Theorie

Die Krise jenseits der Krise

Dieses Gespräch wurde im Sommer 2009 von Jacques Pelletier und François Cyr für die in Montréal, Québec, erscheinende Zeitschrift Nouveaux Cahiers du socialisme (Neue Hefte des Sozialismus) geführt und ist in der zweiten Ausgabe vom Herbst 2009, die dem Thema „Ihre Krise“ gewidmet ist, veröffentlicht worden. [1]

Interview mit Daniel Bensaïd

 Nouveaux Cahiers du socialisme: Wir sollten uns bemühen, ganz knapp den Charakter dieser Krise zu bestimmen, um darauf vorauszuschauen, welches Ausmaß sie einnehmen und welche Tragweite sie bekommen wird, vor allem aber, um den schmerzhaften Krisenlösungen entgegenzutreten, an die der Kapitalismus uns gewöhnt hat. Es geht nicht um Haarspaltereien, sondern um ein Verstehen im Blick auf das Handeln. Eine adäquate Analyse dieser Krise ist unerlässlich, meinen wir, um einen strategischen Rahmen oder ein Sofortprogramm auszuarbeiten, wie es beispielsweise die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) vorschlägt. Um mit der Diskussion zu beginnen, wollen wir uns an eine Typologie wagen. Zunächst einmal lässt sich ein Lager der Leugnung ausmachen, von dem das Problem auf eine Frage der Kaufkraft reduziert wird, was mit der Überschuldung der Mittelklassen vor allem in den Vereinigten Staaten verbunden sei. Da sie nicht in der Lage sind, mehr zu konsumieren und die Plastikkreditkarten heiß laufen zu lassen, werden sie für das, was passiert, verantwortlich gemacht, und ihr fehlendes Vertrauen in die Zukunft wird getadelt. Fehlendes Vertrauen, das ist für diese Analyse das Schlüsselwort der Krise.
Andere versuchen die Krise durch Fahrlässigkeit bzw. die Unehrlichkeit bestimmter hochgestellter Personen im Finanzsektor zu erklären, die jeglichen Kontakt mit der Wirklichkeit verloren hätten. In diesem Zusammenhang heißt aus der Krise herauskommen dann ein Großreinemachen, wenn auch sehr partiell und ausgewählt, im Verbund mit einer adäquaten Regulierung, mit der man die wildesten Aspekte der Spekulation im Rahmen halten bzw. die Kontrolle der öffentlichen Hand verstärken will. „We are all socialist now“, hat Newsweek im Februar 2009 getitelt.
Und dann gibt es im Lager der globalisierungskritischen Linken offensichtlich Bemühungen, die Krise mit einer vertieften Analyse zu begreifen. Diese Krise ist nicht die erste und, leider, auch nicht die letzte: Sie haftet dem Kapitalismus an. Im Gegensatz zu den klassischen Überproduktionskrisen ist die hier aber aus einem Abgrund, dessen Boden nicht zu erblicken ist, zwischen der Realökonomie, in der die Güter und Dienstleistungen produziert werden, einerseits und der spekulativen Betätigung andererseits heraufgestiegen, die vierzigmal mehr Geld produziert, ohne dass ein Fitzelchen realer Wert produziert würde: Der wäre ja das Resultat von Arbeit. Das ist die These von der Kasinowirtschaft und ihrer neuen Herren, der Spekulanten, die eine Art von Banditentum im großen Maßstab praktizieren. „Croony capitalism“ hat Samir Amin gesagt. Was ist von all dem zu halten?

