Frankreich

Frankreich in einer tiefen sozialen und politischen Krise

Laurent Carasso

Frankreichs Regierung hat gerade zum dritten Mal innerhalb eines knappen Jahres eine große Konfrontation erlebt.

Im Frühjahr 2005 gab es die große Mobilisierung gegen den Europäischen Verfassungsvertrag, die begleitet wurde von heftigen und mit harten Repressionen verfolgten Streiks an den Schulen. Im Herbst kam es dann in der Region Marseille zu mehreren Aufsehen erregenden Streiks, namentlich unter den Seeleuten der korsischen Fährgesellschaft SNCM und anschließend zum Aufruhr in den Vorstädten: wochenlange Unruhen mit Hunderten von brennenden Autos in zahlreichen Städten des Landes, angefacht von Jugendlichen, die die Nase voll hatten von Diskriminierung, sozialer Benachteilung und Rassismus.

Dieses neuerliche Kräftemessen um den Ersteinstellungsvertrag CPE zeugt aufs Neue von der extremen Instabilität und einem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, wo die große Mehrheit der Lohnabhängigen und Jugendlichen trotz der Niederlagen im Kampf gegen Sozialabbau 2003 und 2004 die unternehmerfreundliche und neoliberale Politik mit unverminderter Verve ablehnt.

Die französische Rechte krankt an einer zunehmenden Auszehrung ihrer sozialen Basis, was sich sowohl in den Wahlkabinen – Regional- und Europawahlen 2004, Verfassungsreferendum 2005 – als auch auf den Straßen (2003 und 2006) ausdrückt. Derlei Nackenschläge führen zu Krise und inneren Zerwürfnissen, was wiederum die Handlungsfähigkeit bei den sozialen Auseinandersetzungen beeinträchtigt. Ausdruck dieser anhaltenden Lähmung nach der Rücknahme des CPE ist der im Ausmaß beispiellose Polit- und Finanzskandal Clearstream, der auch noch den geringen Rest an politischer Glaubwürdigkeit von Chirac und seines politischen Umfeldes zerrüttet.

Der Aufstand der Jugend gegen den CPE hat zu einer wochenlangen sozialen und politischen Krise geführt, was bei der Rechten offene Spaltung und Paralysierung hervorgerufen und die neoliberale Linke genötigt hat, die Forderungen der Bewegung bis zum Schluss mitzutragen.

Für die SchülerInnen und StudentInnen war dies die längste und ausgeprägteste Mobilisierung seit dem Mai 68. Einzigartig in punkto Kampfbereitschaft und Einheit wie auch im Verlangen nach Demokratie, die ihren Ausdruck in einem bemerkenswerten Prozess von autonomer Organisierung fand.

Vom Februar an entwickelte sich über die Aktionen der größten Studentengewerkschaft UNEF hinaus eine landesweite Koordination, die von den streikenden Universitäten ausging und dazu in der Lage war, allwöchentlich Versammlungen durchzuführen, die Bewegung anzuleiten und eine Verknüpfung zwischen den Lohnabhängigen und der Jugendbewegung herzustellen. Und es gelang ihr, die Bewegung um präzise politische Forderungen herum zu kristallisieren, die sich – ausgehend von der „bedingungslosen Rücknahme des CPE“ – zunehmend ausgeweitet haben bis hin zur Infragestellung des Neuanstellungsvertrags CNE und der prekären Beschäftigungsverhältnisse an sich. In der Konsequenz führte dies zur Konfrontation mit der Regierung als Sachwalter dieser Gesetzestexte und letztlich auch zur Forderung nach dem Rücktritt der Regierung. In diesem Reifungsprozess gelang es der Bewegung, ihre eigene Verankerung zu festigen und die Führungen der Gewerkschaften und der politischen Linken auf eine einheitliche Linie entlang des Kampfes für die Rücknahme des CPE zu verpflichten.


1. Der CPE: auf dem Wunschzettel der Unternehmer und zugleich Bauernopfer im politischen Spiel


Seit Anfang 2006 war ein politisches Kräftemessen mit der Regierung im Gang, dessen tragende Säule Schüler und Studenten waren.

