Eine andere Welt ist möglich, ein anderes Argentinien ist möglich und notwendig.
Eduardo Lucita
Mit seiner Entscheidung, im Jahr 2002 zwei themenbezogene Foren durchzuführen, das eine in Argentinien und das andere in Palästina, wollte das Exekutivsekretariat unterstreichen, in welchem Maße die weltweite Bewegung von der tiefen Krise eines Landes erschüttert worden ist, das durch die Anwendung der neoliberalen kapitalistischen Konzepte zerstört worden ist, und zugleich mit welch großem Interesse sie den Widerstand der sozialen und politischen Bewegung dieses Landes beobachtet. [1]
Vier Tage lang waren die Plaza Houssay im Zentrum von Buenos Aires und die umliegenden Universitätsgelände das Epizentrum von vielfachen unterschiedlichen und gelegentlich widersprüchlichen Aktivitäten, die im Rahmen des Argentinischen Weltsozialforums stattgefunden haben. Bedeutende Delegationen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern waren anwesend. Am 22. August fing das ganze mit dem Eröffnungsmarsch an, der an der Plaza de Mayo begann, wo die traditionelle Mahnwache der Madres (Mütter) stattfindet; über 10 000 Personen zogen mit und skandierten ihre Parolen "Nein zum Neoliberalismus, Nein zu ALCA!". Höhepunkt war eine Großkundgebung, an der unter anderem der bolivianische Führer der Cocaleros Evo Morales teilnahm.
Etwa 10 000 Personen -- und bei den Höhepunkten bis zu 15 000 -- nahmen an den zentralen Podiumsdiskussionen und den Aktivitäten teil, die von den rund 500 sozialen Organisationen, die zu dem Forum aufgerufen hatten, selbst organisiert wurden. Zahlreiche Aktivitäten fanden außerdem in den Städten des Landesinneren, an anderen Orten als Buenos Aires und Umgebung statt.
Dass die linken politischen Parteien (mit Ausnahme der argentinischen kommunistischen Partei, die sich in Gestalt ihrer zahlreichen sozialen Verbände engagiert hat), die Vereinigung der Mütter von der Plaza de Mayo (die an der Vorbereitung des Forums scharfe Kritik geübt hat) sowie der Gewerkschaftsverband CTA (der an der Idee keinen Gefallen fand und sich erst spät mit einigen wenigen beteiligt hat) sowohl bei der Vorbereitung als auch der Durchführung des Forums weggeblieben sind, hat zweifellos zu einer geringeren Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern geführt. Dagegen hat die Piquetero-Bewegung sich (mit Ausnahme des "Polo Obrero", der Organisation der "Partido Obrero" in dieser Bewegung) massiv engagiert, ihre Präsenz war bei zahlreichen Veranstaltungen zu bemerken. Zu verzeichnen war insbesondere die Mobilisierung seitens der Coordinadora Aníbal Verón und der Erwerbslosenbewegungen (Movimientos de Trabajadores Desocupados, MTD) "Teresa Rodríguez", "Territorial de Liberación" und "Barrios de Pie". [2]
Nationale Versammlung gegen ALCADas Vorhaben einer Freihandelszone der Amerikas (ALCA) wurde in den Kontext der lateinamerikanischen Krise gestellt und als Teil eines Plans zur Umstrukturierung der imperialistischen Herrschaft in der Region betrachtet.Der folgende Aktionsplan wurde angenommen: Etappe der Mobilisierung, mit folgenden Zielen:
Etappe der kontinentalen Einflussnahme: Auswertung und Skizzieren weiterer Schritte; Durchführung einer Gipfelkonferenz und Mobilisierung der amerikanischen Völker in Buenos Aires im April 2003. |
Die Organisatoren und Organisatorinnen der Versammlung hatten sich weitgehend an dieselben Kräfte gewandt, die an den beiden Weltsozialforen in Porto Alegre teilgenommen hatten. Doch war der Grundton des Forums in Buenos Aires radikaler und stärker linksorientiert. Denn die Krise Argentiniens und die "Ansteckung" Uruguays und Brasiliens (in der Vorwahlzeit) im Rahmen einer Situation, zu der eine Revolte in mehr oder minder ganz Lateinamerika gehört, wirkten sich auf die Orientierung der Veranstaltung aus. Dadurch hat die Bewegung für eine andere Globalisierung, die als ein Überbauphänomen erscheinen konnte, im Kontakt mit dem argentinischen Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung eine konkretere Gestalt angenommen.