Daniel Bensaïd: Man sucht oft die gegenwärtige Krise mit der großen Krise zu vergleichen, die als Referenz dient, der von 1929. Die Unterschiede sind ebenso wichtig wie das, was sich ähnelt. Wahrscheinlich ist die gegenwärtige Krise viel schwerer. Sie ist grundlegend eine Krise des Wertgesetzes, also eine Krise der Maßlosigkeit oder des Fehlmaßes einer Welt, einer kapitalistischen Welt, in der Reichtum und soziale Beziehungen einzig und allen mit dem Wertmaßstab der abstrakten Arbeitszeit gemessen werden. Doch ist dieses Maß, wie Marx es in den Manuskripten von 1857/58 [2] angekündigt hat, immer „miserabler“ und irrational geworden, im Zuge einer immer weiter vorangetriebenen Sozialisierung (einer Kooperation) der Arbeit und einer immer stärkeren Integration von geistiger Arbeit und Handarbeit. Das belegen unter anderem die sinnlosen Kriterien, die zur Quantifizierung des Nichtquantifizierbaren in den Bereichen Bildung und Gesundheit ausgearbeitet worden sind.

Mit ihrer doppelten Dimension, der sozialen und der ökologischen, hat diese Krise also im Zentrum des Systems selber ihre Quelle. Dass das Wertgesetz „miserabel“ ist, tritt dabei in der Tat durch das Anschwellen von neuen Formen der Armut und sozialen Ausgrenzung zu Tage: Warum bringen die erstaunlichen Produktivitätsgewinne immer mehr Arbeitslosigkeit und Prekarität hervor, anstatt dass sie in mehr „Freizeit“ umgesetzt werden? In wieweit lassen sich die Schäden, die den natürlichen Bedingungen der Reproduktion der menschlichen Gattung (Abholzung, Verschmutzung der Ozeane, Lagerung der atomaren Abfälle, Klimaänderungen) zugefügt werden, in „Realzeit“ (Börsenkurse!) und in Geldbeträgen bewerten?

Die Krise ist von Anfang an weltweit oder global, in dem Maße wie das kapitalistische System die Reserven für eine Expansion nach außen, über die sich Rosa Luxemburg in der Akkumulation des Kapitals geäußert hat, praktisch erschöpft hat und es seine Schranken weiter hinaus geschoben hat, indem es geographische Zonen oder Produktionsformen, die ihm noch nicht zur Verfügung gestanden hatten, in die Warenproduktion integriert hat. Während der Krise der dreißiger Jahre machten die ländliche Bevölkerung und die landwirtschaftliche Produktion in den wichtigsten kapitalistischen Ländern noch über 30 % aus, so dass die Familien- und die Dorfsolidarität soziale Puffer darstellen konnten. Jetzt stellen die Lohnabhängigen etwa 90 % der erwerbstätigen Bevölkerung, so dass die Krise, mit den Entlassungen und Betriebsverlagerungen, einen Schneeballeffekt hat. In Frankreich ist es soweit, dass die Regierung die Rolle lobt, die die „automatischen Stabilisatoren“, wie sie es inzwischen verschämt nennt, (noch!) spielen, also im Klartext jenes Systems sozialer Sicherung, dass sie so eifrig beseitigen wollte.

Und schließlich ist diese Krise, so könnte man sagen, auch eine Krise der Krisenlösungen. Man spricht in den Gazetten viel von New Deal oder einer Neuauflage des Keynesianismus. Dabei vergisst man ein bisschen arg schnell, dass Roosevelts New Deal 1934 einen kurzen Aufschwung möglich gemacht hat (unter dem Druck der großen Arbeiterkämpfe), bevor es 1937/38 wieder einen heftigen Abschwung gab; die Krise ist erst mit der massiven Ausweitung der Rüstungsindustrie und der Kriegswirtschaft wirklich überwunden worden. Vor allem aber vergisst man dabei, dass die keynesianische Politik in der Nachkriegszeit nicht nur in einem „circulus virtuosus“ (einer Aufwärtsspirale) von Produktivität, Löhnen und Massenkonsum bestanden hat, sondern ein ganzes institutionelles Gefüge (Arbeitsrecht, öffentliche Dienste, Währungspolitik) zur Voraussetzung hat, das innerhalb von nationalen Rahmen errichtet worden ist, die inzwischen durch die Globalisierung und die Deregulierung eingerissen worden sind. Um eine Neuauflage des Keynesianismus auf europäischer Ebene anzugehen, wie es die sozialdemokratischen Parteien in ihren Wahlreden gelegentlich ankündigen, wäre eine Kehrtwende bei der europäischen Einigung um 180 Grad notwendig gegenüber dem, was sie seit einem Vierteljahrhundert mitgetragen haben: Es müsste wieder eine politische Kontrolle über die Geldpolitik geben (die jetzt der Zentralbank überlassen worden ist), einen Umbau der öffentlichen Dienste und der Systeme zur sozialen Sicherung, die 20 Jahre lang von rechten und linken Regierungen systematisch zerstört worden sind, die europäischen Verträge, die für freien Kapitalfluss sorgen, müssten aufgekündigt werden usf.