Indem sie den CPE zum Bestandteil des Gesetzesentwurfs für „Chancengleichheit“ erkoren hat, gedachte die Regierung Villepin ihre Offensive fortzusetzen, die sie seit dem Sommer 2005 betreibt und die darin besteht, auf dem Erlassweg das Arbeitsrecht aufzuweichen und den CNE einzuführen. Der CNE erlaubt, in Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten Neueinstellungen vorzunehmen mit einer „Probezeit“ von 2 Jahren, innerhalb derer der Arbeit„geber“ das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen und außerhalb der sonstigen rechtlichen Gepflogenheiten beenden kann. Diese Offensive fand ihren Fortgang in den Privatisierungen der SNCM, des Öffentlichen Nahverkehrs in Marseille (RTM), der EDF (Elektrizitätsversorger) und der GDF (Gasversorger). Zum einen drückt dieser aggressive Kurs der Regierungspolitik die weitere Umsetzung der grundlegenden Zielsetzungen der rechten Mehrheit aus, zum anderen geht es Villepin darum, gegen Sarkozy, seinen Konkurrenten um die Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen 2007, weiter zu punkten.

Seit ihrem Wahlsieg 2002 ist der Rechten bewusst, dass sie sich auf einem Paradoxon bewegt. Der Wahlsieg Chiracs mit über 80% gegen Le Pen und die Stimmengewinne bei den folgenden Parlamentswahlen sind eigentlich Folge des massiven Vertrauensverlustes der Sozialdemokratie und ihrer neoliberalen Politik, der letztlich auch zu dem Ausscheiden Jospins in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen geführt hat.

Dies bedeutet eine Politik, die ganz genauso oder eher noch mehr neoliberal ausgerichtet ist als zuvor. Das führte 2003 zur heftigsten Streikbewegung seit 1995, danach zur Wahlschlappe für die Rechte 2004 und anschließend zur Ablehnung des Neoliberalismus insgesamt beim Referendum 2005. Die Zwillingsschwester dieser Politik des Sozialabbaus ist – wie auch im übrigen Europa – die Demagogie von der Inneren Sicherheit. Die daraus entstehende soziale Krise hat bei den Jugendlichen der Vorstädte einige Monate später dazu geführt, die ganze Wut und Ablehnung herauszuschreien.

Wie auch sonst in Europa entfremden sich die jeweiligen Regierungen selbst von ihren Wählern, indem sie systematisch die neoliberalen Rezepte aus der Feder des Kapitals umsetzen und dabei endlos soziale und politische Krisen heraufbeschwören, wobei die realen Unterschiede zwischen den Programmen der Sozialdemokratie und denen der traditionellen Rechten zusehends verschwinden. Ein Beispiel hierfür ist die große Koalition in Deutschland, die auch davon zeugt, wie durch derlei Politik die soziale Basis der traditionellen Parteien schwindet. So deckt sich die Aufweichung der Kündigungsschutzgesetze in Frankreich mit ähnlichen Regierungsbestrebungen in Deutschland und Spanien.

Im Grunde genommen ist daher der CPE kein isoliertes Vorpreschen auf französischer Seite, sondern fügt sich in den Kurs der neoliberalen Regierungen in Europa, der darauf abzielt, die Arbeitsverträge sämtlicher Lohnabhängigen der noch gültigen Schutzklauseln zu entkleiden. Nach dem CNE war der CPE als völliger Affront gegen die Jugendlichen quasi das zweite Vorspiel auf dem Weg zu einem Normarbeitsvertrag ohne Kündigungsschutz, wie er beim „unbefristeten Vertrag“ (CDI) noch besteht. Die Angelegenheit ist von höchster Priorität, da die Unternehmer die hohe Arbeitslosenquote bes. unter den Jugendlichen ausnutzen wollen, um die Bestimmungen der Arbeitsverträge grundlegend zu ändern. Denn in den kommenden Jahren stehen umfangreiche Neueinstellungen bevor, da die geburtenreichen Jahrgänge in absehbarer Zeit in Rente gehen. Auch wenn sie sich diese demographische Entwicklung zunutze machen, um die Produktivität noch weiter hochzuschrauben und die Beschäftigtenzahlen zu senken, so kommen sie in wenigen Jahren nicht um etliche 100 000 Neueinstellungen umhin. Und dann wird es natürlich schwerer fallen, die Bedingungen weiter zu ihren Gunsten zu verschärfen.

