Der Aufbau der Internationale heute

(Building the International today, Resolution des XIV. Weltkongresses der IV. Internationale, 1995)

1.

Seit unserem XIII. Weltkongreß 1991 hat sich das weltweite Kräfteverhältnis -- im Rahmen der allgemeinen Tendenzen, wie sie in der von uns verabschiedeten Resolution über die Weltlage wahrgenommen und analysiert wurden -- weiterhin zuungunsten der arbeitenden Massen verschlechtert. Die internationale Dialektik der Kämpfe hat in negative Richtung gewirkt; Rückschläge, Niederlagen oder die Isolation vieler Emanzipationsbewegungen waren die Folge. Unsere eigene Strömung wurde von dieser Dialektik betroffen und geschwächt -- ein Resultat, das in einer Organisation ohne einen sektiererischen Panzer, der sie von den Einwirkungen des wirklichen Verlaufs der sozialen und politischen Kämpfe abschirmt, kaum vermieden werden konnte.

Der endgültige Zusammenbruch des stalinistischen Systems in der UdSSR mündete in eine breite Offensive der prokapitalistischen Fraktionen der Bürokratie und anderer Anhänger einer Verallgemeinerung des Marktes und der Privatisierung. Die chauvinistische, nationalistische und kriegstreiberische Tendenz der meisten nationalen Bewegungen, die auf den Trümmern des bürokratischen "Sozialismus" wuchern, wird dadurch verstärkt. Diese reaktionäre Entwicklung erklärt sich weitgehend aus dem Niedergang der Arbeiterbewegung und der Radikalisierung in den imperialistischen Ländern seit der Rezession Mitte der 70er Jahre.

Allgemeiner gesagt sind die sozialen Bewegungen insgesamt, die sich immer noch in von Land zu Land verschiedener Weise entwickeln -- gegen die imperialistische Unterdrückung, die Sparpolitik, die Auswirkungen der Marktwirtschaft, die Gefahren für die Umwelt, die Frauenunterdrückung, den Militarismus usw. --, noch immer sehr zersplittert. Dem Projekt einer sozialistischen Gesellschaft als Alternative zum Kapitalismus und zu den verheerenden Erfahrungen des bürokratischen "Sozialismus" mangelt es an Glaubwürdigkeit: Auf ihm lastet die schwere Hypothek der Bilanz des Stalinismus, der Sozialdemokratie, des populistischen Nationalismus in der Dritten Welt sowie der Schwäche derer, die heute für dieses Projekt einstehen.

In einer großen Zahl abhängiger Länder fragen sich nunmehr große Teile der Vorhut, welche Erfolgschancen ein revolutionärer Bruch mit dem Imperialismus hat, ob es möglich ist, die Macht zu erobern und im Rahmen der neuen weltweiten Kräfteverhältnisse zu halten. Andere Kräfte, und nicht die unwichtigsten, haben offen mit dieser Perspektive gebrochen: Allein in Lateinamerika gilt dies für einen Teil der früheren Führung der ERP/FMLN und der FSLN sowie für eine Strömung in der brasilianischen PT.

In diesem Zusammenhang ist die stärkste Tendenz jene der Anpassung und des Kompromisses im Namen des Realismus. Unter der Last der Krise und der Schwäche oder dem Mangel an Perspektiven hat sich eine Kettenreaktion nach rechts gehender politischer Kräfte in einen Erdrutsch verwandelt. Dies ist das Ergebnis sowohl von Veränderungen, die sich über eine lange Periode hinstreckten und insbesondere die Hauptmasse der großen Parteien betreffen, als auch von mehr oder weniger plötzlichen Wendungen von Bewegungen, deren soziale Wurzeln Entwicklungen in jede Richtung möglich machen. So entwickelte sich der bürgerliche Populismus (wie auch die Sozialdemokratie) zu einer "sozialen" Version des Neoliberalismus; die stalinistischen Parteien haben ihre Sozialdemokratisierung abgeschlossen; viele Ex-Revolutionäre haben die rechtesten stalinistischen Vorstellungen von der Entwicklung in Etappen angenommen, wenn sie nicht gar selbst auf eigene Weise "Etappen übersprungen" haben, um verworrene sozialliberale Vorstellungen anzunehmen.

Unter diesen Umständen erscheint der revolutionäre Internationalismus als Utopie. Aber die historisch beispiellose Globalisierung der Weltwirtschaft -- Internationalisierung des Kapitals, die Rolle der Multis, die Globalisierung des Marktes, die jetzt gleichzeitig mit der Entwicklung der Kommunikationstechnologie vonstatten geht, der wachsende Anteil des internationalen Tauschs im Vergleich zu den nationalen Ökonomien usw. --; die Globalisierung der Arbeit, sei es durch Arbeitsmigration oder die Bewegung von Kapital und Industrien; die Globalisierung von Politik und imperialistischem Krieg in der Epoche der großen Koalitionen unter Führung des Weltpolizisten USA, all dies kommt in machtvoller Weise zusammen, um die Notwendigkeit einer Arbeiterinternationale, die sich verpflichtet, gegen das weltweite Kapital und seine lokalen Abteilungen zu kämpfen, um so dringlicher zu machen.

Da politische Zyklen niemals vollständig von sozio-ökonomischen Zyklen losgelöst sind, liefert die starke Tendenz zur Verschärfung der sozialen Spannungen im Rahmen eines Kapitalismus, der künftig nicht in der Lage sein wird, zu verhindern, daß die Verarmung auch als solche wahrgenommen wird, die Gründe für das Beharrungsvermögen der revolutionären Hoffnung. So sind die Illusionen des über den Trümmern der Berliner Mauer triumphierenden Liberalismus bereits weitgehend einer tiefen Skepsis gewichen, die sich heute gegen den real existierenden Kapitalismus wendet. Die prahlerische Selbstgefälligkeit des siegreichen Imperialismus, der ohne die geringste eigene Gefahr im Irak das Trugbild der "viertgrößten Armee der Welt" besiegte, ist heute weitgehend durch die Impotenz ersetzt worden, die er in Bosnien, Somalia und selbst Haiti an den Tag gelegt hat. Bush hat das Vietnam-Syndrom zu früh begraben: das mit der eindrucksvollen Mobilisierung gegen die US-Aggression in Vietnam Erreichte schränkt immer noch die Interventionsfähigkeit der größten Militärmacht aller Zeiten ein.

Es mangelt also nicht an Gründen, die Flamme der revolutionären Hoffnung brennen zu lassen. Aber eine neue Akkumulation von Massenerfahrungen, von Teilsiegen und die Radikalisierung neuer Generationen werden erforderlich sein, damit die Bedingungen für einen neuen Sprung nach vorn im Aufbau von Vorhutorganisationen zusammen kommen, die sowohl revolutionär als auch internationalistisch sind. Die Krise der revolutionären Führung kann nicht mehr in derselben Weise aufgeworfen werden wie in den 30er Jahren. Ihre Lösung kann heute nicht auf die Ersetzung bankrotter Führungen beschränkt werden. Die notwendige Neuformierung wird nicht auf Änderungen des Kräfteverhältnisses im Rahmen der organisierten Arbeiterbewegung, so wie sie heute besteht, reduziert werden können. Sie wird eine fortschreitende Reorganisierung der verschiedenen sozialen Emanzipationsbewegungen auf internationaler Stufenleiter durchlaufen müssen. Es wird sich um einen langandauernden Prozeß handeln, den bestimmte große Ereignisse des weltweiten Klassenkampfs beschleunigen können.

2.

Jedenfalls beeinflussen diese allgemeinen Kennzeichen der Weltlage die verschiedenen nationalen Bedingungen in ungleicher Weise und kombinieren sich mit den jeweiligen strukturellen oder konjunkturellen lokalen Besonderheiten.

Gewiß ist, daß eine Welt ohne Massenkämpfe und ohne soziale Konfrontationen großen Ausmaßes eine Chimäre [ein Trugbild] darstellt. Die in vielerlei Hinsicht katastrophalen sozialen und ökologischen Auswirkungen der globalen Krise des Kapitalismus sowohl in den fortgeschrittenen als auch in den zurückgebliebenen Ländern, das Auftauchen neuer Generationen auf dem Feld der sozialen Kämpfe ebenso wie die Entstehung einer relativ jungen Arbeiterbewegung in den jüngst industrialisierten Ländern oder in Ländern mit teilweiser Industrialisierung, die furchtbaren Konsequenzen des Übergangs zur Marktwirtschaft für die Bevölkerung der poststalinistischen Gesellschaften ... dies alles sind Gründe für Kämpfe, die, weit davon entfernt, sich zu erschöpfen, vielmehr dabei sind, sich auszudehnen.

