Brasilien

Soziale Bewegungen in Brasilien: Lula in Schwierigkeiten

João Machado

Am 11. Juni demonstrierten fast 40 000 Arbeiter in Brasilia gegen die geplante Rentenreform der Regierung Lula, welche die Rentenbedingungen für Staatsangestellte drastisch verschlechtern wird.

Das Ausmaß der Demonstration war zwar nicht gewaltig, doch es handelte sich dabei um die erste große Mobilisierung gegen eine wichtige Initiative der Regierung Lula. Die Initiative zur Mobilisierung ging vom Nationalen Verband der Angestellten des Bildungswesens (CNTE) aus, welcher dem nationalen Gewerkschaftsdachverband CUT angehört. Obwohl der Großteil der Leitung vom CUT dem moderaten Mehrheitsflügel der Arbeiterpartei Lulas (PT) zuzurechnen ist, unterstützte und beteiligte sich der Dachverband an der Mobilisierung. Die Mehrheit der DemonstrantInnen waren denn auch Parteimitglieder der PT.


MIT GRÜNEM LICHT ODER OHNE


Die Regierung Lula versuchte, die Abgeordneten der PT an der Teilnahme an der Demonstration zu hindern. Das Unterfangen war derart ungewöhnlich, dass es sich als unmöglich herausstellte. Angesichts der Tatsache, dass eine große Anzahl von ParlamentarierInnen mit oder ohne Einverständnis der der Regierung an der Demonstration teilnehmen wird, musste diese zurückkrebsen. Die Parlamentsfraktion der Partei entsendete eine offizielle Delegation, der sich eine große Anzahl ParlamentarierInnen anschloss. Als Anführerin der Angestellten des öffentlichen Sektors besonders legitimiert und wohl die bedeutendste Person der Demonstration war die Senatorin Heloïsa Helena.

Verschiedene Teile der PT befinden sich in Opposition zu zentralen Programmpunkten der Regierung Lula. Am 29. Mai veröffentlichten etwa 30 PT-Abgeordnete ein Manifest, in welchem die Rentenreform sowie die Wirtschaftspolitik der Regierung kritisiert wird. Der Kongress des CUT verabschiedete am 7. Juni kritische Resolutionen zu den gleichen Belangen. Am 10. Juni trat eine Gruppe landesweit angesehener Intellektueller, größtenteils aus dem Umfeld der PT, mit einem "Alarm-Manifest" gegen die Rentenpläne der Regierung an die Öffentlichkeit. Und noch ein paar Tage später publizierten ÖkonomInnen zwei Manifeste [1], in welchen die Wirtschafts- und Sozialpolitik Lulas angeprangert werden. Am 22. Juni schließlich verabschiedete auch der nationale Dachverband der Studenten, dessen Mitglieder mehrheitlich der PT oder der KP (Kommunistische Partei Brasiliens, Partei mit maoistischen Wurzeln und heute Mitglied der Regierung Lulas) angehören, kritische Resolutionen, die in die gleiche Stoßrichtung gehen.

Meinungsumfragen zeigen aber, dass die Popularität Lulas bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht im Sinken begriffen ist. Sogar die Rentenreform kann mit dem Einverständnis der Mehrheit der Bevölkerung rechnen. Im Gegensatz dazu beginnt sich in den organisierten Sektoren der Gesellschaft, und im speziellen in denen, die der PT nahe stehen, ein Meinungsumschwung abzuzeichnen. Das Schicksal der Rentenreform ist noch unklar. Bis zum jetzigen Zeitpunkt zeigt sich die Regierung gewillt, die Reform bis auf kleinere Abänderungen wie vorgesehen umzusetzen und kann dabei auf die Unterstützung fast aller Parteien zählen. Da die Regierung heute die Unterstützung fast aller Rechtsparteien genießt, konnte sie ihre Machtbasis im Parlament noch weiter ausbauen. Sogar die formellen Oppositionsparteien wie die PSDB und die PFL unterstützen diese Reform, die sich der Kontinuität bezüglich der Politik vorangegangener Regierungen verschrieben hat. Doch auch innerhalb des Parlaments ist die Situation der PT nicht nur komfortabel. Die eigene Parlamentsfraktion der PT brachte eine Reihe von Änderungsanträgen zu den umstrittensten Punkten wie Beitragszahlungen der nicht (mehr) im Erwerbsleben Stehenden, die Berechnung des Renteneintrittsalters, die zukünftigen Rentenbeträge für heute noch im öffentlichen Dienst Berufstätige. Darüber hinaus verteidigte der CUT gemeinsam mit einigen ParlamentarierInnen seine eigenen Änderungsanträge, die die Ausrichtung der Reform grundsätzlich in Frage stellen.