Allerdings darf man die Sturheit Villepins in dieser Auseinandersetzung nicht ausschließlich als Funktion der Unternehmerinteressen begreifen. In politischer Hinsicht galt für ihn der CPE als Schachzug im Kampf gegen Sarkozy um die Hegemonie innerhalb der Rechten. Nachdem er im November letzten Jahres gegen die jugendlichen Aufrührer in den Städten bereits den Notstand verhängt hatte, wollte der Premier unbedingt erneut seine Standfestigkeit und Fähigkeit zu sozialen Einschnitten unter Beweis stellen und durch diese tatkräftige Politik die Reihen der UMP wieder hinter sich schließen. Daraus erklärt sich, dass er nach den Verfügungen des letzten Sommers wieder auf ein parlamentarisches Dringlichkeitsverfahren (in dem eine einmalige Zustimmung des Senats ausreicht) und auf den §49.3 (ein Verfahren, das die parlamentarische Diskussion verkürzt und Änderungsanträge umgeht, indem die Vertrauensfrage damit verknüpft wird) zurückgegriffen hat, um das Gesetz zur Umsetzung des CPE zu verabschieden.

Paradoxerweise hat Villepin mit dieser Halsstarrigkeit, mit der er sich als Spitzenmann der Mehrheit profilieren wollte, seinen politischen Fall eingeleitet, indem er durch das legitime Anliegen der Jugendbewegung diskreditiert wurde. Aus Sicht von Millionen Jugendlicher und Lohnabhängiger entwickelte sich der Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung parallel zum Aufkommen der sozialen und politischen Krise. Chirac, der gemeinsam mit Villepin innerhalb der eigenen Mehrheit isoliert war, versuchte, seinen Premier zu retten, indem er sich Anfang April mit dem Parlament durch das selten spitzfindige Verfahren, das Gesetz in Kraft zu setzen, ohne es anzuwenden, wieder zu arrangieren versuchte. Tatsächlich jedoch hat dadurch Sarkozy als Führer der Parlamentsmehrheit freie Bahn erhalten und konnte sich als Krisenmanager gegenüber dem handlungsunfähigen Villepin profilieren.

Chirac und Villepin wurden gezwungen, den Vorschlägen der UMP-Fraktion zu folgen und den CPE aus dem Gesetz für die „Chancengleichheit“ zu streichen. Auch wenn dieses skandalöse Gesetz, das u.a. eine Lehre ab 14 Jahren und Nacht- sowie Sonntagsarbeit für Jugendliche erlaubt, aufrecht erhalten wurde, kann diese Entscheidung zu Recht als Sieg verbucht werden. Es ist das erste Mal seit Chiracs Wiederwahl, dass die Regierung zurückweichen musste.

Aus der spontanen Ablehnung des CPE sind im Verlauf von 90 Tagen eine tief greifende Mobilisierung der Jugend und eine Unterstützung dieses Kampfes durch die Mehrheit der Bevölkerung geworden.

In diesem Vierteljahr machte eine ganze Jugendgeneration die Erfahrung einer kämpferischen Massenbewegung, eines demokratisch geführten Streiks, einer Selbstorganisierung mit außerparlamentarischen Initiativen und einer politischen Konfrontation mit den politisch Verantwortlichen im Staat. Die massive Beteiligung der SchülerInnen und StudentInnen auf allen Ebenen ist nicht nur ein unübersehbares Indiz für die Breite der Bewegung sondern auch für ihre demokratischen Organisationsformen unter der Kontrolle der Vollversammlungen.

Die Regierung hat angesichts einer derartigen Mobilisierung alle Register gezogen: eine umfassende Medienpropaganda zugunsten des CPE, wie sie schon einige Monate zuvor vergebens umgesetzt worden war, um dem Verfassungsreferendum zum Sieg zu verhelfen; der Versuch, die „studentische“ Jugend gegen die „aus den Vorstädten“ auszuspielen; und schließlich unverhüllte und gewaltsame polizeiliche Repressionen mit dem Ziel, besonders die SchülerInnen aus den Vororten und den einfachen Wohnvierteln einzuschüchtern.


