Zur Krise auf Kuba

(On the Cuban Crisis, Resolution des XIV. Weltkongresses der IV. Internationale, 1995)

1.

Die aktuelle Krise auf Kuba dauert bereits fünf Jahre. Die abrupte Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR und dem RGW, die Verschärfung des US-amerikanischen Embargos und der bürokratische Zentralismus der Kommandowirtschaft haben in kombinierter Wirkung einen wirtschaftlichen Zusammenbruch und eine Krise ausgelöst, die beispiellos in der Geschichte der kubanischen Revolution sind.

1993 wurde die Castro-Führung gezwungen, einen Prozeß wirtschaftlicher Reformen zu beginnen, weil die seit 1990 begonnene "Spezielle Periode in Friedenszeiten" -- eine besondere Art von Kriegskommunismus -- zu fortgesetzten Einsparungen und einer beständigen Verschlechterung der Lebensumstände der Bevölkerung führte. Zu den ersten Maßnahmen gegen die verallgemeinerte Wirtschaftskrise und dem brutalen Abfall im Lebensstandard der Massen -- was den Hintergrund für die Flucht der "balseros" [der "Flößer"] vom August 1994 ausmachte -- gehörten die Öffnung für ausländisches Kapital, die Entwicklung des Tourismus und die Legalisierung des Dollarbesitzes.

2.

Die massive Fluchtbewegung und die Demonstrationen vom August 1994 stellten einen Wendepunkt in der Entwicklung der Ereignisse dar und beschleunigten die Reformen. Zum erstenmal seit 1986 wurden die freien Bauernmärkte wieder zugelassen und die Preise gemäß Angebot und Nachfrage festgelegt. Durch das Versagen des Ernährungsplanes, den ständigen Qualitätsverlust bei der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung, die zuvor durch die "libreta" [Bezugsscheine] sichergestellt wurde, und die Entstehung einer Schattenwirtschaft und von Schwarzmärkten auf Dollarbasis wurde die Castro-Führung dazu veranlaßt, die Entscheidungen zurückzunehmen, die sie im Zuge des vom dritten Parteikongreß der Kubanischen Kommunistischen Partei verkündeten "Prozesses zur Berichtigung der Fehler und Irrtümer" [rectificación] getroffen hatte.

Von nun an wurde die Privatinitiative wiederbelebt und ermutigt, mindestens für die kleinen Bauern wie für verschiedene Handwerker und Dienstleister. Die weitere Dezentralisierung sollte auf der Gemeindeebene die unabhängigen Aktivitäten anregen und die Herausbildung eines informellen Sektors begünstigen, der insbesondere mit dem Wachstum des Tourismus einherging -- worunter die Prostitution eine der ungenehmsten Folgen ist.

Die Bauernmärkte stellten allein die Versorgung der reichsten Bevölkerungsschichten sicher: Die Preise waren sehr hoch, aber sie wurden in Pesos erhoben, so daß die Märkte im Gegensatz zu den Schwarzmärkten auch denen zugänglich waren, die nicht über Dollars verfügten.

3.

Dennoch ist die Verarmung dramatisch, und die Beschleunigung des Anpassungsprozesses aufgrund des Druckes der Finanzinstitutionen der europäischen und lateinamerikanischen Regierungen hat die Probleme des Alltagslebens zusätzlich verschärft. Zu der den Reformen folgenden Ungleichheit kamen noch die Folgen der Rationalisierung des Staatsapparates und der Betriebe, die zu ungefähr 500.000 Entlassungen führte. Die Absicherung eines Teils des früheren Lohnes sowie die Möglichkeit, unter sehr rigiden Bedingungen einen neuen Arbeitsplatz zu erhalten, überwiegend in der Landwirtschaft, glichen den Verlust an Einkommen nicht aus. Wenn die sozialen Errungenschaften im Gesundheits- und Bildungswesen zur Zeit auch nicht gefährdet sind, so ist der Qualitätsverfall dieser Dienstleistungen doch beachtlich. Die Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität (Abbau von "überflüssigem" Personal, Produktivitätszuschläge, Dollarprämien, verschärfte Arbeitsdisziplin) erhöhten den Druck auf die LohnarbeiterInnen, ohne jedoch in Form besserer Einbeziehung in die ArbeiterInnen-Kontrolle über die Betriebe oder in die Massenbeteiligung in der Stadt- und Nachbarschaftsverwaltung für einen Ausgleich zu sorgen.