Wenn man den Charakter und das Ausmaß der Krise so einschätzt, so ermisst man, wie dürftig die Erklärungen und die Lösungen sind, die im allgemeinen angeboten werden, ob es sich um die so genannte „Unterkonsumtionsthese“ handelt oder um die These, bei der man sich auf die Unmoral der Banker bezieht. Die erste greift mehr oder minder die Theorie von Jean-Baptiste Say über das angenommene spontane Gleichgewicht von Produktion und Konsum auf, die in einer Tauschwirtschaft gelten kann, nicht aber in einer kapitalistischen Wirtschaft, in der Produktion und Konsum zeitlich und räumlich voneinander abgetrennt sind.

Es ist inzwischen festgestellt worden, dass infolge der neoliberalen Konterreformen 10 % der Wertschöpfung aus den Taschen der abhängig Beschäftigten in die der Kapitalisten (der Aktionäre usw.) geflossen sind, so dass die „Kaufkraft“ nicht mit dem Zugewinn an Produktivität Schritt gehalten hat. Der Konsum ist also mit massiver Zuhilfenahme von Krediten und der Verschuldung gestützt worden, und das hat es möglich gemacht, eine latente Überproduktionskrise hinauszuschieben. Nachdem sie durch das Platzen der Spekulationsblase angekündigt worden ist, tritt sie jetzt in den Schlüsselbranchen Bauwirtschaft und Automobilindustrie in Erscheinung.

Diese neoliberale Phase ist auch durch eine spürbare Zunahme der Ungleichheiten gekennzeichnet, die sicherlich moralisch schockierend (die goldenen Fallschirme, außerordentlich hohe Bonuszahlungen, wundersame Erträge in Höhe von 15 % bei einem durchschnittlichen Wachstum unter 5 %!), aber nichtsdestoweniger funktional ist: Diese deutliche Zunahme hat es ermöglicht, das Schrumpfen des Konsums des größten Teils der Bevölkerung zum Teil durch eine Ausweitung des Luxuskonsumsektors zu kompensieren. Wenn jetzt die Unternehmer der Raffgier beschuldigt werden, dient das der Ablenkung. Damit wird insbesondere die politische Verantwortung der rechten und linken Regierungen verschleiert. Die Deregulierung ist kein ökonomisches Phänomen, das so schicksalhaft ist wie die so genannten Naturkatastrophen (bei denen das, nebenbei bemerkt, auch nicht immer der Fall ist): Es waren über 20 Jahre hinweg gesetzliche Maßnahmen notwendig, um die Börsen zu deregulieren, die Kapitalflüsse zu liberalisieren, die öffentlichen Dienste zu privatisieren, die Patentierung des Wissens und von Lebendigem voranzutreiben usf.

Der Ausdruck „Kasinowirtschaft“ bezeichnet also nur ein Phänomen, das Marx bereits in den Theorien über den Mehrwert und im Kapital beschrieben hat, nämlich das des Geldfetischismus, des „fiktiven Kapitals“, das Wunder vom Geld, das angeblich durch Selbstvermehrung Geld machen würde, ohne ein Zutun von Produktion und Zirkulation. Die Erträge der Investitionen in Höhe von 15 % bei einem Wachstum von 4 oder 5 % waren noch wunderbarer als das biblische Wunder von der Vermehrung der Brote. Das konnte nicht ewig so weitergehen; es war zwar nicht möglich, das Datum und den Auslöser der Krise vorauszusehen, aber man musste kein Diplom von der London School of Economics haben, um zu verstehen, dass sie unausweichlich war.