2. Die gemeinsame Gewerkschaftsfront, ihre Einheit, ihre Grenzen und der Kampf für den Generalstreik


Im Unterschied zu 2003 und 2004 standen seit Januar 2006 sämtliche Gewerkschaftsführungen hinter der zentralen Forderung der Bewegung: „Rücknahme des CPE“. Diese besonders durch die Stärke der Jugendbewegung aufrecht erhaltene Einheit war ganz wesentlich dafür, dass ein zunehmend bedeutsameres Kräfteverhältnis unter den Lohnabhängigen entstanden ist.

Aufgrund der Stärke der Studierendenbewegung, zu der im März die SchülerInnenbewegung dazukam, und der massiven Ablehnung des Neoliberalismus und der Prekarisierung unter den Lohnabhängigen dehnte sich die Unterstützung in der Bevölkerung im Laufe des März immer weiter aus. Die wachsende Zahl der Streikenden und die zunehmende Beteiligung der Lohnabhängigen an den Demonstrationen offenbarte gleichfalls, wie sehr die neoliberale Politik und die zunehmende Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse auf Ablehnung stößt. Dieses anhaltende und in den letzten Jahren wiederholt vertiefte politische Bewusstsein erklärt, warum auch die Führungen der eher sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften ihre Taktik der vergangenen Jahre abgelegt und an der gewerkschaftlichen Einheitsfront bis zur Rücknahme des CPE festgehalten haben. Die CFDT ist auch wegen der Stimmenverluste bei den letzten Betriebsratswahlen vorsichtiger geworden, zumal die Arroganz der Regierung wenig Ansatz für Sozialpartnerschaft bietet.

Wenn auf der einen Seite sich die Lohnabhängigen in diesem Vierteljahr durchaus solidarisch zu der Jugend verhalten haben und ihre Beteiligung an den Demonstrationen wie auch die Zahl der streikenden Betriebe wuchs, so gab es doch in keinem Unternehmen oder Wirtschaftszweig Ansätze zu einem unbefristeten Streik. Dies erklärt sich aus 2 Gründen:

Die Gewerkschaftsführungen unternahmen ihrerseits nichts, um den Lohnabhängigen wieder Selbstvertrauen einzuflößen und eine Verallgemeinerung der Kämpfe als machbar in den Köpfen zu verankern. Dabei wären im März Forderungen nach mehr Arbeitsplätzen und Lohn sehr wohl verallgemeinerbar gewesen und hätten die Sektoren zusammengeschweißt. Stattdessen haben sie die Ein-Punkt-Bewegung in Form von landesweiten Aktionstagen – stets beschränkt auf die Forderung nach bedingungsloser Rücknahme des CPE – begleitet und sich geweigert, den Forderungskatalog hinsichtlich CNE und Prekarisierung zu erweitern oder sich für einen unbefristeten Generalstreik in den öffentlichen und privaten Unternehmen zu engagieren. Die um sich greifenden Verkehrsblockaden und Besetzungen öffentlicher Räume waren vielmehr Aktionsformen, die aus dem Miteinander von Jugendlichen und Lohnabhängigen heraus entstanden sind. Die Gewerkschaftsführungen dagegen haben einmal mehr eine Politik verfolgt, die der Regierung eine Krise und die Konfrontation mit den DemonstrantInnen und Streikenden ersparte.

Die FSU und die autonomen Gewerkschaften Solidaires, die sich zum ersten Mal an einer landesweit einheitlichen Gewerkschaftsaktion beteiligten, haben in der Bewegung keine Sonderrolle innegehabt, abgesehen davon, dass sie auf die Miteinbeziehung der Studentenkoordination gepocht und – im Falle von Solidaires – sich für einen unbefristeten Generalstreik stark gemacht haben, ohne freilich vor Ort konkrete Erfolge damit erzielen zu können.

Ihre Dynamik hat die Bewegung durch die Entschlossenheit und Initiative der Jugend erhalten, die sich bewusst an die Lohnabhängigen und ihre Organisationen gewandt hat. Die Gewerkschaftsführungen haben nur auf diesen Druck reagiert, der aus der Bewegung und auch von den Lohnabhängigen selbst kam, hatten selbst aber keinen Plan oder Willen, mehr aus dieser allgemeinen Unzufriedenheit zu machen und zum Generalstreik zu mobilisieren.


