Zur Europäischen Union

(Facing the European Union, Resolution des XIV. Weltkongresses der IV. Internationale, 1995)

1.

Die IV. Internationale und ihre Sektionen in Europa haben eine klare Haltung in bezug auf die Europäische Union (EU) und die europäische Einigung. Weit davon entfernt, die sozialen und internationalen Bestrebungen der Lohnabhängigen, der Frauen, der Jugend und der unterdrückten Nationalitäten zu befriedigen, spiegelt die EU auf regionaler Ebene die Globalisierung der Weltwirtschaft wider. Sie ist ein Instrument der vorherrschenden Sektoren des Großkapitals im innerimperialistischen Wettbewerb und in ihrem Kampf gegen die Arbeiterklasse Europas und gegen die Dritte Welt.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet die EU den Abbau des Wohlfahrtsstaats, die Bildung einer imperialistischen Festung und einen Schritt hin zu einem supranationalen Staat.

Dieses Europa ist nicht unser Europa. Wir bekämpfen es, nicht im Namen nationaler Lösungen und der Verteidigung des bürgerlichen Nationalstaats, die reaktionäre Utopien sind, sondern im Namen eines ökologischen, demokratischen, egalitären, friedlichen und solidarischen Europa. Unser Kampf gegen diese EU ist Teil des antikapitalistischen Kampfes für eine andere Gesellschaft -- eine sozialistische Gesellschaft. Dies wird ein Europa der arbeitenden Menschen und der freien Assoziation der Völker sein, offen nach Osten und solidarisch mit dem Süden.

Eine solche Alternative kann nicht über die bestehenden staatlichen Institutionen verwirklicht werden, seien sie national oder europäisch. Diese Alternative wird eine breite Aktivität der Massen erfordern und eine Krise der EU selbst. Sie erfordert den Aufbau und die Stärkung der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen auf gesamteuropäischer Ebene. Sie wird auch einen radikalen Bruch mit der gegenwärtigen Hegemonie der Sozialdemokratie in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung einschließen, einer Pro-EU-Politik mit neoliberaler Orientierung auf ökonomischer Ebene.

Ohne einen solchen Bruch und einen Fortschritt dieser antikapitalistischen Alternative im europäischen Maßstab wird es keine Zukunft für die Kämpfe der Lohnabhängigen, der Frauen und der Jugend geben, die -- gleich welcher Nationalität -- gegen Erwerbslosigkeit und Elend, Rassismus und Krieg mobilisieren.

Die IV. Internationale und ihre Organisationen wollen entsprechend den besonderen Bedingungen jedes Landes zum Aufbau dieser Alternative beitragen.

2.

Die Entwicklung der EU bleibt sehr widersprüchlich. Einerseits macht das Projekt der EU Fortschritte. Es entspricht der Globalisierung und regionalen Zentralisierung der Weltwirtschaft; neue Länder sind beigetreten; das Schengener Abkommen ist in Kraft; der Gemeinsame Markt geht voran; die Mitgliedstaaten setzen alles in die Wege, um die Kriterien von Maastricht zu erfüllen, und es gibt kein Mitglied der EU (nicht einmal Großbritannien), das davon spricht, die Währungsunion aufzugeben; mehrere bilaterale Abkommen zu konkreten Fragen sind zwischen den Mitgliedstaaten abgeschlossen worden; die EU funktioniert als ein Anziehungspol für europäische Länder außerhalb der EU.

Im ganzen gibt es ein stetiges (manchmal verhülltes) Fortschreiten zu einem Bundesstaat, aber es gibt auch viele Probleme und Widersprüche. Der Versuch, eine politische Union mit Elementen eines supranationalen Staates zwischen den Schlüsselländern (BRD, Frankreich, Großbritannien, Italien) um eine Einheitswährung herum zu schaffen, stößt auf viele Schwierigkeiten. Es existiert keine europäische Nation, und der EU mangelt es an demokratischer und sozialer Legitimität. Außerdem gibt es keine europäische Kapitalistenklasse als kohärente gesellschaftliche Kraft: die Bewegung der kapitalistischen Konzentration geht weit über die Grenzen Europas hinaus; es gibt überall Verbindungen zu den Konkurrenten in Japan oder den USA. Darüber hinaus existiert eine immanente Schwierigkeit bei der Übergabe bedeutender Bestandteile der Souveränität nationaler imperialistischer Staaten an einen supranationalen imperialistischen Staatsapparat.