Was die Fabel von der Bekehrung des Kapitalismus zur Moral angeht, so liegt auf der Hand, wie nichtig sie ist. Dadurch dass er die Wegwerf-Beschäftigten als „Variablen der Anpassung“ behandelt hat, hat der Kapitalismus die Menschen stets als Mittel und nicht als Zweck behandelt. Die utilitaristische Philosophie gibt das offen zu, und Marx hat das sehr schön auf den Punkt gebracht, als der auf den ersten Seiten des Kapitals geschrieben hat, dass an der Pforte der Hölle der Ausbeutung geschrieben steht „No entry, except for business.“ [3] Kein Eintritt, geschäftliche Angelegenheiten ausgenommen. Anders ausgedrückt: Moral bitte am Eingang abgeben.

 Nun zu einer schwierigen, wenngleich alten Frage, die auf die Diskussion über Reform oder revolutionären Bruch verweist, doch in einem neuen Kontext, nämlich dem des triumphierenden Neoliberalismus und dessen, was wir Sozialismus des 21. Jahrhunderts nennen. Ist der Kapitalismus 400 Jahre nach seinem Entstehen am Ende seines Wegs, und ist er nur noch stark wegen der Schwäche und der Uneinigkeit derjenigen, die ihn in Frage stellen? Kann man sich einen Weg aus der Krise heraus vorstellen, der etwas anderes wäre als Krieg oder ein Faschismus in einer Version des 21. Jahrhunderts? Kann man sich eine Art von Neokeynesianismus vorstellen, der mit der Kraft der sozialen und ökologischen Kämpfe durchgesetzt wird und sich auf ein breites Bündnis stützen könnte, das aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft hervorgeht? Diese Frage ist weder theoretisch noch spekulativ. Aus der Antwort, die man darauf gibt, leiten sich unterschiedliche programmatische und organisatorische Vorstellungen der verschiedenen Strömungen her, die sich auf den Sozialismus berufen. Direkter formuliert: Soll man politisch dafür kämpfen, dass die Widerstandskräfte sich gegen die neoliberalen „Übertreibungen“ oder gegen den Kapitalismus zusammenschließen und in Bewegung setzen?

Eine schwierige Frage … Ich möchte von Anfang an die Idee von einer Endkrise des Kapitalismus verwerfen, wie sie die Zusammenbruchtheoretiker wie Eugen Varga in der „dritten Periode der Irrtümer der III. Internationale“ vertreten haben. Wahrscheinlich gibt es einen Ausweg, das Problem ist, zu welchem Preis und auf wessen Rücken. Der Preis für den Ausweg aus der Krise von 1929 war für die Unterdrückten und Ausgebeuteten exorbitant hoch: Faschismus, ein Weltkrieg und die zeitweilige Konsolidierung eines scheinbar siegreichen Stalinismus. Man muss sich aber davor hüten, die Geschichte in Form einer Wiederholung des gleichen zu denken, das führt zum Risiko, für das, was sie an noch nicht da Gewesenem und Überraschendem bringt, blind zu bleiben. Niemand weiß, was heutzutage die Kombination der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen ergeben kann.

Wenn der Kapitalismus als vorherrschendes System – ihr habt ja daran erinnert – erst vier oder fünf Jahrhunderte alt ist, so ist es hingegen gewiss, dass er nicht ewig ist. Was kann es jenseits von ihm geben? Das hängt, so hätte Heraklit gesagt, von der Notwendigkeit und vom Kampf ab. Welches Überschreiten des Kapitalismus ist vorstellbar? Das ist keine Frage eines Modells oder eines utopischen Fernziels. Es geht darum, in den gegenwärtigen Kämpfen, in der „realen Bewegung“, die der Tendenz nach auf Beseitigung der bestehenden Ordnung aus ist, den Keim des Möglichen aufzuspüren. Für mich befindet sich dieser Keim in der Gegnerschaft einer solidarischen Logik (des Gemeinwohls, des öffentlichen Diensts, der gesellschaftlichen Aneignung) zur Konkurrenzlogik des privaten Eigentums und des egoistischen Kalküls. Das habe ich unter anderem in [dem Buch] Les Dépossédés [4] zusammenfassend dargestellt.