3. Die Linke und die Bewegung


Die traditionelle Linke hat das gleiche Spiel betrieben: sich einreihen, den Kampf begleiten und dabei die Zuspitzung stets vermeiden.

Die PS versuchte, die Bewegung für ihre Perspektive des Regierungswechsels einzunehmen … 2007 natürlich erst! Sie verstand es, sich in der Bewegung zu verankern und vermittels ihrer Jugendorganisation und der Führung der Studentengewerkschaften UNEF und UNL sie sogar mit zu initiieren, wobei sie sich immer nur hinter die zentrale Forderung stellte. Zugleich versuchte sie beharrlich, die Mobilisierung auf einen Punkt zu begrenzen und für den Weg durch die Institutionen (Parlament und Verfassungsrat) zu plädieren, um zu verhindern, dass sich daraus eine außerparlamentarische Konfrontationspolitik entwickelt. Die zentrale Losung von Francois Hollande, dem Ersten Sekretär der PS, lautete: „Die Wähler werden sich 2007 daran erinnern.“ Zugleich versuchten andere prominente Vertreter sich beim Unternehmerverband Gehör zu verschaffen und ihre eigenen Varianten zum CPE in Form spezifischer Arbeitsverträge für die Jugend zu unterbreiten, während sich aus der Bewegung heraus die klare Losung entwickelte: „Kein Extra-Vertrag für Jugendliche!“. Aus diesem Grund entwickelten sich in den letzten Wochen vor der Rücknahme des CPE auch zunehmende Diskrepanzen zwischen den Losungen der Bewegung und den Einlassungen der PS. Während die Bewegung Extra-Verträge ausdrücklich ablehnte und den Rücktritt der Regierung Villepin forderte, versuchte die PS ihren eigenen Kurs beizubehalten, auch wenn sich der Wortführer der UNEF gänzlich anders äußerte.

Die Kommunistische Partei (PC) spielte die gleiche Klaviatur wie die Sozialdemokratische Partei (PS), indem sie der Bewegung absprach, die politische Konfrontation mit der Regierung zu suchen („es geht nicht darum, Villepins Rücktritt zu fordern…“). Zugleich zeigte sich jedoch, dass ihr Einfluss in der Jugendbewegung sich auf einem historischen Tiefstand befindet (in den landesweiten Koordinationen war sie nicht vertreten) und dass sie sich strikt weigert, eine außerparlamentarische Bewegung mit einer entsprechenden politischen Krise zu forcieren.

PC, PS, Grüne und andere Teile der traditionellen Linken haben folglich bis Ende März darauf gesetzt, an Chirac zu appellieren, dass er Villepin zurückpfeift, um „keine politische Krise herauf zu beschwören“ und bloß den parlamentarischen Rahmen nicht zu überschreiten.

LCR und JCR haben sich wochenlang in intensive politische Aktivitäten gestürzt, wovon die Präsenz unserer jungen Genossen in der Bewegung und der LCR bei den Demonstrationen und politischen Aktivitäten zeugt, genau so wie das Engagement unserer Genossen bei der Mobilisierung der Lohnabhängigen. Unser zentrales Anliegen war, die Perspektive eines Generalstreiks gegen Prekarisierung und Arbeitslosigkeit als gemeinsames Ziel der Bewegung zu entwickeln und die Taktik der Besetzungen auszuweiten. Hierbei stützten wir uns auf die Dynamik der Schüler- und Studentenbewegung, in der sich unsere jungen Genossen nach besten Kräften engagierten. Wir setzten auf den Fortgang der Mobilisierungen und Konfrontationen, um die politische Forderung zu verallgemeinern, dass diese illegitime Regierung abtreten soll, die dreimal an den Wahlurnen und erneut zweimal durch millionenfache Beteiligung an den Demonstrationen vom 28. März und 4. April abgestraft wurde. In der Schüler- und Studentenbewegung kristallisierten sich die Aktivitäten unserer jungen Genossen um das Prinzip der Selbstorganisierung und die Durchführung des unbefristeten Generalstreiks an den Universitäten und Schulen, wobei diese Genossen auf allen Ebenen der Bewegung sehr gut verankert waren.