Die Krise der EU im September 1992 (Krise des Europäischen Währungssystems [EWS]; der Pyrrhussieg des "Ja" beim Referendum in Frankreich nach dem deutlichen "Nein" in Dänemark; die ersten großen Arbeiterkämpfe gegen eine antisoziale Politik, die unmittelbar durch den Maastrichter Vertrag inspiriert wurde) weckte in breiten Sektoren der europäischen Gesellschaft erhebliche Zweifel an der Machbarkeit und der Nützlichkeit der EU (das "Nein" in Norwegen; die sehr knappen Mehrheiten in Schweden und Finnland; eine wachsende Kritik in den Kernländern der EU an den sozialen Kosten der Kriterien von Maastricht).

Der faktische Zusammenbruch des EWS 1993 hat diese Zweifel noch einmal verstärkt. Der entscheidende Sprung nach vorn zur Einheitswährung und zu einer Europäischen Zentralbank steht noch aus. Außer Luxemburg gibt es kein Land, das die Kriterien von Maastricht erfüllt: die Einheitswährung wird 1997 nicht eingeführt werden. Auch für den folgenden Termin, 1999, gibt es Zweifel und viele Manöver. Dennoch werden Pläne aufgestellt, um den Ecu in (einem Teil) der EU vor Ende des Jahrhunderts zu etablieren.

Das bedeutet, daß die "Politik von Maastricht" weiter umgesetzt wird und daß die Schlacht für den Abbau sozialer Errungenschaften weiter geht. All dies wird im Zentrum der Regierungskonferenz 1996 stehen, deren Tagesordnung mehr umfassen wird als die Anwendung und Anpassung der Kriterien von Maastricht: eine Reduzierung der demokratischen Institutionen in der EU, mit der Errichtung einer quasistaatlichen europäischen Struktur, die fähig ist, diese zunehmend größere und disparatere Mischung aus den Mitgliedsländern der EU zu führen. Darüber hinaus wird es Versuche geben, die gemeinsame Politik auf der Ebene der Außenpolitik, der militärischen Zusammenarbeit und der Asyl- und Flüchtlingspolitik zu stärken.

3.

Die schleichende Krise der EU in ihren Kernländern ist ein bedeutender Hebel für unseren Kampf gegen die EU. Indem wir an diese oppositionellen Kräfte anknüpfen und die sozialen Kämpfe stärken, die objektiv die Anwendung von Maastricht in Frage stellen, können wir Kampagnen und Bewegungen für ein "Nein von links" aufbauen und stärken sowie die Durchsetzung des Projekts der EU erschweren.

Unser Ziel ist es, der EU vom antikapitalistischen Standpunkt eine Niederlage beizubringen, auf der Grundlage einer internationalistischen Lösung der Krise und als Resultat des Kampfes der europäischen Arbeiterklassen. Diese Perspektive steht im radikalen Gegensatz zur "europäistischen" Anpassung der Sozialdemokratie an die Institutionen der EU, aber auch zu nationalistischen Strömungen innerhalb der Rechten und extremen Rechten der bürgerlichen Parteien und innerhalb der Arbeiterbewegung.

Um auf diesem Weg voranzuschreiten müssen wir drei objektive Tatsachen in Betracht ziehen:

Da wir der Überzeugung sind, daß das Projekt EU in seinem Wesen instabil ist, dürfen wir uns nicht auf eine propagandistische Aktivität beschränken, die die EU anprangert und einen Forderungskatalog präsentiert. Wir sind in die politische Perspektive eines praktischen Kampfes gegen die EU eingebunden, indem wir von der Krise der EU ausgehen. Daraus folgt die Notwendigkeit, eine antikapitalistische und internationalistische Übergangsstrategie zu entwickeln. Als Internationale erkennen wir die Notwendigkeit für jede unserer nationalen Organisationen an, eine nationale Taktik zu haben, um den Klassenkampf gegen die EU zu lenken, sowie die Notwendigkeit für jede Organisation, sich an einer europäischen Strategie zu beteiligen, die auf demselben Gesamtprogramm und derselben Alternative zur EU basiert.