Die Frage (und die Zweifel) beziehen sich in Wirklichkeit eher darauf, was mit den Kräften ist, die dazu imstande wären, diese große soziale Transformation zu vollbringen. Anfang der sechziger Jahre hat Herbert Marcuse in Der eindimensionale Mensch die Frage aufgeworfen, ob es noch möglich ist, den Teufelskreis der Herrschaft zu durchbrechen. Er stellte sie in Bezug auf die Konsumgesellschaft, die Überfluss, Befriedigung der Bedürfnisse, restlose Integration der subversiven Fähigkeiten des Proletariats zu verheißen schien. Seine Suche nach sozialen Ersatz-Subjekten (die Studierenden) ist gescheitert. Vom Fetischismus zum Spektakel (Guy Debord, 1967), vom Spektakel zum Trugbild (Jean Baudrillard, 1981) ist der Teufelskreis, so scheint es, unaufhörlich perfekter und geschlossener geworden. Allerdings sind wir jetzt weit weg von den Mythen des Überflusses, der in Reichweite sei, und die sozialen Kämpfe, auch der Klassenkampf, nehmen wieder an Intensität zu. Die neue Frage ist, wie ich es sehe, die nach dem Aufbau eines neuen hegemonialen historischen Blocks ausgehend von der nicht zu beseitigende Pluralität der Widersprüche und Herrschaftsformen und der nicht zu beseitigenden Pluralität (und Unvereinbarkeit) der verfügbaren Zeit für verschiedene Lebensbereiche [5].

Die Weltsozialforen geben in dieser Hinsicht wertvolle Hinweise. Was bewirkt es, dass so unterschiedliche Bewegungen wie Industriegewerkschaften, feministische, ökologische, kulturelle Bewegungen etc. dort zusammenkommen? Der große Vereiniger ist meiner Ansicht nach das Kapital selber: Seine globalisierte systemische Logik generiert das Bedürfnis nach anti-systemischen Antworten. All dies läuft aber auf eine andere Frage hinaus, die den Rahmen dieses Gesprächs sprengt, die der Verknüpfung von sozialen und politischen Kämpfen, von sozialen Bewegungen und Parteien zwischen sozialen Protesten und institutioneller Repräsentation.

Wenn es darum geht – denn das ist die Frage –, ob „für den post-liberalen Kapitalismus ein Leben möglich ist“, so wäre die Antwort: Wahrscheinlich ja, aber welches Leben? Vor der Proklamation, dass eine andere Welt möglich ist, wie wir es auf den Sozialforen getan haben, muss man sich zuerst dessen vergewissern, dass sie notwendig ist. Es geht also darum, sie möglich zu machen. Und diese andere Welt darf sich nicht damit begnügen, die Übertreibungen und Missbräuche des Kapitalismus (die in sein Betriebssystem eingeschrieben sind) zu korrigieren. Sie macht es erforderlich, dass die todbringende Logik des Kapitalismus zerbrochen wird.