Der Zusammenbruch des stalinistischen Systems hat als positive Auswirkung gehabt, daß sektiererische Vorurteile, die uns gegenüber in den fortgeschrittenen Teilen der Arbeiterklasse, der Gewerkschaften und der politischen Kräfte bestanden, ernsthaft erschüttert worden sind. Der Triumphalismus des Kapitals bewirkte auch eine Ermutigung zur Vereinigung aller antikapitalistischen Kräfte, die sich jetzt ihrer Schwäche bewußt sind. Wir sind heute besser in der Lage, Beziehungen aktiver Solidarität und Einheit im Kampf aufzubauen mit Kräften, die noch vor kurzem bei der bloßen Vorstellung, mit uns zu sprechen, empört gewesen wären, insbesondere in den industrialisierten Ländern. Unser internationales Netzwerk liefert uns den Vorteil, einen entscheidenden Beitrag zur Zusammenführung der antikapitalistischen Kräfte leisten zu können -- insbesondere auf europäischer Ebene, wo die Notwendigkeit einer solchen Zusammenführung angesichts der stattfindenden kapitalistischen Vereinigung, bei all ihren Schwankungen, vollständig deutlich ist. Auf diesem Gebiet ist unsere Schwäche jedoch noch ein ernstliches Hindernis, und der sozialdemokratische Reformismus, der beim Aufbau des kapitalistischen Europa beteiligt ist, hat noch eine unvergleichlich größere Glaubwürdigkeit als wir, trotz seiner Probleme im Zusammenhang mit der Krise.

Im übrigen wird in dem Maße wie es seit dem Zusammenbruch der UdSSR keinen Staat mehr gibt, der mit einem Minimum an Glaubwürdigkeit als Hinterland oder großer Bruder der antiimperialistischen Bewegung präsentiert werden kann, die Debatte mit unseren revolutionären Dialogpartnern in den abhängigen Ländern erneuert und, so ist zu hoffen, gelassener geführt werden können: die Diskussion über einen neuen Internationalismus, der von allem bürokratischen oder paternalistischen Zugriff befreit ist. Wahr ist allerdings auch: Die Sozialdemokratie wird es nach Erfahrungen wie der Isolierung der nicaraguanischen Revolution oder dem Prozeß von Teilreformen auf dem Verhandlungsweg in Südafrika und angesichts des Würgegriffs um Kuba nicht versäumen, ihre diplomatischen Netze und ihre Stellung in nationalen und internationalen Institutionen in die Waagschale zu werfen, um die Traditionen militanter Solidarität zurückzudrängen.

Es handelt sich also darum, den folgenden Widerspruch zu ermessen: Die aktuelle Periode kombiniert eine Krise der internationalen Arbeiterbewegung, die neue Perspektiven der Debatte und mittelfristig politischer Neugruppierung eröffnet, mit einem sozialen und ideologischen Kräfteverhältnis, das z.Z. jede qualitative Überwindung der bisherigen Dimensionen im Aufbau der revolutionären Vorhut auf Weltebene verhindert. Dieser Widerspruch muß heute unsere Politik beim Aufbau der Internationale leiten.

3.

Viele Organisationen, die aus anderen Traditionen kommen als wir und ihre revolutionären Ziele beibehalten, sehen sich dazu gedrängt, im Licht der abschließenden Bilanz des Stalinismus und des Zusammenbruchs des sogenannten "sozialistischen Lagers" ihre geschichtlichen Orientierungspunkte zu revidieren. Obwohl wir unsererseits davon überzeugt sind, daß unsere Analyse des Stalinismus im wesentlichen der Überprüfung standgehalten hat, besser als jede andere Theorie, erkennen wir dennoch, daß die weltweiten politischen Umwälzungen auf dieser Ebene die Gesichtspunkte berührt haben, die in der Vergangenheit dazu dienten, die "trotzkistische" Strömung im Verhältnis zu anderen Strömungen der extremen Linken, von der wir ein Teil sind, historisch abzugrenzen.

So werden die Analyse der stalinistischen UdSSR, die Identifikation mit dem historischen Kampf der Linken Opposition in Rußland und mit dem Werdegang der IV. Internationale seit dem II. Weltkrieg nach und nach ihren richtungsscheidenden Charakter bei der Bildung revolutionärer Organisationen verlieren. Wenn es sich auch für uns immer noch um eine gewichtige politische Errungenschaft handelt, so verliert sie doch einen wichtigen Teil ihrer direkten und bestimmenden Relevanz für die zukünftigen Kämpfe, in dem Maße wie neue Generationen von Aktivistinnen und Aktivisten in einem radikal geänderten weltweiten Kontext entstehen. Dagegen drängen sich unsere Analyse des Stalinismus, der Bürokratie als sozialer Schicht mit spezifischen Interessen und unsere Konzeption der sozialistischen Demokratie als unumgängliche Elemente einer jeden umfassenden Reflexion über die Phänomene des Bürokratismus und der Stellvertreterpolitik auf, die stets gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen vor und/oder nach der Revolution zu überwuchern drohen. Dies ist von nun an ein entscheidender Punkt bei der Bildung revolutionärer Organisationen.

So kann diese oder jene Problemstellung, die in der Vergangenheit als singulärer Zug des "Trotzkismus" erscheinen konnte, in Zukunft völlig anders beurteilt werden. Bestimmte historische Bezugnahmen auf komplexe Fraktionierungen und Brüche innerhalb der kommunistischen Bewegung der 30er Jahre werden zugunsten eines größeren Gewichts der klassischen und grundlegenden Trennung zwischen "Revolutionären" und "Reformisten" oder sogar zwischen Sozialdemokraten und antikapitalistischen Kräften relativiert werden.

Dies führt tendenziell zu einer Änderung der Möglichkeit des Beitritts bestimmter Gruppen und Strömungen zur Internationale und ebenso der Bedingungen für ein langfristiges politisches und/oder organisatorisches Zusammengehen mit anderen Strömungen. Strömungen, Gruppen oder Fraktionen maoistischen, castristischen oder sogar neostalinistischen Ursprungs können sich in Richtung auf unsere Positionen bewegen. Wir können uns nunmehr leichter vorstellen, sie für unser Projekt und unser Programm zu gewinnen, was eine Verstärkung ihres Bruchs mit dem Stalinismus einschließt, ohne daß sie sich deshalb mit dem "Trotzkismus" identifizieren oder sich in dessen Kontinuität stellen. Dabei müssen wir jedoch bedenken, daß die aktuellen Veränderungen der weltpolitischen Lage zumeist keine Hinwendung zu revolutionäreren Positionen sondern eher Kapitulation und rasche Anpassung an die herrschenden bürgerliche Ideologie zur Folge haben.

Wir sollten ebenso die neuen politischen Themen aufgreifen, für die sich die junge Generation interessiert, die sich von nun an in einem "poststalinistischen" Kontext entwickeln wird, wobei neue ideologische Fragestellungen und Erfahrungen mit den traditionellen und durch die kapitalistische Krise wieder einmal bestätigten Lehren verknüpft werden müssen. Es handelt sich nicht einfach um ein Problem der "Pädagogik" gegenüber der kämpfenden Jugend, sondern viel tiefgehender um unsere Fähigkeit zur theoretischen Ausarbeitung, zur programmatischen Aktualisierung und zur Assimilierung der neuen politischen Erfahrungen, der originären Formen und Zielrichtungen von Kämpfen, der sozialökonomischen Wandlungsprozesse usw.

Wir hoffen, eine regelrechte Veränderung der IV. Internationale durchzuführen. Wir wollen die IV. Internationale voranbringen und dabei die Errungenschaften ihrer nahezu sechzigjährigen Existenz sorgfältig bewahren. Wir wollen uns zwar ändern, aber nicht so , wie es viele linke Organisationen in den letzten Jahren praktiziert haben , indem sie ihre Positionen immer rascher unter dem Druck der heftigen Offensive der Bourgeoisie aufgegeben haben. Wir wollen einen Vorteil bewahren und vertiefen, den uns unsere nichtsektiererische Haltung in den letzten Jahren in wachsendem Maße eingebracht hat: den, nicht mehr einfach als eine "trotzkistische" Gruppierung unter anderen wahrgenommen zu werden, sondern als ein Teil der weltweiten revolutionären Bewegung, der die internationalistische Solidarität und die Interessen des Kampfes gegen die Ausbeuter über jedes fraktionelle Kalkül und über jede ideologische Meinungsverschiedenheit stellt. Wir wollen in unseren Reihen revolutionär-marxistische Organisationen aufnehmen, die sich nicht notwendigerweise als "trotzkistisch" verstehen oder mit unserer Geschichte identifizieren, die aber aufgrund einer wirklichen programmatischen Annäherung zu uns kommen. Auf längere Sicht wollen wir uns als Anziehungspol für die internationale Formierung aller gesunden, kämpferischen, radikal-antikapitalistischen Avantgardekräfte bewähren, die im Verlauf der aktuellen Umwälzungen in der weltweiten Arbeiterbewegung standhalten oder sich in ihnen in originärer Weise erneuern.

4.

Die IV. Internationale ist heute immer noch die einzige organische internationale Gruppierung revolutionärer Kräfte, die eine allgemeine programmatische Orientierung gemeinsam haben. Diese Orientierung enthält die folgenden Elemente:

Diese programmatische Orientierung enthält ebenso viele Elemente, die aus den neuen Erfahrungen der revolutionären und Protestbewegungen der letzten drei Jahrzehnte stammen, wie aus früheren Perioden ererbte Elemente, den revolutionären Errungenschaften der III. Internationale und der trotzkistischen Strömung von 1925 bis 1940. Unsere politische Kohärenz hat sich in dieser Weise im Lauf der Jahre herausgebildet, indem ununterbrochen neue Errungenschaften integriert und alte neu bewertet wurden. Neue Fragen und neue Erfahrungen tauchen permanent auf und erfordern eine ständige Arbeit der Erfassung und Aufarbeitung. Nur so kann das revolutionär-marxistische Erbe vor Verknöcherung bewahrt werden und sich bereichern, um in der Massenaktion orientierend zu wirken.

5.

Auf der Basis dieser gemeinsamen programmatischen Orientierung wirken die revolutionären Organisationen, die heute Mitglieder der IV. Internationale sind, an ihrem Aufbau zusammen.

Unsere Internationale ist nach wie vor bescheiden in ihrer Dimension, gemessen an den Aufgaben, die sich der weltweiten revolutionären Bewegung stellen. Sie stellt trotzdem ein notwendiges und unersetzliches Instrument dafür dar, die politischen Erfahrungen sehr verschiedener nationaler Organisationen gemeinsam auszuwerten, deren Gewicht und Verankerung, zumal im Vergleich mit den übrigen revolutionären Kräften, nicht vernachlässigt werden können. Und diese Fähigkeit der Synthese ist einer der Daseinsgründe für eine Internationale. Sie ist eines der besten Gegenmittel gegen nationale Isolierung und die Theoretisierung nur örtlicher, nationaler Erfahrung. In diesem Sinne ist die Entscheidung, zum Aufbau der Internationale beizutragen, für die Organisationen, aus denen sie sich zusammensetzt, ein Kettenglied ihres eigenen "nationalen" Aufbaus und ein Mittel gegen den permanenten Druck, den das eigene nationale Milieu ausübt, und gegen die deformierte Sichtweise, die dadurch entstehen kann.

Sicherlich ist die Internationale nicht an sich eine ausreichende Garantie für eine korrekte Sicht der Weltlage und damit der in sie integrierten nationalen Situation. Der Irrtum kann auch kollektiv produziert werden, aber seine Wahrscheinlichkeit ist desto geringer, je verschiedener die Blickwinkel sind, aus denen die Diskussion geführt und zur Positionsbildung beigetragen wird. Ebenso erleichtert dies, sich des Irrtums bewußt zu werden und ihn zu korrigieren. In diesem Sinne ist die Internationale notwendig für ein ausgewogenes Verständnis der Weltrealität.

Nur ein organischer Rahmen mit geregelter Diskussion und Mitteln zur kollektiven Ausarbeitung bietet diesen Vorteil in vollem Maße, ungleich systematischer und umfassender als bilaterale Dialoge zwischen Organisationen. In einem solchen Prozeß bringen die Mitgliederorganisationen der Internationale insgesamt ebensoviel ein wie diese jeder einzelnen bringt.

6.

Um unsere Internationale zu stärken, müssen wir zunächst unsere Parteien in jedem Land stärken und ausbauen -- genauso wie in jedem Land der Aufbau der Internationale die Reorganisation der Arbeiterbewegung beinhaltet. Es gibt kein bestehendes Netz, auf das die revolutionären Gruppen so einfach zurückgreifen könnten.

Beide Internationalen mit Massencharakter sind in Perioden des Aufschwungs aufgebaut worden. Die sozialdemokratische II. Internationale hatte ihre Basis in dem Anstieg einer neuen, nach Millionen zählenden Arbeiterbewegung. Die Grundlage der III. Internationale war die Russische Revolution, die die Arbeiter der ganzen Welt in ihren Bann zog.

Die IV. Internationale erlebte einen solchen Aufschwung in den Jahren nach 1968, wenn auch in viel bescheidenerem Rahmen. Aber die Unterschiede waren beträchtlich. Der Aufschwung war bescheidener vor allem unter Arbeitern. Die Arbeiterbewegung hatte schon mehrere Spaltungen hinter sich, und die IV. Internationale erschien nur als eine von vielen möglichen Organisationsformen. Zudem ist es ein gewaltiger Unterschied, ob man eine internationale Organisation auf der Grundlage eines theoretischen Programms aufbauen will oder eine Organisation, deren Programm einer fortlaufenden Prüfung durch die Praxis unterzogen wird.

Der Aufbau einer stärkeren und breiteren Internationale erfordert heute verschiedene Formen von Vereinigungsbemühungen -- sowohl in den einzelnen Ländern als auch über die Grenzen hinaus. Wir unterscheiden drei Formen der Einheit:

a) Die Einheitsfront in den konkreten Kämpfen und in den Massenbewegungen

Dies war und bleibt die wichtigste Ebene der Einheit. Ob wir Gewerkschaftsarbeit machen oder eine Initiative gegen ein umweltschädliches Straßenbauprojekt gründen oder bei der Organisation einer Studentendemonstration helfen, streben wir die breiteste und konkreteste Einheit an.

Die grundlegende Frage lautet immer: Welches Mittel ist am besten geeignet, die Sache voranzutreiben. Statt die "revolutionärste" Plattform anzustreben, versuchen wir, Bewegungen aufzubauen, an denen die Arbeiter sich breit beteiligen, um ihre Interessen zu verteidigen. An diesen Kämpfen beteiligen wir uns als Partei und IV. Internationale, bewahren aber Zurückhaltung und Respekt für diejenigen, die an unserer Seite kämpfen, statt sie in sektiererischer Weise zu manipulieren. Dies Streben nach Einheit ist die wichtigste Richtschnur unserer täglichen Arbeit usw. -- auch wenn dadurch unser Ziel des Parteiaufbaus Einschränkungen erfährt. Denn unsere Aufgabe liegt heute darin, die Arbeiterbewegung wieder zu organisieren und aufzubauen, was nur geschehen kann, wenn diese Bewegung in den Kämpfen von heute und morgen geschmiedet wird.

b) Die Einheit mit anderen revolutionären Organisationen

Die IV. Internationale hat nie das Monopol revolutionären Denkens und Handelns beansprucht. Es gibt weltweit andere revolutionäre Organisationen; einige von ihnen führen heroische Kämpfe, die wir voll und ganz unterstützen. Tatsache ist, daß vorläufig keine Organisation von einiger Bedeutung zugleich in Theorie und Praxis die Gesamtheit des oben angeführten programmatischen Rahmens mit uns teilt.

Gleichwohl teilen einige Organisationen mit uns fast alle diese Überzeugungen mit Ausnahme nur eines Punktes oder sogar nur einer Nuance (in der Regel in Zusammenhang mit dem nationalen oder internationalen Organisationsverständnis). Wir versuchen, mit diesen Organisationen generell -- abgesehen von den ultrasektiererischen Exemplaren -- freundschaftliche und solidarische Beziehungen zu unterhalten. Daß sie sich nicht unserer Internationale anschließen, mag daher kommen, daß sie aus einer anderen politischen Tradition als der des Trotzkismus stammen, aus einer anderen geschichtlichen Entwicklungslinie, aus anderen Erfahrungen ... Wenn das die einzige Scheidelinie ist, so besteht angesichts der aktuellen politischen Umwälzungen für uns kein Zweifel daran, daß mit ihnen auf die Vereinigung unserer Kräfte hingearbeitet werden muß.

Nichts könnte heute die Aufrechterhaltung einer organisatorischen Trennung allein auf der Grundlage der Erklärungsmuster für die Entartung der Sowjetunion und für das daraus entstandene Phänomen des Stalinismus rechtfertigen -- d.h., wenn die Differenzen und der Streit über die Interpretation der Geschichte nicht tatsächlich widersprüchliche programmatische Orientierungen für die gegenwärtigen Kämpfe verbergen (z.B. die Haltung zu der laufenden Privatisierungswelle in den poststalinistischen Gesellschaften). Jedes Herangehen, das die Übereinstimmung in der Analyse zur Vorbedingung für die organisatorische Annäherung macht, ohne aufzuzeigen, daß sich aus den theoretischen Differenzen wichtige politische Konsequenzen ergeben, beruht auf einem dogmatischen, sektiererischen und monolithischen Organisationsverständnis, was oft verbunden ist mit einem wenig demokratischen internen Funktionieren und mit manipulativen Praktiken.

Politische Annäherung über die Schlüsselfragen der konkreten Kämpfe und über die pluralistische und demokratische Konzeption der aufzubauenden revolutionären Partei ist in unseren Augen viel wichtiger als die abstrakte Übereinstimmung in einem theoretischen Gesamtprogramm. In diesem Sinne sehen wir uns nicht als Teil einer sogenannten internationalen "trotzkistischen Bewegung" als besonderer Einheit aller Organisationen, die sich dieses Etikett aufkleben. Deshalb sehen wir ganz gewiß die "Wiedervereinigung der trotzkistischen Bewegung" allein auf Grundlage der gemeinsamen ideologischen Bezüge nicht als unsere vorrangige Aufgabe an, sondern wir ordnen unsere Beziehungen zu den anderen sich auf den Trotzkismus berufenden Organisationen den allgemeinen Gesichtspunkten unter, die wir hier dargelegt haben.

Im vergangenen Jahrzehnt gab es allerdings nur wenige Beispiele erfolgreicher Vereinigungsprozesse mit anderen revolutionären Organisationen. Es ist kein Zufall, daß unsere Erfahrungen mit dem Zusammenschluß mit anderen, viel breiteren und massenhaften klassenkämpferischen Kräften bis heute positiver ausgefallen sind. Kleine und mitgliederschwache Organisationen, die einfach zuwenig Gelegenheit haben, gemeinsame Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung ihrer politischen Linie zu machen, unterliegen einem ungleich größerem Druck.

Ganz generell gehen wir davon aus, daß Zusammenschlüsse mit anderen kleinen linken Kräften momentan besonders sorgfältig angegangen werden müssen. In einer Zeit des Niedergangs und der Abwehrkämpfe wiegen Differenzen schwer, wie z.B. historische Bezüge, Organisationskultur und spezifische Terminologie, was wir gerne hinter uns ließen. Die Geschichte zeigt, daß derlei viel leichter in Aufschwungsphasen überwunden werden kann und muß, wenn nämlich die Organisationen durch die zwingende Notwendigkeit, auf Probleme des Klassenkampfs eine Antwort zu finden und zusammenzuarbeiten, zusammengeschweißt werden.

Daß wir soweit noch nicht sind, darf natürlich nicht als Entschuldigung für sektiererisches Verhalten gelten. Man begreift aber leichter, daß Parteien keine bewegungsoptimierten Roboter sind, sondern Lebewesen, deren Zusammenhalt auf "subjektiven" Faktoren beruht, wie Stolz, Eigenliebe, gemeinsame Erfahrung und Gewohnheiten. In einer Periode wie dieser, wo sich unsere Feinde stark in der Offensive befinden, müssen wir das Risiko abwägen, all dies zu verlieren.

c) Breiterer Zusammenschluß mit anderen linken Kräften

Diese Art der Zusammenarbeit soll nicht unsere Arbeit in den Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, studentischen Organisationen, Frauenbewegungen etc. ersetzen. Der breite Zusammenschluß mit anderen linken Kräften kann verschiedene Ziele haben. Einerseits treten wir mit Mitgliedern anderer Organisationen in Kontakt und machen mit ihnen gemeinsame Erfahrungen. Andererseits verschaffen wir uns gemeinsam mehr Gehör in der Gesellschaft und werden glaubwürdiger und einflußreicher. Selbst wo unsere Kräfte zahlenmäßig begrenzt sind, erzeugt die Krise der Arbeiterbewegung, der anderen sozialen Bewegungen und der traditionellen Führungen unter bestimmten Bedingungen -- wenn nämlich der nach wie vor bedeutende Widerstand in der Gesellschaft nach einer politischen Lösung drängt -- eine Situation, in der spontane Möglichkeiten entstehen, die Kräfte zu vereinen, um gemeinsam Einfluß auf das politische Geschehen zu nehmen und sich als Wortführer der Strategiedebatte in der Arbeiter- und linken Bewegung durchzusetzen.

Unter welchen Umständen solche Zusammenschlüsse möglich sind, läßt sich natürlich nicht im voraus sagen, ebensowenig ihr Umfang, ihr politisches Programm und ihre Organisationsformen. Dies hängt von den nationalen, ja sogar regionalen und lokalen Gegebenheiten ab. Denkbar sind entweder neue politische Bewegungen, die die antikapitalistischen Vorhutkräfte in einem nicht parteigebundenen Rahmen zusammenschließen, oder gemeinsame Listen bei Wahlen, die in eine Zusammenarbeit über die Wahlen hinaus übergehen, oder aber der Eintritt in eine der Parteien, die aus der Krise der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind und weiter Masseneinfluß haben und in der Praxis eine Widerstandslinie gegen die neoliberale Politik entwickeln. So oder so geht es darum, eine Idee von der Wiederzusammensetzung der Linken und der Arbeiterbewegung zu entwickeln und sie als einen dynamischen Prozeß zu sehen, in dem nicht nur organisierte Kräfte politisch eingreifen, sondern auch Individuen (Gewerkschafter, Feministinnen, Intellektuelle, Sozialarbeiter etc.). Die IV. Internationale bemüht sich, wann immer wir es für möglich halten, Verbindungen zwischen den radikalen Kräften anhand konkreter Aufgaben zu knüpfen, solche Initiativen für die Einheit zu ergreifen und auf Initiativen anderer zustimmend zu reagieren.

Auf internationaler Ebene beteiligen wir uns an allen Foren, die sich zum Ziel setzen, den linken politischen Kräften eine Debatte zu ermöglichen, auch wenn längst nicht alle involvierten Kräfte antikapitalistisch und antiimperialistisch sind. Dies trifft z.B. auf die Versammlungen der lateinamerikanischen Linken zu. Ebenso kann dies morgen für europäische, afrikanische oder andere Treffen gelten. Diese zwar sehr heterogen zusammengesetzten Treffen sind nützliche Zwischenschritte auf dem Weg der Neubestimmung der revolutionären Kräfte in der jetzigen Periode. Wir können auch selbst solche Treffen in Regionen wie Osteuropa, dem indischen Subkontinent, Schwarzafrika oder der arabischen Region initiieren. Aber wenn wir dies tun, legen wir den Schwerpunkt immer auf die Annäherung an Kräfte und Tendenzen, die das gleiche Ziel verfolgen. Es ist wichtig, bei solchen Kampagnen und Versammlungen klare und deutliche Ziele zu haben. Genauso entscheidend ist, daß die Initiativen in demokratischer Weise und nicht von oben nach unten organisiert werden.

7.

Können diese verschiedenen Formen von Vereinigungsarbeit zur Bildung einer neuen und breiteren Internationale führen?

Die aufeinander folgenden Internationalen entsprachen jedesmal neuen Aufgaben, die mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen großer Tragweite verbunden waren. Nun ist das wenigste, was von der seit 1989 laufenden Umwälzung der Weltlage gesagt werden kann, daß sie den Rahmen für die Probleme der Revolution zutiefst verändert hat, womit auch neues Licht auf die früheren Differenzen geworfen wird. Man muß also zuerst diese Veränderungen ermessen und sich zugleich über die allgemeinen Schlußfolgerungen daraus und über ihre Konsequenzen für das revolutionäre Handeln verständigen. Man muß auch die politischen Übereinstimmungen, die sich aus der Reaktion auf die Ereignisse ergeben können, in der Aktion testen. So wird es in einer gewissen Zeit vielleicht möglich sein, die Aufgaben und die Form einer neuen Internationale zu definieren, die qualitativ breiter wäre als unsere heutige.

Zur Stunde wäre eine Weltkonferenz der revolutionären Kräfte ohne konkretes Ziel -- wie es etwa die Solidarität mit einer gefährdeten Revolution wäre -- ein Treffen der Mißklänge ohne Zukunft. Damit dies anders wäre, müßten die Beteiligten über ein Minimum an programmatischer und politischer Homogenität verfügen und wirklich durch das Streben nach einem gemeinsamen organisatorischen Ziel motiviert sein. Darüber hinaus müßte man sich zuvor, um alle in Frage kommenden Kräfte ohne Diskriminierung der mittellosesten zu versammeln, über die gerechte Aufteilung der finanziellen Belastung, die eine solche Konferenz darstellen würde, einigen, was keine Kleinigkeit ist.

Nun ist die heute real existierende weltweite revolutionäre Bewegung das Produkt von Jahrzehnten, die vom Stalinismus und seiner Zersetzung geprägt wurden. Sie ist viel weniger homogen als etwa die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Konferenzen von Kienthal und Zimmerwald während des I. Weltkriegs sein konnten, die alle aus der II. Internationale und ihrer Tradition kamen. Es wird also noch ein langer Entwicklungsprozeß nötig sein, mit gemeinsamen Debatten und Erfahrungen, der es erlauben wird, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, bevor die Bedingungen für jenes breite Zusammengehen der revolutionären Kräfte gereift sind, das wir uns intensiv wünschen.

Heute, und in dieser historischen Optik, verpflichten wir uns, jedesmal selbst initiativ zu werden und auf die Initiativen anderer positiv einzugehen, wenn es uns möglich scheint, damit anhand konkreter Aufgabenstellungen Brücken zwischen revolutionären Kräften zu schlagen und die Debatte zwischen ihnen voranzubringen. Dies kann ebenso neue Kräfte betreffen wie revolutionäre Organisationen verschiedener Herkunft, sie sich unter dem Einfluß der aktuellen Weltereignisse weiterentwickeln. Dies betrifft ebenso eine starke Kraft wie die PT Brasiliens wie keimhafte Strömungen wie die sozialistische radikale Linke in Osteuropa oder in der Ex-UdSSR. Dies kann sich zuerst in politischen Kampagnen oder in gemeinsamen öffentlichen Foren ausdrücken. Dies kann die Form von regionalen Begegnungen, von Vereinigungen auf nationaler Ebene oder von enger bilateraler oder multilateraler Zusammenarbeit annehmen. Wir haben auch deswegen unsere internationale Kaderschule regelmäßig für andere Kräfte der revolutionären Bewegung geöffnet.

8.

So gibt es zwischen dem Aufbau unserer eigenen Strömung, der IV. Internationale, und dem Handeln für die mittelfristige Realisierung eines breiten internationalen Zusammenschlusses der revolutionären Kräfte nicht nur keinen Widerspruch, sondern beides ergänzt sich sogar, und dies ist in unseren Augen wesentlich. Wir lehnen jede sektiererische Auffassung unseres eigenen Aufbaus ab, ebenso wie wir jede monolithische, nichtpluralistische Konzeption des aufzubauenden internationalen Zusammenschlusses ablehnen, egal ob es sich um ein einfaches Forum oder sogar um eine neue Internationale handelt.

Wir anerkennen und verteidigen das Tendenzrecht auf beiden Ebenen, der nationalen und der internationalen. Nun ist die Heterogenität der weltweiten revolutionären Bewegung derart, daß je breiter ein internationaler Zusammenschluß unter den heutigen Bedingungen sein wird, wir uns desto wahrscheinlicher dazu gedrängt sehen werden, uns in ihm als internationale Strömung aufrechtzuerhalten -- was letzten Endes von unserer Beurteilung der gemeinsamen Plattform des Zusammenschlusses und der Wichtigkeit unserer besonderen Positionen gegenüber denen der Partnerströmungen abhängen würde.

In jedem Fall wäre eine Diskussion darüber völlig verfrüht. Wesentlich ist heute, sich zuerst über das grundsätzliche Ziel eines weltweiten revolutionären Zusammenschlusses auf Grundlage eines demokratischen Pluralismus zu verständigen. Wenn es heute möglich ist, in dieser oder jener nationalen Situation auf dem Weg zur Einheit der revolutionären Bewegung voranzukommen, so ist dieser Prozeß international derart ungleich, daß der weltweite Zusammenschluß der Revolutionäre für die kommenden Jahre leider nicht auf der Tagesordnung steht. Dies darf uns natürlich nicht daran hindern, unsere Anstrengungen in diese Richtung zu entfalten. Aber man sollte nicht das, was in diesem oder jenem Land möglich ist, mit dem verwechseln, was über die Grenzen der Staaten und Kontinente hinweg möglich ist: Es gibt zwischen beiden Ebenen einen offensichtlichen qualitativen Unterschied, eine wesentliche Diskontinuität, die in beide Richtungen wirkt.

Zusammengefaßt handelt es sich für uns darum, stets zwei Arten von Irrtümern zu vermeiden:

Darüber hinaus beschränkt sich unsere Ablehnung des Monolithismus nicht auf die Verteidigung des Tendenzrechts. In einem weiteren Sinne beinhaltet Pluralismus auch neue Methoden des Funktionierens, die nicht bloß aus statuarischen Rechten bestehen. Fragen, die von den Versuchen aufgeworfen wurden, unsere Organisationen zu feminisieren (ungeachtet des Ausmaßes des Erfolgs in jedem einzelnen Fall), stellen ein Mittel dar, auf die Verschiedenartigkeit der Erfahrung zu antworten. Die Betonung der Feminisierung ist niemals nur eine Triebfeder, die Statistik der Organisation in bezug auf die Frauen zu verbessern. Wir haben gelernt, neue Traditionen und Methoden des internen Funktionierens einzuführen, die die Beiträge aller Mitglieder und ihrer Erfahrungen in den verschiedenen Bereichen bewerten und in einer einzigen Organisation integrieren, die von den Modellen früherer Generationen abweicht.

Unser Verständnis von Pluralismus in diesem breiten Sinne weiter zu bereichern wird von entscheidender Bedeutung sein für die dringende Aufgabe der Verjüngung unserer Reihen. Angesichts der objektiven Situation und des vorherrschenden Fehlens eines Glaubens an das sozialistische Ziel haben junge Aktivisten recht, wenn sie den demokratischen und antibürokratischen Charakter einer revolutionären Organisation nicht allein auf der Grundlage des Tendenzrechts beurteilen. Dieses wird als ein integraler und notwendiger, aber nicht ausreichender Bestandteil einer modernen Konzeption von Organisationsdemokratie und Pluralismus betrachtet.

9.

Der für unseren Aufbau wesentliche Zug der aktuellen Weltkonjunktur kann nicht in der Schwächung der unmittelbaren revolutionären Perspektiven bestehen, so real und unleugbar dies sein mag. Diese Perspektiven sind schon von der Definition her sehr variabel, da sie größtenteils wechselhaften politischen Phänomenen unterliegen. Dagegen wirkt auf die allgemeine weltweite Neuformierung der Linken ein struktureller Faktor mit ungleich größerem Gewicht. In diesem Sinne ist der Zusammenbruch des Stalinismus, und zwar unabhängig von der dominierenden Tendenz, die dem unmittelbar gefolgt sein mag, in erster Linie die Freisetzung eines immensen Klassenpotentials, das lange Zeit von den -- herrschenden oder in Opposition stehenden -- stalinistischen Bürokratien in Fesseln gehalten worden war. Dieser Zusammenbruch machte auch den von den Stalinisten propagierten antitrotzkistischen Vorurteilen ein Ende.

Ein reales, wenn auch bescheidenes Wachstum unserer Bewegung bleibt also möglich, sowohl in Ländern, in denen die Internationale in der Vergangenheit nicht handeln konnte, als auch in Ländern, in denen unsere Sektionen mehr Glaubwürdigkeit und Integration in die Vorhut und in die Massenbewegung erringen können, trotz der aktuellen Schwierigkeiten, Mitglieder zu gewinnen.

In den Fällen , wo wir uns mit anderen Kräften für den Aufbau einer gemeinsamen Partei vereinigen -- im Gegensatz zur rein "entristischen" Intervention in reformistischen Massenparteien -- engagieren wir uns dauerhaft beim Aufbau der gemeinsamen Organisation auf der Grundlage realer praktischer Erfahrung. Es ist aber für den guten Gang des Prozesses unabdingbar, daß wir über die Mittel dazu verfügen, die Entwicklung der politischen und strategischen Übereinkünfte mit unseren Partnern zu überprüfen. Darum fordern wir für unsere Anhänger das Recht, sich untereinander zu beraten und ihre Zugehörigkeit zur IV. Internationale zu bewahren, in Formen, über die sicherlich verhandelt werden kann, die aber die volle Teilnahme am Leben der Internationale erlauben; dies in aller Loyalität gegenüber der gemeinsamen Organisation auf nationaler Ebene und der ihr eigenen Disziplin. Nur politische Homogenisierung höchsten Grades -- der oben aufgeführten Plattform, für die wir stets unermüdlich kämpfen werden -- könnte die völlige Aufgabe unserer besonderen Existenz im Rahmen einer gemeinsamen Organisation rechtfertigen. Aber in einem solchen Falle sollte die gemeinsame Organisation nahe mit unserer Internationale verbunden sein, wenn nicht gar ihr beitreten. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, ist eine frühzeitige Selbstauflösung stets sehr risikoreich und ein gefährliches Va-banque-Spiel. Das Scheitern des Experiments unserer Genossen im Spanischen Staat legt darüber Zeugnis ab.

Wir müssen zugleich unsere Partner davon überzeugen, daß die beibehaltene Mitgliedschaft in der Internationale keine Quelle von Spannungen in der gemeinsamen Organisation sein sollte, sondern vielmehr eine Bedingung für gesunde und offene Beziehungen ist. Wir sollten sie davon überzeugen können, daß unsere Zugehörigkeit zur Internationale nicht durch Dogmatismus oder Sektierertum motiviert ist, sondern daß es sich für uns um ein unerläßliches Kettenglied unseres allgemeinen revolutionär-sozialistischen Projekts handelt und daß es für uns nicht in Frage kommt, davon abzurücken. Man kann nicht von uns verlangen, dieses Kettenglied im Namen einer Fusion aus der Hand zu geben, ohne das unantastbare Prinzip des demokratischen Pluralismus im Rahmen der vereinigten revolutionären Organisation zu gefährden.

Der Beweis für unsere Loyalität und unsere revolutionäre Offenheit besteht darin, daß wir gerade auf die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen der gemeinsamen Organisation und unserer Internationale hinarbeiten. Vor allem zu diesem Zweck laden wir unsere Partnerströmungen in den gemeinsamen Organisationen dazu ein, als Beobachter an unseren internationalen Versammlungen teilzunehmen. Und es kommt der Internationale in ihrer Gesamtheit zu, ihre Nützlichkeit für die gemeinsame Organisation zu zeigen und sie davon zu überzeugen, daß die Teilnahme von Mitgliedern der IV. Internationale an einer nationalen Organisation ein "Plus" darstellt und keine Belastung.

Sicher unterscheidet sich jeder nationale Fall von den übrigen. Die politischen Bedingungen, unter denen sich lokale Umgruppierungen vollziehen, sind jedesmal unterschiedlich. Der programmatische, politische und organisatorische Prozeß ist somit immer spezifisch. Es geht also keineswegs darum, eine allgemeine Theorie der Umgruppierungen und Vereinigungen auszuarbeiten. Die gegebene internationale Situation begünstigt im übrigen nicht die Homogenität nationaler Umgruppierungsprozesse (dies wäre zum Beispiel anders, wenn der Aufbau einer neuen Internationale sich an einer siegreichen Revolution in einem großen Land orientieren könnte, wie dies für den historischen Präzedenzfall der III. Internationale galt).

10.

Sicher, die ganze oben angeführte Argumentation ist nur gültig und glaubwürdig, wenn sie mit unserer eigenen Konzeption der IV. Internationale, wie sie im Lauf der Jahre durch Erfahrungen und Irrtümer geprägt wurde, in Zusammenhang gebracht wird.

Insbesondere haben wir auf unserem XII. Weltkongreß erneut die Idee einer Internationale zurückgewiesen, bei der über die nationale Linie des Parteiaufbaus zentral entschieden wird und bei der die Sektionen global oder in Weltregionen dieselbe Orientierung umsetzen müßten. Wir haben den zu anderen Zeiten entstandenen Anspruch verworfen, die "Weltpartei der Revolution" zu sein, zugunsten eines viel nüchterneren Selbstverständnisses als minderheitliche, aber dennoch spezifische und unverzichtbare Strömung der weltweiten revolutionären Bewegung; als flexibel funktionierender, demokratischer und pluralistischer Rahmen für die gemeinsame Reflexion und die politische und aktionsbezogene Koordination nationaler Organisationen.

Die IV. Internationale besteht nicht aus lokalen Agenturen, die einem "Zentrum" untergeordnet wären. Ihre nationalen Organisationen sind in der Realität der Klassenkämpfe ihrer jeweiligen Länder verankert und bauen gleichzeitig zusammen die Internationale auf, auch indem sie dafür personelle und finanzielle Mittel einbringen. Der internationale demokratische Zentralismus kopiert nicht den demokratischen Zentralismus einer nationalen Organisation -- er kann dies nicht, ohne in bürokratischen Zentralismus zu verfallen. Die Sektionen der IV. Internationale sind nicht verpflichtet, die in der Internationale mehrheitlichen politischen Optionen zu verteidigen; sie tun es aus freier Entscheidung. Dies wird nicht mit disziplinarischen Maßnahmen durchgesetzt, und die Sektionen können ihre eigenen Positionen, auch wenn sie minderheitlich sind, öffentlich zum Ausdruck bringen, allerdings unter der Bedingung, nicht den antikapitalistischen und antiimperialistischen Konsens zu verlassen, was einem Bruch mit der Internationale gleichkäme.

Wir praktizieren faktisch in unseren Reihen schon lange den Pluralismus, den wir als integralen Bestandteil des für die heutige Zeit geltenden revolutionären Programms betrachten. Weit davon entfernt, für uns ein Handicap darzustellen, ist die demokratische Vielfalt der Standpunkte in der IV. Internationale sogar eines unserer wichtigsten Argumente. Diese Pluralität findet im Rahmen eines strategischen Zusammengehens statt, das sich ganz natürlich aus unserer gemeinsamen programmatischen Orientierung ergibt und in den Reaktionen unserer Sektionen auf die verschiedenen großen weltpolitischen Ereignisse zum Ausdruck kommt, die im wesentlichen identisch sind und oft ohne vorherige Beratung zustande kommen.

11.

Wenn auch die zentralistische Konzeption der Internationale, selbst die der Komintern der ersten Jahre, in der heutigen Zeit aufgegeben werden muß, kann revolutionärer Internationalismus deshalb doch nicht darauf reduziert werden, einfach nur Netzwerke der Solidarität und des Meinungsaustauschs zu fördern. Die Grundlage des Internationalismus war immer und ist mehr denn je die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse aller Länder, sich zu vereinigen, um sich gemeinsam dem Kapital entgegenzustellen, das immer konkreter auf Weltebene existiert. Dies wird noch deutlicher in einer Zeit, in der die vom Imperialismus beherrschten internationalen Institutionen -- politische wie die UNO oder ökonomische wie der IWF -- so aktiv wie nie zuvor sind; in einer Zeit, in der kapitalistische Institutionen in großen Weltregionen etabliert werden wie beim Europa von Maastricht oder im Falle von NAFTA.

In der heutigen Periode und angesichts der geschichtlichen Erfahrungen bedarf es nicht geringerer internationalistischer Praxis oder der einfachen Konservierung dessen, was davon bis heute gewahrt worden ist, sondern gebraucht wird mehr Internationalismus, mehr politische und organisatorische Koordination, mehr von revolutionären Organisationen über die Staatsgrenzen hinweg gemeinsam konzipierte und organisierte Aktivitäten. Diese Notwendigkeit stellt sich noch dringlicher und schärfer aufgrund des verheerenden Aufschwungs enger Nationalismen und ethnischer Partikularismen und den haarsträubenden sinnlosen Massakern und Zerstörungen, die dadurch hervorgerufen werden. Internationalismus ist heute -- einmal mehr in diesem Jahrhundert -- die direkte Antithese zur Barbarei. Nun kann sich allerdings ein angemessenes internationalistisches Bewußtsein nicht voll entfalten ohne eine entsprechende politisch-organisatorische Praxis, ohne die Teilnahme am Aufbau einer internationalen Organisation zugleich mit dem Aufbau nationaler Organisationen.

Die Internationale, die aufgebaut werden soll, muß folgendes sein:

Der von der weltweiten revolutionären Bewegung aufgehäufte Rückstand ist enorm. Es ist leider nicht die Revolution, die heute am meisten voranschreitet, sondern der rechte Extremismus, der überall in der Welt in dieser neuen und schrecklichen Epoche des kapitalistischen Niedergangs auftaucht. Es wäre kriminell, sich unter dem Vorwand der nationalen Besonderheiten für alle oben genannten Aufgaben auf die Spontaneität oder die bloße Solidarität zu verlassen. Es muß bewußt daran gearbeitet werden, und um dies zu erreichen, ist eine internationale Organisation erforderlich.

12.

Deshalb muß die Aufgabe des Aufbaus der IV. Internationale, der einzigen "real existierenden", unermüdlich weiterverfolgt werden, unabhängig von den aktuellen Möglichkeiten für Zusammenschlüsse ("Umgruppierungen") in bestimmten Ländern und unabhängig von der mit unseren Partnerströmungen notwendigen Debatte über ein internationales Zusammenwirken bzw. weitergehend über den Aufbau einer neuen Internationale. Die begonnenen Anstrengungen zur Verbesserung ihres internen Funktionierens und der Verläßlichkeit ihrer Strukturen und Institutionen müssen ebenfalls fortgeführt werden.