Diese Orientierung hatte das Organisationskomitee aufgegriffen, als es um die Festlegung der zentralen Debatten ging. Es gab folgende Themen: "Die argentinische Krise im Kontext des internationalen Kapitalismus", "Der neoliberale Staat und die Krise der Demokratie", "Der Neoliberalismus und die Hegemonie der Vereinigten Staaten in der Region", "Die Formen der sozialen Selbstaktivitäten und die alternativen Experimente", "Die wirtschaftlichen Alternativen für einen Ausweg aus der Krise", "Die Knebelung der sozialen Rechte durch den Kapitalismus", "Ein neues Amerika für eine neue Welt -- Widerstand und Konvergenzen von Argentinien bis zur globalen Bewegung". Bei diesen Debatten mischten sich Führer und Führerinnen der sozialen Bewegungen, Intellektuelle und Aktive der Bewegung für eine andere Globalisierung aus Argentinien und anderen Ländern. Am Ende des Tages kamen jeweils zwischen 1500 und 2000 zusammen, mehr als in die großen Universitätshörsäle oder unter das auf der Plaza Houssay aufgebaute Zeltdach passten.
Ein Rundgang durch verschiedene Orte, an denen die verschiedenen überfüllten Arbeitsgruppen und Seminare stattfanden, vermittelte einen Eindruck davon, wie intensiv dort diskutiert wurde. Themen waren die Auslandschulden, Umweltfragen, der Charakter der Stadtteilversammlungen, die Rolle der Medien, die Inbesitznahme der öffentlichen Räume und der verschiedenen Varianten von Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe und der Selbstorganisierung der Erwerbslosenbewegung, die Frauenbewegung, Fragen des Geschlechts und des Rechts auf Abtreibung, Biotechnologie, Genmanipulation und Nahrungsmittelsouveränität, die Krise in Argentinien und die kapitalistische Globalisierung, die Politik gegen die Krise, Demokratie "von unten" und der Zusammenbruch der repräsentativen Demokratie, die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Diskriminierung usw.
Dem "Comité de Movilización en Argentina contra el ALCA" [3] ist es gelungen, den Kampf gegen eine Freihandelszone, die sich auf den gesamten Kontinent erstreckt, als einen zentralen Bestandteil der Krise in Lateinamerika darzustellen, und es stellte das Projekt ALCA richtigerweise in den Kontext der umfassenderen strategischen Planung, zu der sowohl der Plan Colombia als auch der Plan Puebla Panama gehören. So war die Nationale Versammlung gegen ALCA, die am Samstag den ganzen Tag über stattfand, eine der zentralen Achsen des Forums. Ihr Höhepunkt waren die Verabschiedung einer Erklärung, in der das Projekt ALCA klar abgelehnt wird, und eines Plans für Mobilisierungen auf dem ganzen Kontinent (siehe Kasten).
Im Unterschied zu Porto Alegre 2002 hat es die sozialdemokratisch orientierte linke Mitte nicht geschafft, in Buenos Aires signifikant in Erscheinung zu treten -- im Gegensatz zu der populistischen Strömung auf sozialchristlicher Grundlage, die trotz der geringen Sichtbarkeit der CTA, ihrer wichtigsten Organisation in Argentinien, gut vertreten war. Dagegen hat eine linke, radikale und antikapitalistische Tendenz die Debatten dieses Forums weitgehend geprägt. Das war in zahlreichen Arbeitsgruppen, bei zahlreichen zentralen Debatten [4] und dem Seminar "Argentinische Krise und die kapitalistische Globalisierung" (siehe Kasten) besonders deutlich sichtbar.
Antikapitalistisches SeminarDie [argentinischen] Zeitschriften Cuadernos del Sur,Herramienta und Realidad Económica haben ein internationales Seminar organisiert, bei dem es darum ging die Krise in Argentinien nicht nur als Produkt des Neoliberalismus, sondern als Krise des Kapitals als konkrete Form der kapitalistischen Globalisierung zu verorten; weiter ging es um die nordamerikanische Offensive in der Region als Ausdruck dessen, dass der Imperialismus seine Herrschaftsordnung neu organisieren muss; sowie darum, dass der soziale und politische Widerstand, den diese Offensive hervorruft, insbesondere im Fall von Argentinien, Formen von Selbstorganisation, direkter Demokratie und Selbstverwaltung annimmt, die sich der Institutionalisierung der bürgerlichen Demokratie entziehen und den gegenwärtigen Kämpfen eine antikapitalistische Perspektive verleihen.In diesem Rahmen fanden drei Debatten statt, die von Eduardo Lucita und Aldo Romero koordiniert wurden:
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Die Beziehungen zwischen der sozialen Bewegung und den Parteien, die "Horizontalität" und die Organisationsformen, Autonomie und Parteistrukturen, repräsentative Demokratie und direkte Demokratie, die Krise in Argentinien als Produkt des neoliberalen Modells und als Krise des Kapitals, die Tendenzen zur Selbstverwaltung, die Genossenschaften, Arbeiterkontrolle und Arbeiterselbstverwaltung, die autonomen Produktivprojekte und die Ziele der Produktion [5], die Gültigkeit und Bedeutung der Kategorien "Klasse", "Volk" oder "Menge" [6] -- dies waren die Themen, von denen die Diskussionen in den wichtigeren Arbeitsgruppen, Seminaren und Versammlungen geprägt wurden.