 Die Hypothese des notwendigen revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus bekommt sicherlich Kraft und Substanz durch die spektakuläre Unfähigkeit der herrschenden politischen Klassen, zufrieden stellende Erklärungen für und Antworten auf die Krise zu liefern. Im Wesentlichen sind es die gleichen, die sich nun als Feuerwehrleute aufführen, nachdem sie den Brand gelegt haben. Diese Unfähigkeit finden wir auf der Ebene der Ideen aber auch bei den Intellektuellen der Kreise, die in den letzten 30 Jahren die Welt in der Art von Friedman erklärt haben. Bei ihnen ist ebenfalls nichts als Leere. Es ist zu merken, dass sie nicht in der Lage sind, neue Vorstellungen zu formulieren, es sei denn einen grünen Kapitalismus mit vagen und ungenauen Umrissen. Ihre Antworten sind ansonsten oft unbedeutend und bestehen in Schuldzuweisungen… Die Kämpfe der Unterklassen sind hart und vorwiegend defensiv. Mit dem Rücken zur Wand versucht man, dem Verlust von Arbeitsplätzen, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, der Teuerung entgegenzutreten. Im wesentlichen geht es darum, die Schäden der Krise in den Griff zu bekommen und zu begrenzen. Wie ist diese Kluft zwischen der Härte der Konfrontationen und der Begrenztheit sowohl der Ziele wie der Ergebnisse zu erklären, die so eindeutig von den großen Kämpfen der keynesianischen Periode absticht? Wie ist die Inflexibilität der herrschenden politischen Klassen zu erklären, die nicht minder eindeutig von einer gewissen Plastizität des gestrigen Kapitalismus absticht? Die gebieterischen Vorgaben der globalisierten Konkurrenz erklären nicht alles; es gibt sicher noch andere Faktoren – welche sind das? Außerdem nährt die sehr reale Gefährdung, die die Beeinträchtigung unserer Umwelt für die Menschheit bedeutet, ein tief sitzendes Gefühl der Dringlichkeit, vor allem unter den Jugendlichen. Können wir uns letzten Endes den Luxus einer Mäßigung noch leisten? Ist die radikale Perspektive nicht zu einer gebieterischen Notwendigkeit geworden, auf die sich unser Recht auf Revolte gründet?

Dass die Kämpfe der Bevölkerung, die vielfach hart und lang geführt werden, einen defensiven Charakter haben, ist nicht erstaunlich. Das 20. Jahrhundert ist mit einer historischen Niederlage der Hoffnungen auf Emanzipation zu Ende gegangen. Es geht weder ausschließlich noch hauptsächlich, wie man manchmal zu glauben geneigt ist, um eine ideologische Niederlage; nämlich die Diskreditierung des kommunistischen Projekts in Anbetracht des Scheiterns des real nicht existierenden Sozialismus, wie er von dem bürokratischen Despotismus verkörpert worden ist. Es geht vor allem um eine soziale Niederlage, die mit der Verdoppelung der Arbeitskräfte in weniger als 20 Jahren, die auf einem globalisierten und deregulierten Weltmarkt der Arbeit in Konkurrenz miteinander zur Verfügung stehen, gut auf den Punkt gebracht wird. Dieser Umstand wirkt sich heftig auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene aus, bis hin zu den Widerständen in China, in Osteuropa, in Russland, die sich erst langsam entwickeln und in neuer gewerkschaftlicher und politischer Organisierung zum Ausdruck kommen. Das wird schließlich geschehen, aber es hat ein Wettlauf begonnen, und dabei können die Katastrophen des 21. Jahrhunderts, die sozialen und die ökologischen Katastrophen, leider vorn liegen.

Zugleich löst die einschneidende Krise natürlich Reaktionen aus, die zwar defensiv sind (um klar zu machen, welch ein Weg rückwärts zurückgelegt worden ist, genügt es, daran zu erinnern, dass ein Kongress der französischen Richtergewerkschaft [Syndicat de la Magistrature] 1985 für die Beseitigung der Gefängnisse gestimmt hat!), doch radikal und gelegentlich gewaltförmig. Als sei eine Menge abhängig Beschäftigter hin und her gerissen zwischen Angst (legitimer Angst vor der Arbeitslosigkeit) und Wut wegen so viel Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Die Frage, wer oder was, die Angst oder die Wut, die Oberhand behalten wird, ist nicht entschieden. Wenn es die Angst ist, wird es ein allgemeines Rette-sich-wer-kann geben, den Krieg aller gegen alle und die Zunahme von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, wofür bereits Vorzeichen zu erkennen sind.

Selbstverständlich ist der Verlust des Vertrauens in alternative Lösungen oder „Modelle“ auch ein schweres Handicap. Das kommt in der Versuchung zum Ausdruck, sich auf einen falschen, minimalistischen Realismus und auf eine Politik des kleineren Übels zurückzuziehen, aus der sich die großen Enttäuschungen und die großen Entmutigungen speisen. Es sind aber bereits Anzeichen für ein erneutes politisches Engagement, sicherlich bei Minderheiten, doch auch bei den Jüngeren. Nach dem, was ich das utopische Moment von Ende der neunziger Jahre und Anfang dieses Jahrzehnts nennen möchte, das dadurch gekennzeichnet war, dass man die „neuen sozialen Bewegungen“, die als von Natur aus einwandfrei betrachtet wurden, und die politischen Parteien, die als altbacken galten, einander entgegengestellt hat, belegt die Krise, dass die Selbstgenügsamkeit der sozialen Bewegungen eine Illusion ist und dass es notwendig ist, in Anbetracht der Unnachgiebigkeit der herrschenden Klassen wieder eine politische Perspektive herauszubilden.

Denn, wie ihr sagt, sie sind in der Tat unnachgiebig. Wegen der Krise tun sie so, als ergriffen sie kosmetische Maßnahmen, um den Kapitalismus moralischer zu gestalten. Wie wenige konkrete Entscheidungen aber bei dem Gipfel der G 20 [im April 2009 in London] herausgekommen sind, zeigt, dass die Grenzen der Absichtserklärungen rasch erreicht sind. Während der Krise geht die liberale Konterreform auf den Gebieten Bildung, Gesundheit, Arbeitsrecht usf. weiter. Warum diese Unnachgiebigkeit? Vielleicht weil die Strategen der herrschenden Klassen trotz der Diskurse von einer „Neubegründung des Kapitalismus“ oder einem „Green New Deal“ sehr gut wissen, dass eine Rückkehr zu keynesianischer Politik (unter der Voraussetzung, das ginge im Rahmen einer globalisierten Ökonomie) heißen würde, dass man wieder vor den Widersprüchen steht, die man mit der liberalen Konterreform angehen wollte. Auf ihre Weise stellen sie ein starkes Klassenbewusstsein unter Beweis: Der Weg aus der Krise heraus bedeutet für sie, dass es notwendig ist, den beherrschten Klassen eine noch schwerere historische Niederlage beizubringen und mit dem, was von den sozialen Errungenschaften der vorhergehenden Periode noch geblieben ist, Schluss zu machen.

In Anbetracht dieses „reinen Kapitalismus“ (wie Michel Husson es ausgedrückt hat [6]) ist ein reiner Antikapitalismus notwendig, um die drohende soziale und ökologische Katastrophe abzuwenden.

 Seit der großen Krisenperiode der Jahre 1910 bis 1950 ist es den Linken mehr oder minder gelungen, die Zuckungen des Kapitalismus richtig zu „lesen“. Es hat natürlich Ausnahmen gegeben, wie das Moment von Petrograd 1917 oder das vom Yenan 1940 [7]. Aber meistens hat die Unfähigkeit der Linken, die Krisen zu denken, zu schweren Fehlern geführt: sei es, dass sie zu schnell voran wollte und zu optimistisch war (Berlin 1923), sei es, und das war in den meisten Fällen so, dass sie sich nicht schnell und weit genug in Bewegung gesetzt hat. Man kann sich rechtfertigen, indem man sagt, die Geschichte ist nicht lesbar wie eine Kristallkugel, und der Marxismus ist nicht ein Kompass, der nicht falsch gehen kann, oder eine Software, aber reicht das aus? Auf der Linken gibt es ein dramatisches Pendeln zwischen einer abwartenden Haltung, die von Ökonomismus geprägt ist, einer Art von Fatalismus auf der einen und einem Ultravoluntarismus auf der anderen Seite, als sei alles möglich und das sofort. Diese beiden Haltungen haben übrigens eine gemeinsame Grundlage, einen fast religiösen Glauben an den „Fortschritt“, an das unvermeidliche Heraufziehen des Sozialismus … Du begreifst die Politik als einen Knoten, verflochten mit Weggabelungen und Möglichkeiten, leider auch mit Rückschlägen, was im Verhältnis zu der ökonomistischen Sicht der Geschichte einen Schritt nach vorn darstellt. Ist es möglich, noch ein wenig weiter zu gehen? Was wäre beispielsweise zu tun, um die Isolation einer Schicht von voluntaristischen, begeisterten, vor allem aus Jüngeren bestehenden Schicht von AktivistInnen zu vermeiden, in einer Welt, die weitgehend routinemäßig funktioniert und in einer Art von Schlafwandelei feststeckt, um den berühmten Ausdruck von Hermann Broch [8] aufzugreifen?

