wir da aber nicht den einzigen Grund.
Holzschnittartig formuliert: Die Performance von „Aufstehen“ (ebenso wie der Aufstieg der AfD!) ist eine schallende Ohrfeige für die Bionade-Bourgeoisie.
Und dass das „juste milieu“ der Identitätspolitiker*innen so hysterisch reagiert, bestärkt die Abgehängten nur. Die Linkspartei und die Linke insgesamt drohen den Zugang insbesondere zu den subproletarischen Schichten (neudeutsch: Prekariat) zu verlieren. Bei Sahra Wagenknecht hingegen sagen die Leute: Ich bin nicht mit allem einverstanden, aber die weiß wenigstens noch, wie es bei uns hier unten aussieht.
Warum? Unter anderem deshalb, weil sie sich traut, auch über Tabus und weiße Flecken auf der linken Agenda zu sprechen. Beispiel: Kriminalität. Es nutzt dir nichts, von den Linken immer wieder zu hören: Die sinkt doch laut Statistik, wenn du in einem Viertel lebst, in dem es nachts nicht ganz ungefährlich ist rauszugehen.
Sagen wir mal so: Wagenknecht und die Lafontainisten geben teilweise falsche Antworten auf richtige Fragen. Das ist allemal besser als die Fragen überhaupt nicht zu stellen.
Was ist der Grundsound von „Aufstehen“? Die Ansage an den „white trash“: Jetzt seid ihr mal dran! Raul Zelik formuliert es vornehmer: Wagenknecht „will mit einem anderen Migrationskurs und einem nationaleren Zuschnitt der Sozialpolitik punkten.“ Oder Ulla Jelpke kurz und bündig: „nationalreformistische Logik“. Da ist was dran – und es bietet Gefahr (Querfront) und Chance (es sind in Teilen „unsere“ Leute).
Natürlich ist die ganze Debatte um „Aufstehen“ auch Ausdruck eines Machtkampfes in der Partei – zwischen Parteivorstand und Bundestagsfraktion oder vielmehr Mehrheit des Parteivorstands und konträrer Mehrheit der Linksfraktion, aber auch in der Fraktion selbst. Wir sollten uns in diesem Machtkampf nicht zur Partei machen (lassen).
Genoss*innen, die in Gremien und Gliederungen der Linkspartei mitarbeiten (vor allem in NRW) und mitbekommen, was sich da abspielt, berichten von einer scharfen Polarisierung, ja teilweise einer geradezu hasserfüllten Atmosphäre zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen des neuen Projekts. Dadurch erhöht sich natürlich der Druck auf „abwägende Mittelpositionen“, sich dezidiert pro oder contra „Aufstehen“ zu positionieren.
Wir möchten abschließend ausdrücklich eine Lanze brechen für solch eine abwägende „Mittelposition“ und für mehr Gelassenheit: „Aufstehen“ ist weder „ein rechter Angriff auf die Linkspartei“ noch der „neue linke Königsweg“ noch die Lösung für die strategischen Probleme der Linken in Deutschland.
Der recht fulminante Start von „Aufstehen“ legt aber sehr wohl Defizite und Akzeptanzprobleme der Linkspartei bloß. Diese sollten in der Partei seriöser und vor allem selbstkritischer diskutiert werden. „Aufstehen“ wiederum muss die „Spaltpilz-Sorgen“ der Linken innerhalb und außerhalb der Linkspartei ernster nehmen und stärker darauf fokussieren, wie die gesamte Linke in Deutschland durch das neue Projekt gestärkt werden kann.
Die organisierte sozialistische Linke sollte die Diskussion und den Austausch mit Anhänger*innen der neuen Bewegung suchen. Bei aller nötigen (und manchmal auch scharfen) Kritik, etwa an Programmatik und organisatorischer Verfasstheit von „Aufstehen“ oder auch der modischen Attitüde „Wir sind nicht rechts oder links, sondern frisch und neu“ – diese Debatte muss solidarisch und nicht ausgrenzend geführt werden. Nicht „Rechte“ gegen „Linke“ oder „Nationalist*innen“ gegen „Internationalist*innen“, sondern sozialistischer Wettbewerb innerhalb des breiten Spektrums der politischen und sozialen Linken darum, wer die besseren Konzepte für den Kampf gegen den Aufstieg der Rechten hat. Und wer daraus eine praktisch wirksame Massen- und Klassenpolitik machen kann – sicher nicht im Alleingang.
10. Oktober 2018 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz