GroSSbritannien

Widerstand gegen die Regierung der Reichen für die Reichen

Anders als eine reine Tory-Regierung ist die konservativ-liberale Koalition das schlimmste anzunehmende Ergebnis der Parlamentswahlen, da sie die wirkungsvollste Plattform für Streichungen, Sparpolitik und Arbeitslosigkeit darstellt. Cameron und Clegg machen uns weis, dass die Koalition „im nationalen Interesse“ gebildet worden ist. Das ist im Klartext ihre eigene Klasse.

Socialist Resistance

Die Fassade der Gleichheit innerhalb der Koalition, die dadurch errichtet wurde, dass Clegg zum Vizepremierminister gemacht wurde, ist eine Täuschung durch die Führung der Tories, die fest entschlossen war, auf jede erdenkliche Art und Weise das Heft in der Hand zu halten. Dies ist eine tödliche Umarmung, die jetzt schon die Liberaldemokraten zerreißt.

Als Gegenleistung für die Insignien der Macht haben sich die Liberaldemokraten dazu entschlossen, eine reaktionäre Koalition zu unterstützen und den von den Tories vorbereiteten Angriff auf die Arbeitsplätze, Renten und Leistungen mitzutragen. Die Streichliste und der Abbau der Staatsverschuldung sind die Eckpunkte dieser gegen die ArbeiterInnenklasse gerichteten Koalition. Doch während des Wahlkampfes unterstützten die Liberaldemokraten Browns Ansatz hinsichtlich der Krise, die in begrenzten staatlichen Anreizen (und quantitativen Lockerungen) bestand, um die Nachfrage in der Wirtschaft für ein weiteres Jahr aufrecht zu erhalten. Das war völlig unzureichend und hat Kürzungen nicht überflüssig gemacht, aber es hat zumindest zeitweise die Krise gedämpft. Die Vorstellung war, dass sich die Wirtschaft nächstes Jahr erholen würde, und man dann die ArbeiterInnenklassen dazu bringen könnte, die Rechnung zu zahlen.

Allemal macht das einen großen Unterschied aus, der mehr Menschen den Arbeitsplatz erhalten und bessere Voraussetzungen für den Abwehrkampf geschaffen hätte. Dies wurde nun auf den Müll geworfen zugunsten der Torypläne, sofort sechs Milliarden Pfund an öffentlichen Ausgaben abzubauen, und das sollte nur der Anfang sein. Dies kann die wirtschaftliche Situation nur noch mehr verschlechtern, und eine handfeste Rezession wird wahrscheinlicher, die noch einmal so teuer wird.

Die europaweite Krise im Hintergrund der Wahlperiode hätte als Warnung dienen sollen. Die Unruhen in Athen und die so genannte „Ansteckungsgefahr“ bedrohten Spanien, Portugal und Italien. Zu diesem Gemisch kam die neuerliche Instabilität im Bankensektor und den Märkten dazu, sowie die Drohung Sarkozys, dass Frankreich aus der Eurozone austreten werde, bis Merkel sich in die 750 Milliarden Euro Rettungsgelder für die einheitliche Währung fügte.

Die Liberaldemokraten kapitulierten vor den Tories, wohl wissend, dass es ein alternatives Angebot mit Labour und den nationalistischen Parteien gab – die so genannte progressive Allianz.


Prinzipienlose Liberale


Dies wäre kein Projekt, zu dessen Wahl wir aufgerufen oder das wir unterstützt hätten. Aber wir sind auch nicht unparteiisch in der Frage, ob die Liberaldemokraten sich mit den Tories zusammentun oder gegen sie sind, auch wenn beide Parteien die Interessen der ArbeiterInnenklassen nicht repräsentieren. Caroline Lucas (erste und einzige Parlamentsabgeordnete der Grünen und führendes Mitglied der „Stoppt den Krieg“-Koalition) hat es gut ausgedrückt, als sie sagte, dass keine der beiden Seiten progressiv war, und dass sie von Fall zu Fall Maßnahmen unterstützt hätte, die vorwärts gerichtet wären.

Für die Liberaldemokraten stellte dies einen spektakulären Verrat an ihren eigenen Prinzipien dar. Das Angebot von Labour hat eine reale Möglichkeit in Aussicht gestellt, das bizarre und korrupte britische Wahlsystem, das sie so lange unterrepräsentiert hatte, durch eine Art von Verhältniswahlrecht zu ersetzen. Das haben die Liberaldemokraten berechtigterweise seit vielen Jahren gefordert. Es würde das skandalöse, antidemokratische Mehrheitswahlrecht grundlegend ändern, das Millionen Wähler ihrer Repräsentanz in Parlamentswahlen beraubt. Natürlich würde dies keine ArbeiterInnendemokratie darstellen, aber es ist eine extrem wichtige demokratische Forderung der ArbeiterInnenklasse.

Eine Koalition aus Labour und Liberalen würde eine ineffektivere Ausgangslage für Kürzungen darstellen, was einer der Gründe ist, warum die Liberaldemokraten dies ausgeschlagen haben. Solch eine Regierung würde unter großen Druck seitens der Medien geraten, Einschnitte auf die Tagesordnung zu setzen. Es stimmt: rechnerisch war es knapp für die Labouroption, und sie hätte vielleicht auch keine fünf Jahre gehalten. Aber sie hätte vielleicht lange genug gehalten, um sicherzustellen, dass die nächste Wahl nicht mehr unter dem Mehrheitswahlrecht stattgefunden hätte.

Wobei die Liberaldemokraten schließlich geendet sind, ist eine Koalition, in der alle Asse und alle Schlüsselministerien in den Händen der Tories sind. Die Tories haben ihnen ein Referendum über das „Alternative-Vote“-System [1] angeboten. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verhältniswahlsystem, denn es ist nicht proportional. Und es ist wohl auch nicht besser als das Mehrheitswahlrecht, denn es hat keinen Effekt auf die von den fest eingewachsenen Tory- oder Labour-Mehrheiten dominierten Wahlkreise, die den Hauptfaktor bei den Verzerrungen im Mehrheitswahlrecht darstellen.

Eins haben die Liberaldemokraten den Tories abgerungen: eine baldige Gesetzgebung für eine befristete Legislaturperiode [2]. Dies würde bedeuten, dass die nächste Parlamentswahl für den 7. Mai 2015 geplant ist.

Das ist an sich eine sehr wichtige Maßnahme zur Wahlrechtsreform, obwohl eine fünfjährige Amtszeit für eine Regierung zu lang ist. Unter diesen Umständen aber illustriert die dahinter stehende Absicht den Zynismus der Liberaldemokraten. Sie wollten sicher gehen, dass die Tories sie nicht dafür benutzen, an die Macht zu kommen, einzig und allein, um sie wieder auszuspucken, wenn sie davon ausgehen können, dass sie allein die Mehrheit erreichen könnten. Ein weiteres Beispiel für das verzweifelte Bemühen der Liberaldemokraten, an der Macht zu sein, ist der ungeheuerliche Vorschlag, den Parlamentsmodus so zu ändern, dass 55 Prozent der Stimmen erforderlich sind, um einen Misstrauensantrag gegen die Regierung durchzubringen. Ob diese Sicherheitsmaßnahmen eine stabile Regierung über fünf Jahre bei einer wirtschaftlichen Notlage und Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse garantieren können, ist eine andere Sache.

 

Dies ist der Leitartikel der Socialist Resistance, Ausgabe Nr. 60. Er wurde durch das Nationale Komitee der Socialist Resistance am 16. Mai 2010 verabschiedet.

Socialist Resistance wurde 2002 von britischen MarxistInnen gegründet, die den Neuansatz, der von der Scottish Socialist Party, der Socialist Alliance und RESPECT ausstrahlte, unterstützten. Im Juli 2009 wurden ihre UnterstützerInnen zur britischen Sektion der IV. Internationalen.

Es gibt ein paar etwas progressivere Maßnahmen in der Vereinbarung zwischen den Parteien: die Abschaffung des Personalausweises, die Verschiebung der Erbschaftssteuerermäßigung sowie die Anhebung der Kapitalertragssteuer. Der Rest der Koalitionsvereinbarung ist größtenteils Tory-Politik. Die Trident-Rakete, der einzige Punkt, bei dem die Liberaldemokraten mit der etablierten Politik nicht mitziehen, bleibt. Es gibt eine ungenaue Zusage, die Steuerfreigrenze anzuheben. Aber es ist klar, dass das auf die lange Bank geschoben werden wird. Es ist außerdem klar, dass eine kräftige Anhebung der regressiven [3] Mehrwertsteuer in Aussicht steht.


Beihilfe für die RassistInnen


Auf dem Gebiet der Immigration wurde der Vorschlag der Liberaldemokraten für eine Legalisierung illegaler Einwanderung nach zehn Jahren zugunsten des reaktionären Toryplans, von einer Begrenzung der Einwanderung von außerhalb der EU, verworfen. Eine der widerlichsten Besonderheiten des Wahlkampfes waren die wiederholten rassistischen Angriffe sowohl der Tories als auch von Labour auf den Legalisierungsvorschlag. Hinter diesem Angriff stand die bankrotte Einstellung aller drei großen Parteien, die sie unfähig machte, mit der extremen Rechten während des Wahlkampfes fertig zu werden, außer dass sie mit ihr darin wetteiferten, wie viele MigrantInnen man daran hindern könne, ins Land zu kommen, und wie viele man rauswerfen könnte.

Das macht sie direkt für die Annäherungsversuche der British National Party (BNP) und der United Kingdom Independence Party (UKIP) während des Wahlkampfes verantwortlich. Der Grund, warum sowohl die BNP wie auch die UKIP landesweit besorgniserregende Ergebnisse erhielten, war, dass die großen Parteien darauf beharrten, mit ihnen zu konkurrieren, anstatt sich gegen sie zu wenden.

Der Krieg und der Umweltschutz waren randständige Themen während des Wahlkampfes, und mit der Koalitionsvereinbarung hat sich nichts geändert. Auch in Fragen der Kernkraft sind die Liberaldemokraten eingeknickt. Die Politik der Tories mit Kernkraftwerken der neuen Generation ist Politik der Koalition geworden. Die Liberaldemokraten haben allerdings das Recht, sich bei einer Abstimmung zu dem Thema der Stimme zu enthalten. Die Koalitionsvereinbarung richtet sich gegen eine dritte Landebahn für Heathrow und andere Londoner Flughäfen – aber zu Boris Johnsons Plänen eines neuen Flughafens an der Themsemündung sagt sie nichts.

Der umstrittenste Punkt der Koalitionsregierung ist die EU. Genauer gesagt geht es um den EU-skeptischen Außenminister William Hague, der in der Regierung neben immer schon EU-befürwortenden liberaldemokratischen Ministern sitzt. Trotz der Vereinbarung, in der aktuellen Amtszeit weder in die Eurozone einzutreten noch ein Referendum zu irgendeiner Übertragung von Machtbefugnissen an die EU durchzuführen, ist es unwahrscheinlich, selbst bei den Tories bei diesem Thema den Deckel drauf zu halten.

Die Koalition wird auf beiden Seiten stark kontrovers gesehen. Der rechte Flügel betrachtet sie als einen Ausverkauf, wie es auch die breite Basis der Liberaldemokraten sieht. Das bedeutet, dass die Koalition unter massiven Druck geraten wird, wenn die Entscheidungen über die Kürzungen anstehen. Besonders, da keine der beiden Parteien ein Mandat der Wählerschaft für die geplanten Kürzungen hat.

Labour weist jetzt schon darauf hin, dass es unwahrscheinlich sein wird, die Kürzungen generell abzulehnen, sie aber ggf. gegen einzelne Details Einwände erheben werden. Sie erklären, dass sie eine „verantwortungsvolle Opposition“ sein wollen. Dies wäre eine skandalöse Kapitulation vor dem Konzept des „nationalen Interesses“, mit dem die konservativ-liberaldemokratische Koalition und die Medien hausieren gehen. Aber es steht im Einklang mit der Art, wie sie regiert und den Wahlkampf im Interesse der Wirtschaft geführt haben.

Das Abschneiden der Linken in den Wahlen war eine Katastrophe. Es stimmt, dass die zwei großen positiven Ergebnisse der Wahl die Niederlage von Nick Griffin in Barking und die Wahl von Caroline Lucas in Brighton waren. Wir gratulieren allen Beteiligten an den beiden Kampagnen. Der Erfolg der Gewerkschaften und der Socialist Coalition (TUSC) war schwach. Er hatte keine landesweite Auswirkung auf die Wahl, und es ist unwahrscheinlich, dass sich nach der Wahl etwas daraus entwickeln wird.

RESPECT schnitt viel besser ab als andere Teile der Linken, verlor aber seinen Sitz im Parlament und die meisten Ratsmitglieder auf regionaler Ebene (Councillors). Es wird nötig sein, sich umzugruppieren und den strategischen Ansatz neu zu überdenken.

Die Notwendigkeit einer schlagkräftigen Partei links von Labour bleibt ein entscheidendes Element des Widerstandes. Eine Lehre aus der Wahl 2010 ist, dass die Linke ihre Bemühungen, eine vereinigte und pluralistische Partei der Linken zu gründen, verdoppeln sollte.

Das Echo der Gewerkschaften auf diese Situation wird dadurch besonders wichtig. Angesichts der Kürzungen sind die meisten Gewerkschaften größtenteils passiv geblieben. Das muss sich schleunigst ändern. Die Gewerkschaften müssen folgendes fordern:

Wir müssen uns darum bemühen, eine Massenkampagne in den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung aufzubauen, um eine schnelle Einführung einer fortschrittlichen Wahlrechtsreform, basierend auf dem Verhältniswahlrecht, zu erreichen. Die Arbeiterbewegung muss sich außerdem gegen den gefährlichen Rechtsruck in Richtung auf eine rassistische und gegen AusländerInnen gerichtete Politik zusammentun. Die Jahre, die die Gewerkschaften widerspruchslos Blair und Brown hinterher gelaufen sind, haben uns an den äußersten Rand einer Tory-Regierung gebracht. Allein der Widerstand der ArbeiterInnenklasse und die Gründung einer wirkungsvollen Vereinigung gegen die Kürzungen kann die Arbeiterklasse vor neuen, massiven und zerstörerischen Angriffen schützen.

Unser Aufruf enthält folgende Forderungen:

Übersetzung: Saskia Schumann



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 464/465 (Juli/August 2010).


[1] Bei diesem System haben die WählerInnen die Möglichkeit, eine Gewichtung der zur Wahl stehenden Kandidaten vorzunehmen. Genaueres siehe z. B. unter http://www.electoral-reform.org.uk/votingsystems/systems2.htm#AV und http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/election_2010/8644480.stm. [Anm. d. Red.]

[2] In Großbritannien schreibt der Premierminister Neuwahlen aus, wenn er oder sie den Zeitpunkt für günstig hält. [Anm. d. Red.]

[3] Regressive Steuern sind solche, die bei steigendem Einkommen weniger ins Gewicht fallen, also prozentual sinken. Das ist bei der Mehrwertsteuer der Fall. [Anm. d. Red.]