4.

Es besteht kein Zweifel, daß alle Versuche, die in einem EU-Land gemacht werden, mit der neoliberal-monetaristischen Politik zu brechen, schnell auf die EU stoßen werden, die die zentrale Organisatorin dieser Politik auf europäischer Ebene ist. Indem sie bis an das Ende ihrer eigenen Logik geht, versucht die Sozialdemokratie, der Arbeiterklasse jeden Ausweg zu versperren, wobei sie sie vor das folgende Dilemma stellt: jeder Bruch mit der gegenwärtigen (neoliberalen) Politik bedeutet die Abkehr von der EU (mit allen vermeintlich katastrophalen Folgen). Man soll die EU akzeptieren, in der Hoffnung ihre Institutionen und ihre Politik zu verbessern.

Die Entwicklung einer strategischen Antwort auf diese Herausforderung und dieses Dilemma ist von entscheidender Bedeutung, um aus der aktuellen politischen Lähmung herauszukommen, welche die Arbeiterbewegung und die sozialen Bewegungen befallen hat, nicht allein ihren linken Flügel. Ohne jeden Zweifel wird das Fehlen einer solchen Alternative nicht verhindern, daß Kämpfe ausbrechen, aber sie werden ohne politische Gesamtperspektive bleiben -- und somit ohne Dynamik, ohne Einheit und ohne Siegeswillen. Dies ist eine hochgradig praktische Frage in dem Maße geworden, in dem sich die EU in einer schwierigen Situation befindet, aus der sie nicht so bald herauskommen wird. Darüber hinaus werden alle künftigen großen sozialen Mobilisierungen diese Frage jedesmal wieder auf die Tagesordnung setzen. Und gerade dies ist sehr wichtig, denn ohne ein stärkeres Erwachen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, ohne daß ein günstige Änderung des Kräfteverhältnisses auf diesem Gebiet anfängt einzutreten, ist jede alternative Strategie nur eine abstrakte Konstruktion.

Wenn die Regierung in einem Land der EU von einer machtvollen sozialen Mobilisierung (vergleichbar jenen, die in den letzten Jahren in Italien, Griechenland, im spanischen Staat und in Frankreich stattfanden) erschüttert wird, muß sie bei einem wichtigen Punkt ihrer Sparpolitik zurückweichen. Ein solches Zurückweichen wird unvermeidlich mit den institutionellen Regeln und der aktuellen Politik der EU kollidieren. In der Folge wird der institutionelle Rahmen der EU selbst von der Krise ergriffen werden. An diesem Punkt stellt sich die Notwendigkeit einer linken Alternative im europäischen Maßstab, die mit den EU-Institutionen und -Regierungen bricht, sich die sozialen Forderungen der in einem Land kämpfenden Lohnabhängigen zu eigen macht und sich an die Gesamtheit der Lohnabhängigen in allen Ländern der EU wendet.

Bis wohin wird die so geöffnete politische Bresche reichen? Dies hängt von einer Gesamtheit von Faktoren ab, die unmöglich heute vorauszusehen sind. Auf der taktischen Ebene scheinen drei Dinge klar. Erstens, sich auf ein notwendiges Kräfteverhältnis dank der Aktivität "der da unten" zu stützen, bedeutet, sich zunächst auf eine politische Dynamik auf nationaler Ebene zu beziehen. Zweitens müssen wir konkret begreifen, wie die Dynamik von der nationalen Ebene auf die europäische übergreift. Schließlich müssen wir die Auslösung einer Krise der Institutionen der EU als den einzig möglichen Weg zu einem sozialen Europa betrachten, mit der Perspektive des Bruchs dieser Institutionen und nicht ihrer Kontinuität.