Was die Gewerkschaften betrifft, so beschränkte sich ihre Rolle darauf, die Produktion anzuregen und die wirtschaftlichen Reformen im Rahmen der wohlbekannten "Effizienz-Versammlungen" zu vermitteln, während sie gleichzeitig die Auswirkungen der aktuellen Veränderungen abschwächten.

In den gemischten Unternehmen (joint-ventures) haben die LohnarbeiterInnen keine anderen Schutzrechte als die sehr geringen, den Gewerkschaften oder den Zellen der Kommunistischen Partei gewährten. Aber sie erfreuen sich besserer Gehälter und zahlreicher materieller Vorteile gegenüber den ArbeiterInnen in den staatlichen Unternehmen, was die wachsende Zahl an Arbeitssuchenden in diesem Sektor erklärt. Die kubanische Wirtschaft funktioniert zur Zeit in zwei Geschwindigkeiten.

4.

Die augenblicklichen Änderungen sind das Ergebnis von widersprüchlichen politischen Plänen. Die Debatte, die in den Führungskreisen, unter Intellektuellen, Forschern und im Lehrwesen stattfand, endete mit der vorläufigen Übereinkunft, daß die wirtschaftliche Öffnung unvermeidlich sei. Aber die Konzepte sind unterschiedlich. Für die einen darf die wirtschaftliche Öffnung das politische System nicht gefährden. Aber das chinesische "Beispiel", an dem sie sich orientieren, ist nicht auf Kuba anwendbar. Schon allein deshalb, weil Washington Havanna nicht das erlauben wird, was es Peking erlaubt hat zu tun.

Für die anderen, die von der Sozialdemokratie inspiriert sind, müssen die wirtschaftlichen Reformen das Vorspiel zu einem radikalen politischen Umbau der Institutionen sein. Nur die parlamentarische Demokratie und eine allgemeine Marktwirtschaft werde die Beendigung des US-amerikanischen Embargos herbeiführen können, ohne die nach Meinung dieser Kräfte keine wirtschaftliche Wiederbelebung möglich sei.

Nur eine Minderheit der politischen FührerInnen und ForscherInnen betrachtet die gegenwärtige wirtschaftliche Öffnung als ein notwendiges Übel, angesichts der internationalen Isolierung der Insel, und fordert jedoch, daß diese "Neue ökonomische Politik (NEP)" durch politische Veränderungen ergänzt werde, die in Richtung einer Ausdehnung der Entscheidungsmacht der LohnarbeiterInnen und der Basisdemokratie gehen müssen sowie eines antibürokratischen Kampfes, der Änderungen im jetzigen Funktionieren der Organe der Volksmacht (OPP) auslösen müsse. Eine solche Orientierung, die der Bevölkerung wachsende Macht zur Kontrolle geben würde, könnte erlauben, einerseits die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen wie andererseits die Bereicherung der Bürokraten, die am Handel oder der Personen, die am Tourismus oder der kommerziellen Landwirtschaft beteiligt sind, zu begrenzen.

5.

Die gegenwärtigen Reformen untergraben die soziale Basis der Regierung. Das ideologische Durcheinander, das Fehlen von Perspektiven und vor allem der Verlust an revolutionärer Legitimität haben Auswirkungen, die ähnlich schwer wiegen wie die wirtschaftlichen Einsparungen. Und darüber hinaus wird die Verwirrung verstärkt, weil es keine Debatten und Begegnungen gibt, was die kollektive Entwicklung eines mittelfristigen Überlebensplanes ermöglichen würde. Ohne eine solche Demokratisierung der politischen Institutionen der Volksmacht (OPP) sind die Möglichkeiten, die Revolution zu retten, noch mehr beeinträchtigt, angesichts der fast völligen Isolierung Kubas in einem internationalen Kontext, der durch einen allgemeinen Rückgang revolutionärer Kämpfe gekennzeichnet ist.