Die „Illusionen des Fortschritts“ sind seit langer Zeit ziemlich stark mitgenommen, mindestens seit einem Büchlein von Georges Sorel, das schon vor 1914 diesen Titel getragen hat. Dann hat es nach dem Ersten Weltkrieg Valéry mit seinen Blicken auf die gegenwärtige Welt, den Freud des Unbehagens an der Zivilisation, Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte gegeben. Heute wissen wir, unter Zutun der ökologischen Krise, besser denn je, dass die Zivilisationen sterblich sind und dass wir selber eine offene Geschichte ohne Jüngstes Gericht machen.

„Was wäre zu tun, um die Isolation einer Schicht von voluntaristischen AktivIstinnen zu vermeiden?“ fragt ihr. Wenn wir das wüssten! Das Eigentümliche (und die Größe) einer profanen Politik, ohne göttliche und ohne wissenschaftliche Garantie, besteht eben in dem „Arbeiten für das Ungewisse“ (wie eine alte Formulierung des Kirchenvaters Augustinus lautet). Das revolutionäre Engagement hat unvermeidlich die Form einer Wette, gewiss einer durchdachten Wette, so luzid wie möglich, es gibt aber keine exakte Wissenschaft der Revolutionen. Um die Welt zu verändern, was dringender ist denn je, sind wir zur Bastelei verurteilt, ohne Gewissheit des Gelingens, aber mit der Gewissheit, dass wir, wenn wir es nicht versuchen, dazu verurteilt sind, vor Scham zu sterben, noch bevor wir von einer eventuellen atomaren Katastrophe oder einem Klimadesaster vernichtet werden.

Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 460/461 (März/April 2010).


[1] http://www.cahiersdusocialisme.org/

[2] Bekannter als „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“; siehe Marx Engels Werke, Bd. 42, S. 601.

[3] Eigentlich: „No admittance except on business.“ (Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, MEW, Bd. 23, S. 189, 4. Kapitel, Unterkapitel „3. Kauf und Verkauf der Arbeitskraft“.)

[4] Daniel Bensaïd, Les dépossédés. Karl Marx, les voleurs de bois et le droit des pauvres, Paris: La fabrique, 2007.

[5] Im Original heißt es temps sociaux, das ist u. A. die Zeit für. Schlaf, Arbeit, Haushalt, Erziehung, Erholung usw. [Anm. d. Red.]

[6] Michel Husson, Un pur capitalisme, Lausanne: Editions Page deux, 2008; dt. Ausg.: Kapitalismus pur. Deregulierung, Finanzkrise und weltweite Rezession. Eine marxistische Analyse, Köln: Neuer ISP Verlag, 2009.

[7] Yen-an (Yan’an) ist eine Millionenstadt im Norden der Provinz Shaanxi (Nordwestchina); von 1937 bis 1947 politisches und militärisches Zentrum der kommunistischen Partei unter Führung von Mao Zedong.

[8] Hermann Broch (1886–1951), österreichischer Textilfabrikant und ab 1928 Schriftsteller, veröffentlichte zwischen 1930 und 1932 die Romantrilogie Die Schlafwandler, die den Verfall der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und ihrer Werte darstellt.