Gegenüber den politischen Kräften der ArbeiterInnenbewegung und der Linken propagierte die LCR eine Einheitsfront im Rahmen des Aktionsbündnisses „Zurückschlagen!“, in dem alle linken Kräfte vertreten sind. Aber von gemeinsamen Kommuniqués abgesehen stieß die LCR auf nationaler Ebene mit ihren Vorschlägen gemeinsamer Aktivitäten in Form von Versammlungen auf Ablehnung. Lediglich in einzelnen Städten klappten derlei Initiativen, mit denen zum einen die linken Kräfte sich mit den Forderungen der Bewegung auseinander setzen mussten und zum anderen die LCR ihre eigenen Vorschläge propagieren konnte, u. a.:

Diese Forderungen sind natürlich im Zusammenhang mit dem gesamten Forderungskatalog der LCR in Bezug auf ÖD, Löhne und Umverteilung des Reichtums zu sehen, der als Broschüre erschienen ist und eine Reihe detaillierter Sofortmaßnahmen enthält.

Die LCR erhob als einzige politische Kraft laut und deutlich die Forderung nach Rücktritt von Villepin, Chirac und Sarkozy, wobei sie sich auf die Stimmung unter den Jugendlichen und Lohnabhängigen berufen konnte.


Politische Krise und neue Angriffe


Der Auflösungsprozess dieser Regierung geht nach der Auseinandersetzung um den CPE weiter.

Durch die Clearstream-Affäre kommt zur sozialen Krise wieder die politische Dimension hinzu. Dieser Polit- und Finanzskandal zieht immer weitere Kreise. Ausgangspunkt dieser Affäre sind ganz banale Schiebungen auf den Konten einer Luxemburger Finanzholding, wobei unter den Kontoinhabern führende Mitglieder der PS und UMP auftauchen. Offensichtlich wurde dann aus dem Dunstkreis von Chirac heraus versucht, diese Affäre zur Diskreditierung von Sarkozy innerhalb der UMP zu instrumentalisieren.

Nun fällt der Skandal, in den auch Führungskräfte ehemaliger Staatsunternehmen wie EADS verwickelt sind, auf Chirac und Villepin zurück.

Diese für die Rechte immer weiter ausufernde Krise zeigt wieder einmal, wie verrottet nicht nur die politische Rechte ist, sondern die V. Republik als gesamte Institution. Dieses politische System basiert auf der persönlichen Macht des vom Volk gewählten Präsidenten der Republik, wodurch die ohnehin schon überreichliche Zentralisierung des politischen Lebens in Frankreich noch verschärft wird. Alles ist auf die Regierung und den Präsidenten zugeschnitten, während das Parlament kaum und die lokalen Institutionen noch weniger Spielraum haben. Nachdem das System den Mai 68 und unzählige Krisen überdauert hat, scheint es nun am Ende zu sein.

Die Krise hält die Regierung aber nicht von weiteren Vorstößen ab. Nach der Privatisierung der GDF durch die Fusion mit der Geschäftsbank Suez, richtet sich der nächste Vorstoß gegen die demokratischen Freiheiten. Seitens des Parlaments wurde ein Gesetz verabschiedet (SECEDA), mit dem Sarkozy die Einwanderung angeblich selektiv steuern, in Wirklichkeit aber die Existenzbedingungen für Hunderttausende von Immigranten weiter verschärfen will und damit das Einwanderungsrecht zur Makulatur macht.

Damit rückt der Erfolg gegen den CPE wieder weit in den Hintergrund! Und es wird schmerzlich klar, dass all diese sozialen und politischen Mobilisierungen der letzten Jahre auf dasselbe Ergebnis rauslaufen: die Kraft und die Radikalität, die hinter diesen Bewegungen stecken, verlangen nach einer angemessenen Perspektive. Dafür bedarf es einer kämpferischen Linken, die mit den „linken“ Sachwaltern des Kapitalismus bricht – eine antikapitalistische Linke!

Die neue Generation, die in diesem Frühjahr n den Kampf getreten ist, kann dafür eine wesentliche Stütze werden.

Laurent Carasso ist Gewerkschaftsaktivist und Mitglied des Politischen Büros der LCR, der französischen Sektion und Mitglied des Internationalen Komitees der IV. Internationale


Übersetzung MiWe


 
   
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