Es gab jedoch eine Frage, die sich vor alle anderen drängte: Die Debatte über Staat, Nation und Souveränität -- wie sie auch in Porto Alegre schon zu bemerken war -- zwischen denjenigen Tendenzen, die (wenn auch mit unterschiedlichen Varianten) auf den Rückzug auf den Nationalstaat setzen, um der kapitalistischen Globalisierung etwas entgegenzusetzen, und denjenigen, die sich jeder Art nationaler Lösungen entgegen stellen und für eine demokratische Globalisierung eintreten. Beide erwiesen sich als undialektisch: Den einen gelingt es nicht, die eingetretenen Veränderungen zu begreifen, so dass sie für eine Rückkehr zur Vergangenheit, zu einem nationalen Kapital und einem Staat eintreten, denen längst die Legitimität und die Lebenskraft der vorherigen Phase des Kapitalismus abhanden gekommen sind. Von den anderen werden historische Tendenzen des kapitalistischen Systems als bereits abgeschlossen betrachtet.
Auf diesem Sozialforum hat die sich herausbildende antikapitalistische radikale linke Tendenz die Frage dialektischer formuliert, sie in den Rahmen des Klassenkampfs und der politischen Intervention in diesen Kampf gestellt. Diese Tendenz registriert das nahende Ende der Expansionsperiode der Nationalstaaten und die Existenz von lateinamerikanischen Bourgeoisien, die dem imperialistischen Kapital vollständig untergeordnet sind, stellt aber auch die Stärke des imperialistischen Drucks und die Widersprüche dieses Kapitals auf dem Weltmarkt fest.
Bei dem Wechselverhältnis zwischen dem lokalen und dem globalen Kampf vermag unter den gegenwärtigen Bedingungen nur der Antiimperialismus eine antikapitalistische Perspektive zu befördern, die sich in einer sozialen und politischen Bewegung verkörpert, welche eine autonome und vom Staat und den untergeordneten Bourgeoisien unabhängige gesellschaftliche Hauptkraft darstellt. Mit dieser Auffassung, die wir teilen, hat das Sozialforum in Argentinien einen ausgesprochen weiten Raum für ein Zusammenkommen der Bewegungen im Kampf und für eine potentielle Verknüpfung der allgemeineren globalen Kämpfe mit den örtlichen und regionalen Kämpfen geboten; es ging über den "Anti-Neoliberalismus" hinaus, ohne ihn zu negieren, zugunsten einer Orientierung auf eine klare Konfrontierung mit dem Kapital.
Diese Diskussionen und der Meinungsaustausch haben zu einem höheren politischen Niveau des Forums geführt. Bemerkenswert ist, dass ein Sozialforum, an dem nach seiner eigenen Definition nur soziale Bewegungen teilnehmen können und die Parteien draußen bleiben (ein Aspekt, der ernstlich in Frage gestellt wurde), zwei politische Führungspersonen in den Vordergrund treten ließ: die sehr populären Abgeordneten Evo Morales (Bolivien) und Luis Zamora (Argentinien).
Mit einer brechend vollen "Versammlung der Sozialen Bewegungen" wurden die viertägigen Diskussionen abgeschlossen; Zustimmung erhielten die Aufkündigung der Außenschulden, die absolute Ablehnung der ALCA, die Ablehnung der Militarisierung des Kontinents und die Kriminalisierung der sozialen Proteste. Hier wurde die Durchführung des subregionalen Forums in der argentinischen Provinz Corrientes, des Forums in Uruguay (November) und des europäischen Forums in Florenz angekündigt, die alle Teil der Mobilisierung für das dritte Weltsozialforum sind.
Die Versammlung ging zu Ende mit der Zusage der Unterstützung für die Kundgebung, zu der unter dem Motto "Que se vayan todos!" (Alle sollen sie abhauen!) für den 30. August in Buenos Aires aufgerufen worden war. Darin nahmen einige Charakterzüge des Forums noch einmal konkrete Gestalt an, indem es aus dem Schatten seiner vielfachen Widersprüche tretend sich nach vorn bewegte und gegen das Kapital des eigenen Landes den globalen Widerstand organisierte.
Dann kamen Musik, Unterhaltung und Freude über die geleistete Arbeit, Umarmungen und Verabschiedungen an die Reihe, doch auch die Versicherungen, dass man sich 2003 in Porto Alegre wiedersehen wird.
Eduardo Lucita ist Redakteur der argentinischen marxistischen Zeitschrift Cuadernos del Sur und Mitglied des Argentinischen Komitees für
das Weltsozialforum und des Kollektivs "Economistas de izquierda" (EDI --Linke Wirtschaftswissenschaftler). Übersetzung: Friedrich Dorn |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 374/375 (Januar/Februar 2003).