Es ist wahr, daß das Machtmonopol der Castroisten löchriger ist: Die Führungsgruppen wurden zunehmend verjüngt und die Rolle der Kommunistischen Partei abgeschwächt; die Intellektuellen können sich freier ausdrücken. Aber keine organisierte politische Strömung ist erlaubt, auch nicht innerhalb der Kommunistischen Partei. Die mündliche und schriftliche Formulierung von politischen Alternativen zu den Orientierungen der Regierung in der Presse oder den anderen Medien sind weiterhin verboten. Die Unterdrückung von Andersdenkenden findet weiterhin statt.

Das kubanische Volk bleibt deshalb seit mehr als drei Jahrzehnten in einem Widerspruch gefangen, den es nicht selbst lösen kann: Entweder es verteidigt seine nationale Souveränität und die hart erkämpften sozialen Errungenschaften, indem es schweigend die Macht der Figur erträgt, die gegenüber der imperialistischen Vorherrschaft die nationale und revolutionäre Legitimität verkörpert, oder es revoltiert gegen Castro, den Vater der Nation, und gefährdet auf diesem Wege die Unabhängigkeit.

Dieser Widerspruch ist das Ergebnis des geopolitischen Kräfteverhältnisses, das von Beginn an für die kubanische Revolution außerordentlich ungünstig war.

6.

Das Überleben der Castro-Regierung ist vor allem anderen durch die unablässigen Schikanen durch die US-amerikanische Regierung bedroht. Kein Land hat solange unter diesen Torturen gelitten. Gegenüber Vietnam wurde das US-Embargo aufgehoben. China erfreut sich des Meistbegünstigungsstatus, und gegenüber Nordkorea hat die US-Administration nicht gezögert zu verhandeln. Nach 35 Jahren einseitigem wirtschaftlichen Embargo und Sanktionen, die zuletzt 1992 durch das Torricelli-Gesetz und 1994 durch Maßnahmen Bill Clintons verschärft wurden, geht die neue republikanische Mehrheit dennoch daran, ein Gesetz von Jesse Helms, dem Vorsitzenden des außenpolitischen Senatsausschusses, zu verabschieden, das darauf abzielt, ausländische Investitionen auf der Insel zu verhindern, dem einzigen Mittel, wie das Land an Kapital und Technologie kommen kann.

Das erklärte Ziel der US-Regierung ist es, Fidel Castro und seine Regierung zu beseitigen und zu zeigen, daß jede sozialistische Revolution im Westen zum Scheitern verurteilt ist, wie es in Grenada, Nicaragua und Mittelamerika zu sehen war. Das für Kuba vorgesehene Schicksal im Falle einer Niederlage der castroistischen Revolution könnte schlimmer werden als das von Nicaragua und würde einen bedeutenden historischen Rückschritt markieren. Das kubanische Volk ist sich dessen bewußt: Seine Ruhe ist ein Ausdruck der gegenwärtigen Sackgasse des Fehlens von Perspektiven. Es besteht das Risiko, daß die einzige Chance dieser Region, die wirtschaftliche Integration Lateinamerikas, nur unter der Vorherrschaft von Washington abläuft. Ein Jahr nach Unterzeichnung der NAFTA-Verträge zeigt die Krise in Mexiko die Auswirkungen einer Freihandelszone, die von Alaska bis zum Südzipfel des Kontinents reicht.

7.

Wir verteidigen die kubanische Revolution, weil wir gegen die Unterdrückung der Schwächsten durch die Stärksten und für die Unabhängigkeit eines kleines Landes gegenüber dem Hegemoniestreben der führenden Militärmacht der Welt sind.

Die Tatsache, daß dies eine sozialistische Revolution ist, die mehr als fast alle anderen in diesem Jahrhundert einen internationalistischen Ausgangspunkt hatte und deren soziale Errungenschaften zum Wichtigsten zählen, was jemals in einem Drittweltland erreicht wurde, erklärt, warum diese Nation der Aggression von Nordamerika widerstehen konnte. In den Zeiten des "Kalten Krieges" hätte die Insel ohne die Hilfe aus der UdSSR sicherlich nicht lange durchhalten können. Aber diese Hilfe hatte dramatische Nebeneffekte. Die "internationale sozialistische" Arbeitsteilung ordnete Kuba den RGW-Interessen unter und verhinderte die Ausarbeitung einer eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklungsperspektive.