Wir müssen auch die Bemühungen fortsetzen, beim Aufbau neuer, mit unserer Internationale verbundener Organisationen in den Ländern zu helfen, wo es uns nicht gibt und wo die Bildung solcher unabhängiger Organisationen für den revolutionären Kampf ein Schritt vorwärts wäre. Es ist angebracht, an dieser Stelle an das zu erinnern, was die oben erwähnte Resolution von 1991 darlegt:

"... die Entscheidung für den Aufbau einer erklärten Sektion als sofort zu realisierendes Ziel in einem gegebenen Land ist kein zeitloses dogmatisches Prinzip. Das wäre die Methode von Sekten, die die Sektionen als 'lokale Agenturen' eines Weltzentrums betrachten (das faktisch häufig von einer allmächtigen nationalen Führung gebildet wird). Für uns bestimmen sich die Sektionen zuallererst im Zusammenhang mit den revolutionären Aufgaben in ihrem jeweiligen Land; sie entwickeln sich in bezug auf ihre Aufgaben. Außer der Frage der Wahl zwischen einem unabhängigen Aufbau und dem Aufbau als Strömung in einer größeren Partei, wenn dies in offener Weise möglich ist, stellt sich in bestimmten Ländern auch das Problem der Einschätzung einer real existierenden revolutionären Organisation: Befindet sie sich auf einer Entwicklungslinie, die mit den revolutionären Aufgaben in ihrem Land übereinstimmt und konvergiert sie daher mit unserer eigenen Aufgabenstellung? Oder befindet sie sich auf dem Weg der Entartung? Und wenn, ist dabei schon der Punkt erreicht, von dem aus es kein Zurück mehr gibt?"

"So gibt es keinen Automatismus bei der Entscheidung für den kurzfristigen oder mittelfristigen Aufbau einer Sektion in jedem Land. Wenn aber gegen einen solchen Aufbau entschieden wird, so muß dies notwendigerweise von einer Anstrengung begleitet sein, in dem betreffenden Land und insbesondere unter den dortigen revolutionären Genossinnen und Genossen unsere programmatischen Errungenschaften und unsere Veröffentlichungen mit dem Ziel zu verbreiten, die größtmögliche Zahl von Menschen von unseren Ideen zu überzeugen. Ebenso muß die Internationale mit den in einer Reihe von Ländern existierenden revolutionären Organisationen Beziehungen der Zusammenarbeit und des Vertrauens entwickeln, die dabei helfen können, sie für die Perspektive des Wiederaufbaus einer revolutionären Masseninternationale zu gewinnen."

Es kann in der Tat unendlich viel positiver für die Zukunft der revolutionären Bewegung und für die positive Veränderung unserer eigenen Internationale sein, sich mit den bereits über eine reale soziale Verankerung verfügenden revolutionären oder radikalen Strömungen in der Weise zu verbinden, daß wir ihnen helfen, daß wir von ihnen lernen und daß wir schließlich mit ihnen den gemeinsamen Aufbau einer revolutionären Organisation in Angriff nehmen -- als sich mit dem Aufpflanzen einer Fahne auf einem Boden zu beeilen, der sich als unfruchtbares Fleckchen Erde erweisen kann.

13.

Die organisatorischen Herausforderungen dieser Zeit großer politischer Umgruppierungen werfen zugleich einen anderen Aspekt auf: Den Aufgaben theoretischer und programmatischer Ausarbeitung kommt heute eine besondere Bedeutung zu. Diese Aufgaben leiten sich aus unserer Auffassung eines offenen und kritischen Marxismus ab, aus der Überzeugung, daß wir nicht auf alles eine Antwort wissen und daß eine Überprüfung alter Konzepte nötig ist. Die Dokumente, die wir zur Frauenunterdrückung (1979) und zur sozialistischen Demokratie (1985) erarbeitet haben, bezeugen ebenso wie unser Manifest (1992) den Willen zur programmatischen Aktualisierung. Der Text über sozialistische Ökologie, der noch in Arbeit ist, wird ebenfalls diese Rolle spielen.

Die sehr zahlreichen -- und oftmals sehr komplexen -- Fragestellungen, die durch die Weltentwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte aufgeworfen wurden, stellen für den Marxismus ebenso viele offene theoretische Arbeitsfelder dar. Wir müssen mit aller Energie zu diesen Forschungen und zum Bemühen um programmatische Aktualisierung beitragen. Diese Anstrengungen werden um so eher Früchte tragen, je mehr sie kollektiv getragen werden. Kollektiv innerhalb unserer eigenen Reihen, was weder selbstverständlich ist noch automatisch läuft; aber auch kollektiv mit unseren Partnerinnen und Partnern der weltweiten revolutionären Bewegung und mit den uns besonders nahestehenden Partnerströmungen im Bereich der marxistisch orientierten Forschung. Unser Internationales Schulungs- und Forschungszentrum ist aufgrund der verschiedenen von ihm organisierten Arbeitstreffen und Seminare (zu Frauen, Ökonomie...) bereits in bescheidener, aber zuverlässiger Weise der Ort einer solchen im Doppelsinne kollektiven Anstrengung. Unsere theoretischen Zeitschriften sollen ebenfalls hierzu beitragen.

Wir müssen beweisen, daß eine Internationale auch auf diesem Feld ein unersetzliches Werkzeug ist.

14.

Die Glaubwürdigkeit eines neuen internationalen sozialistischen Projekts in der heutigen Welt wird weitgehend davon abhängen, ob in den wichtigsten imperialistischen Ländern das Potential für ein Wiederaufflammen antikapitalistischer Massenkämpfe und für die organisatorische Wiederbelebung eines gegen das Kapital und seinen Staat gerichteten revolutionären sozialen und politischen Projekts nachgewiesen werden kann. Die Länder der "Metropole" bleiben das entscheidende Kettenglied für jede weltweite antikapitalistische Strategie. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, das dort entsteht, ist von herausragender Bedeutung für den Ausgang der Kämpfe in aller Welt. Der einzige Verbündete, der in der Lage wäre, die Handlungsfähigkeit der imperialistischen Mächte zu untergraben oder zu paralysieren, an den die Kämpfenden in den abhängigen Ländern sich noch wenden können, ist die Massenbewegung in den imperialistischen Ländern. Der Golfkrieg war ein schlagender und tragischer Beweis dafür.

Damit die Internationale als Bezugspol wahrgenommen werden kann, muß sie sich als glaubwürdige politische Kraft in den wichtigsten imperialistischen Ländern behaupten. Aber gegenwärtig sind die Organisationen der Internationale dort sehr geschwächt, und dies ist nicht ohne Zusammenhang mit den in diesen Ländern seit einem Jahrzehnt wahrzunehmenden gesellschaftspolitischen Veränderungen. In Deutschland, in Japan und in den USA sind unsere Sektionen sehr schwach und gespalten. In Britannien haben uns zwei andere revolutionäre Organisationen, die sich uns gegenüber seit jeher sektiererisch verhalten, bei weitem überholt. Selbst in Frankreich ist unsere Organisation während der 80er Jahre schwächer geworden, und sie leidet unter inneren Spaltungen.

Diese Tendenz umzukehren, ist dringlich und vorrangig. Diesem Problem muß große Aufmerksamkeit gewidmet werden, denn man kann in der heutigen Welt nicht behaupten, als Internationale zu existieren, ohne reelle Präsenz in den wichtigsten industrialisierten Ländern. Unsere Organisationen in den abhängigen Ländern würden selbst sehr schnell davon betroffen sein, angesichts der Nützlichkeit dessen, was unsere Sektionen in den imperialistischen Ländern vermittelt über die Internationale für sie bislang stetig geleistet haben.

Ein anderer Faktor großen Gewichts im Kampf für die Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit des sozialistischen Projekts ist die Entstehung einer bedeutenden, zugleich antistalinistischen und antikapitalistischen, sozialistischen Strömung in den poststalinistischen Ländern. Wir haben unseren, unsektiererisch aufgefaßten, Aufbau in diesen Ländern in die vorrangigen Aufgaben unserer Internationale eingereiht. Unsere Bilanz ist, wie für die antikapitalistische Linke im allgemeinen, insgesamt sehr mager ausgefallen. Der erste Grund dafür ist der, daß aus einleuchtenden Gründen gerade in diesen Ländern der Glaubwürdigkeitsverlust des Sozialismus am stärksten gewesen ist und umgekehrt dort die Illusionen in den Kapitalismus am weitesten verbreitet sind. Nun sind diese dazu verurteilt, sich angesichts der grauenhaften konkreten Auswirkungen der kapitalistischen Restauration eher früher als später zu verflüchtigen. Darum dürfen wir mit unseren Anstrengungen in dieser Weltregion auf keinen Fall nachlassen. Wir müssen vielmehr gemeinsam mit unseren Genossinnen und Genossen der betreffenden Länder über die dort angemessensten Formen der Propaganda und des Aufbaus nachdenken, da ein oft unterlaufender Fehler darin besteht, die in den kapitalistischen Ländern traditionell praktizierten Formen dort zu reproduzieren.