Um die Sache für die Regierung noch komplizierter zu machen, stößt die Umsetzung der zweiten großen Reform des Regierungsfahrplans, die des Steuerwesens, ebenfalls auf größere Schwierigkeiten als erwartet. Auch sie wurde Gegenstand unzähliger und widersprüchlicher (Rückgängig machen, Verschärfen etc.) Abänderungsanträge und stieß auf den Widerstand einiger Sektoren der Unternehmerschaft. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Regierung die Steuerreform in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten kann, dies aber macht ihre Unnachgiebigkeit in der Rentenreform noch gefährlicher. Es ist klar, dass der Ausgang der Rentenreform hauptsächlich von der eigenen Mobilisierung der Staatsangestellten abhängt. Diesbezüglich gibt es aber unterschiedliche Taktiken. Während eine Mehrheit der CUT eine Mobilisierungstaktik zu Gunsten von Änderungsanträgen, die die grundsätzliche Stoßrichtung der Reform modifizieren wollen, verfolgen, ohne aber zum jetzigen Zeitpunkt Streikaktionen gutzuheißen, schlagen andere Gruppen vor, die Regierung durch Kampfmaßnahmen, wie beispielsweise einem Streik, der am 8. Juli beginnen sollte, zum Rückzug der Reformpläne zu zwingen. Eine beschlussfassende Versammlung ist für den 5. Juli vorgesehen.


WACHSENDE UNTERSTÜTZUNG FÜR DIE RADIKALEREN KRÄFTE IN DER PT


Dies wirkt sich auch deutlich auf den Disziplinarprozess der PT-Parteileitung gegen einige als "Radikale" titulierte ParlamentarierInnen (Senatorin Heloïsa Helena und drei Bundesabgeordnete) aus. Das Klima bewegt sich in Richtung zunehmender Herausforderung durch die Regierung und gleichzeitig anwachsender Unterstützung der von den "Abweichlern" verteidigten Positionen. Am 28./29. Juni traf sich die Ethikkommission der nationalen Parteileitung mit dem Auftrag, die verschiedenen Zeugen anzuhören. Einige der meistrespektierten Intellektuellen der Partei bezogen Stellung für die Angeklagten und opponierten gegen die angedrohten Sanktionen. Darüber hinaus gab es aber auch spezifische und persönlichere Aussagen zur Verteidigung der einzelnen Angeklagten. Der ohne Zweifel angesehenste Senator der PT, Eduardo Supplicy, die Abgeordneten Walter Pinheiro, Lindberg Farias, Luciano Zica als Repräsentanten der Parteilinken sowie die Gewerkschafter von Alagoas (Herkunfts-Bundesland von Heloïsa) sprachen sich zu Gunsten von Helena aus.

Am 28. Juni sprach eine alternative Jury die vier Angeklagten frei und verurteilte zugleich die Rentenreform. Der für das nationale Leitungstreffen vom September vorgesehene Schiedsspruch droht aber von der Parteileitung abgeändert zu werden.

Aus: Rouge 2024, 3.7.2003
Übersetzung: Tobias



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 382/383 (September/Oktober 2003).


[1] Eines davon ist in der vorliegenden Inprekorr dokumentiert [Anm. d. Red.].