Als Gefangener in den geopolitischen Grenzen wurde das Land auf bestimmte Weise durch den "Kalten Krieg" geschützt, ohne jedoch jemals das eigene Schicksal bestimmen zu können. Die dramatische Episode der Raketenkrise, über die Che in seinem Abschiedsbrief berichtet, ist dafür eine tragische Illustration. Ähnlich wie Vietnam zahlte Kuba teuer für die Streitereien der Supermächte.

8.

Die bürokratischen Deformationen, die Unterdrückungspraktiken und der Caudillo-mäßige Führungsstil von Castro trugen in gleicher Weise zum andauernden Niedergang des Einflusses der Revolution bei. Ein Land im Kriegszustand, belagert seit 35 Jahren und ohne eigene Energiequellen, kann allerdings kein Modell für sozialistische Demokratie sein. Sozialismus auf einer kleinen Insel war offensichtlich noch klarer unmöglich als in der Sowjetunion. Aber dies heißt nicht, daß Castros Mißerfolge ihn auch von seiner Untätigkeit gegenüber der Menschenrechtskampagne der Imperialisten freisprechen. Er ist schuldig, weil er sich nach dem Fall der Berliner Mauer nicht selbst vom Stalinismus gelöst hat.

Unsere Kritik richtet sich im wesentlichen gegen den fehlenden politischen Pluralismus und die Unterdrückung von demokratischen Rechten. Aber in keinem Fall ist dies mit denen zu verwechseln, die "freie" Wahlen (unter Einschluß der Miami-Parteien) fordern und die Rückgabe des enteigneten Eigentums, um den "demokratischen" Sieg der Konterrevolution zu sichern wie in Nicaragua. Unter den gegenwärtigen Bedingungen auf Kuba würde eine Konterrevolution einen Bürgerkrieg auslösen.

Die Forderung nach Respektierung der demokratischen Rechte setzt den Kampf für eine bedingungslose Aufhebung des US-Embargos, die wichtigste Verletzung demokratischer Rechte, und für eine bedingungslose Beendigung der Aggressionen und der Erpressungen voraus. In diesem Kampf stehen wir an der Seite des kubanischen Volkes und der Castro-Führung gegen den Imperialismus.

Aber diese antiimperialistische Solidarität bedeutet in keiner Weise Unterstützung für die Castro-Führung, wenn sie der Bevölkerung alle Macht zum Protest und zur Selbstbestimmung entzieht. Im -- derzeit stummen -- Widerstand der kubanischen Bevölkerung gegen die Bürokratie unterstützen wir alle Kämpfe für Reformen, die eine Perspektive zur Verteidigung der Errungenschaften Revolution eröffnen. Die Institutionen der Volksmacht, von der lokalen Ebene bis zur Nationalversammlung, müssen demokratisiert werden, um den pluralistischen Ausdruck unterschiedlicher Strömungen zu gewährleisten. Die Massenorganisationen müssen aufhören, ein Transmissionsriemen für die Parteiinteressen zu sein. Die Fabrik-Versammlungen müssen die Kontrolle über die aktuellen wirtschaftlichen Umstrukturierungen haben.

Die US-Aggression begünstigt den Erhalt der bürokratischen Vorherrschaft. Nur die Beendigung dieser Aggression kann die unabhängige Mobilisierung der kubanischen Massen stimulieren, was wiederum eine notwendige Bedingung zum Überleben der Revolution ist.

Andererseits wird der Sturz Fidel Castros durch die Miami-Kräfte nicht das Signal einer kubanischen Revolution sein, sondern vielmehr der Sieg der Konterrevolution.


Veröffentlicht durch Inprekorr (Internationale Pressekorrespondenz).
Siehe auch die Resolution über Lateinamerika sowie die übrigen Resolutionen des Weltkongresses.