Es sind immer noch die abhängigen Länder, die heute die schwächsten Kettenglieder des imperialistischen Weltsystems sind. Gegenwärtig bestehen in diesen Ländern immer noch die vergleichsweise besten Möglichkeiten für den Aufbau revolutionärer Massenparteien oder von Massenparteien mit revolutionärem Potential. In Richtung dieser abhängigen Länder hat die Internationale den größten Teil ihrer zentralen materiellen und personellen Ressourcen eingesetzt. Sie wird dies fortsetzen und besonders die Möglichkeiten in den Ländern prüfen, die eine neue Radikalisierungswelle erleben.

15.

Die Entstehung einer glaubwürdigen sozialistischen Strömung wird auch von ihrer Fähigkeit abhängen, als Vertreter der Hoffnungen aller ausgebeuteten und unterdrückten Sektoren der Bevölkerung wahrgenommen zu werden. Das ist keine Banalität, die man einfach nur nachbeten müßte.

Die IV. Internationale hat in ihrem Verständnis für den Kampf der Frauen und die weiblichen und feministischen Massenbewegungen Fortschritte gemacht. Auf unserem letzten Weltkongreß wurde erstmalig eine Resolution diskutiert, die sich speziell damit befaßt, welche Rolle der Ausschluß der Frauen vom politischen Leben und den politischen Parteien spielt und wie sich dies in der IV. Internationale auswirkt. Diese vom Kongreß angenommene Resolution erklärt die "positive Diskriminierung" für notwendig, damit Frauen ihren gebührenden Platz in der IV. Internationale einnehmen können.

Dies bedeutete einen wichtigen Fortschritt in unserem Verständnis vom Aufbau unserer Organisationen und ihrem Verhältnis zu den Massenbewegungen. Und dennoch haben wir keine hinreichenden Konsequenzen daraus gezogen, wie sich gesellschaftliche Veränderungen in den Kämpfen der Frauen ausdrücken, und daß eine direkte Beziehung besteht zwischen dem Primat der Feminisierung einerseits und den neuen Aufgaben und den geänderten Formen und Inhalten der uns bevorstehenden Kämpfe andererseits.

Wenn wir die politische und soziale Realität analysieren und daraus Folgen ziehen, müssen wir bestimmte Elemente miteinbeziehen, die sich aus der spezifischen Situation der Frauen als solche und ihrer Klassenlage, Ethnie oder Alter ergeben.

Ansatzpunkt muß auch die massenhafte und dauernde, wenn auch sehr geschlechtsspezifisch determinierte, Integration der Frauen ins Arbeitsleben sein -- seien sie nun formell oder informell oder gar nicht beschäftigt. Umgekehrt werden dadurch immer mehr Frauen in die sozialen Kämpfe eingebunden, sei es als Arbeiterinnen, Städterinnen, Bäuerinnen, Konsumentinnen etc.

Aus dieser Kombination von zunehmender Einbindung in die Arbeitswelt und in soziale Bewegungen sowie dem generellen Trend, Frauen aus dem öffentlichen und kollektiven Leben fernzuhalten, ergibt sich jedoch die Tendenz, daß Frauen in den traditionellen Organisationen des sozialen und politischen Lebens am Rand zu stehen. Daher können sie mitunter in eine Radikalisierung gedrängt werden und aus Mißtrauen gegenüber den traditionellen Führungen handeln.

Die dank den Kämpfen der Frauenbewegung erfolgte ständige Durchdringung der Bevölkerung mit den Ideen der Frauengleichberechtigung beeinflußt die Art, wie sich Frauen für die Verteidigung ihrer "traditionellen" Forderungen mobilisieren (indem bspw. der Kampf um Lohnerhöhung verknüpft wird mit dem Kampf für die Aufwertung der frauenspezifischen Arbeiten). Dennoch vollzieht sich die breite Akzeptanz der Frauengleichberechtigung nicht unangefochten. Die Rechte und besonders die aufkommenden fundamentalistisch-religiösen Bewegungen schießen sich auf die Frauen- und besonders die Familienfrage ein. Ohne einen entschiedenen Gegenangriff der Frauen werden diese Angriffe nicht abgewehrt werden.

Angesichts des Niedergangs der organisierten radikalfeministischen Bewegung ist ein solcher entschiedener Gegenangriff keinesfalls garantiert. Die wachsende Institutionalisierung der Bewegung durch Vereinnahmung seitens bürgerlicher politischer Gruppierungen oder ihre Einbindung in NRO haben - genauso wie die ideologischen Attacken der "Postfeministinnen" - den subversiven und revolutionären Aspekt des Feminismus, der zuvor eine so große Rolle bei der Gewinnung der Frauen für revolutionäre Perspektiven gespielt hat, geschwächt. Die fehlende Erneuerung des feministischen Diskurses, seiner Forderungen und Ideen verschlimmert die Lage weiter.

Dies ist übrigens nicht nur Folge von Entwicklungen in der feministischen Bewegung selbst, sondern Reflex des allgemeinen Niedergangs des revolutionären Radikalismus und der fehlenden emanzipatorischen Perspektive. In manchen Fällen kann eine Reaktion der Frauen auf die Angriffe gegen sie eine allgemeine politische Radikalisierung hervorrufen. Der Widerspruch zwischen den gültigen Vorstellungen von Rechten der Frauen und ihnen geltenden Angriffen, z.B. beim Abtreibungsrecht könnte besonders bei der jüngeren Generation einen solchen Auslöser darstellen.

Damit die Organisationen der Arbeiterbewegung einschließlich der revolutionären Organisationen diese neuen Schichten für eine Radikalisierung gewinnen können, müssen sie die spezifische Unzufriedenheit der radikalisierten Frauen mit den traditionellen Formen der politischen und sozialen Organisation überwinden und sich auf einer anderen Basis neu aufbauen. Das schließt das Paritätsprinzips ein, das heißt, die Frauen müssen ihren vollen Anteil bei den Entscheidungsprozessen haben. Solch eine organisatorische und programmatische Erneuerung ist für diese Organisation heutzutage lebensnotwendig. Ohne eine solche Anstrengung, die die Beiträge der Frauen integriert, wird es nicht gelingen, eine ausgewogene sozialistische Alternative zu entwickeln.

Unser Bemühen, diese Maßstäbe in unserer Analyse zu berücksichtigen, ist keine nur abstrakte Frage. Unser Verständnis von den Prioritäten der revolutionären Betätigung muß davon beeinflußt werden, und es muß ein bedeutenderes Element aller Sektionen und sympathisierenden Organisationen der IV. Internationale sein. Daher müssen die in der Resolution des letzten WK enthaltenen Vorschläge auf internationaler Ebene und in allen nationalen Organisationen angewandt werden.

16.

Ein großer Teil der heute bestehenden revolutionären Organisationen, einschließlich der IV. Internationale, haben sich dank der Impulse der Kämpfe und Debatten Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre aufgebaut. Diese Impulse haben sich nicht nur erschöpft, sondern die aus ihnen entstandene politische Generation bedarf dringend der Ablösung. Dies wird in erster Linie von einer neuen Welle der Jugendradikalisierung abhängen. Aber dies enthebt uns nicht -- ganz im Gegenteil -- der dringenden und vorrangigen Anstrengung, Jugendliche zu gewinnen, jugendliche politische Kader herauszubilden und unsere Leitungen zu verjüngern. "Platz den Frauen" [siehe die Resolution von 1991] und "Platz den Jugendlichen", diese Grundsätze sind aktueller denn je.

Es geht sicher nicht um das einfache Bedürfnis, die Leitungen zu erneuern. Die Kämpfe und Revolten, die in der Jugend und unter Frauen entstehen, drücken die gesellschaftlichen Veränderungen am lebhaftesten aus. Die Priorität, die wir der Feminisierung und Verjüngung geben, ist also auch ein Mittel dafür, uns besser auf die Höhe der neuen Aufgaben und der erneuerten Formen und Inhalte der Kämpfe und der Emanzipationsbewegungen zu bringen.

(Mit 80,5% Jastimmen auf dem Weltkongreß angenommen; Gegenstimmen: 16,5%; Enthaltungen: 3,0%)


Veröffentlicht durch Inprekorr (Internationale Pressekorrespondenz).
Siehe auch die übrigen Resolutionen des Weltkongresses.