Entsprechend der Situation, dem Land, den Themen der Kämpfe, der Dynamik der Konfrontation und dem Zustand der Bewegung können sich zwei verschiedene Lagen ergeben:

Es ist klar, daß in beiden Fällen die entscheidende Frage die Ausweitung und Stärkung der sozialen Mobilisierungen in ganz Europa ist. Die politische Achse der Propaganda, der konkreten sozioökonomischen Politik und der Verhandlungen und Taktiken ist die Perspektive, Europa auf einer anderen Basis neu zu organisieren, als ein kontinentaler Raum, der über ein Entwicklungsmodell vereint ist, das auf den sozialen Bedürfnissen, der Vollbeschäftigung, dem Respekt für die Umwelt und der internationalen Zusammenarbeit basiert: ein Europa der freien Verbindung von Staaten und Völkern, die für genau definierte Lösungen und Ziele zusammenarbeiten. Dies wird in der einen oder anderen Weise die Errichtung alternativer öffentlicher Institutionen einschließen, die den Interessen der werktätigen Bevölkerung dienen.

5.

Wie die Erfahrung gezeigt hat, beruht die Opposition der Bevölkerung zur EU auf verschiedenen Motivationen. Zunächst widerspiegelt sie ein demokratisches Gefühl und ein mehr oder weniger bewußtes Verständnis vom antisozialen Ziel dieser EU im Aufbau. Es ist offensichtlich, daß dieser neue supranationale Quasistaat keinerlei demokratische Legitimation besitzt. Wir teilen diese demokratische Kritik mit vielen anderen, aber wir idealisieren auf diese Weise nicht den nationalen Parlamentarismus. Wir verbinden dieses Fehlen an Demokratie bei der EU mit dem antisozialen Inhalt der EU-Politik und mit dem Fehlen an Demokratie auf nationaler Ebene in jedem einzelnen Mitgliedsland der EU. Wir stellen alldem eine soziale, ökologische, feministische und internationalistische Alternative entgegen, die auf einer wirklichen Demokratie und Selbstorganisation beruht.

Dies schließt insbesondere ein:

Für ein soziales Europa:

Für ein ökologisches Europa:

Für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger:

Für ein Europa auf der Grundlage der Solidarität:

Für ein Europa des Friedens:

6.

Die Regierungskonferenz (IGC) von 1996 [und 1997] wird im Mittelpunkt der Europapolitik der vor uns liegenden Periode liegen. Debatten und Vorbereitungen haben in allen Mitgliedsländern stattgefunden. Über jeden neuen Vertrag oder jede Veränderung bestehender Verträge als Ergebnis der IGC müßten in allen Mitgliedsländern Referenden stattfinden.

Viele alte und neue Fragen werden im Verlauf dieser Vorbereitung berücksichtigt werden:

Die Regierungskonferenz (IGC) wird offenbar die Gelegenheit bieten, eine entschiedene Opposition gegen die EU darzustellen. Wir werden für eine gesamteuropäische Demonstration gegen die Politik der EU und/oder regionale oder nationale Demonstrationen zur Zeit der Konferenzeröffnung arbeiten. Parallel werden wir die Gelegenheit dieser Konferenz nutzen, um die Debatten in der Linken und den sozialen Bewegungen in bezug auf konkrete Alternativen zum Europa des Kapitals, der sozialen Unsicherheit, der Erwerbslosigkeit, dem Niedergang der Demokratie und der Zerstörung der Umwelt zu stärken. Wir werden für einen Bruch mit der neoliberalen Politik der EU und für ein soziales Europa kämpfen, im Mittelpunkt ein radikaler Kampf gegen die Erwerbslosigkeit. Wir wollen diese Initiativen mit anderen linken Kräften ergreifen, und wir werden uns an der Vorbereitung einer internationalen Konferenz der Linken beteiligen. Zu den Europawahlen von 1999 werden wir Listen in möglichst vielen Ländern aufstellen -- entsprechend den konkreten Bedingungen der Sektionen der IV. Internationale in jedem Land. Wir werden ein Manifest veröffentlichen, das die gemeinsame Linie aller unserer Sektionen in Europa repräsentiert.

(Mit 81,5% Jastimmen auf dem Weltkongreß angenommen; Gegenstimmen: 2,0%, Enthaltungen: 7,5%, Nichtteilnahmen: 9,0%)


Veröffentlicht durch Inprekorr (Internationale Pressekorrespondenz).
Siehe auch die Resolution zu den Aufgaben in Europa sowie die übrigen Resolutionen des Weltkongresses.


[1], [3] Intergovernmental Conference: wurde im Sommer 1996 begonnen und im Juni 1997 in Amsterdam abgeschlossen.
[2] Radikale Trennung von Kirche und Staat.