Weltsozialforum:

Zweites Weltsozialforum in Porto Alegre

Zwischen dem ersten Weltsozialforum (WSF) letztes Jahr und dem zweiten Treffen in Brasilien vom 31. Januar bis 5. Februar diesen Jahres liegen große und angesichts der kurzen Zeit kaum zu glaubende Fortschritte. Während die Krise in Argentinien das Scheitern des neoliberalen Wirtschaftsmodells dokumentiert und Washington sich einer permanenten Kriegspolitik verschrieben hat, werden in Porto Alegre die Bande einer internationalen Solidarität geknüpft.

Emile Jourdin, Anne Leclerc und Pierre Rousset

700 Arbeitskreise, Dutzende von Konferenzen, zwei zentrale Kundgebungen, Jugend- und Bauernversammlungen, Initiativen zuhauf. Manche mussten sich verloren vorkommen; die meisten Teilnehmer jedoch konnten aus zufälligen Begegnungen anscheinend solidarische Kontakte knüpfen, indem sie von den zahlreichen angebotenen Aktivitäten Gebrauch machten oder ihre politischen Netzwerke nutzten. Wie soll mensch wiedergeben, was sich hier alles an direktem Austausch ergab. Insofern müssen wir uns auf einzelne Schwerpunkte beschränken.

Von der Teilnehmerzahl her war das Forum ein offensichtlicher Erfolg, wobei genaue Zahlen schwierig sind, da die Veranstaltungen über die ganze Stadt verteilt waren. Mit geschätzten 60.000 TeilnehmerInnen war die Resonanz viermal so hoch wie im vergangenen Jahr, was auf eine deutlich gestiegene Mobilisierung auf brasilianischer, aber auch auf internationaler Ebene zurückzuführen ist. Die größten ausländischen Delegationen kamen aus Argentinien und Italien, hiernach Frankreich mit über 800, den USA mit 420, Spanien, Chile, Uruguay und Kanada.

Aus europäischer Sicht kommt dieser Erfolg nicht überraschend, da die Antiglobalisierungsbewegung ihre wachsende Dynamik immer wieder unter Beweis gestellt hat. Für Lateinamerika jedoch war Porto Alegre ein wichtiger Test. Viele Brasilianer hatten Angst vor den Folgen des 11. September und zweifelten bis zuletzt an den erwarteten Teilnehmerzahlen. Die Standfestigkeit des WSF brachte sie ins Staunen: "Und das 3 Monate nach den Attentaten...". Der Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung zeigte sich in Belgien so beständig wie in Rio Grande do Sul. Selbst in den USA, wo der Trend vorläufig gestoppt erscheint, ergab sich mit dem Ausweichen des Forums von Davos nach New York eine Gelegenheit für den Gewerkschaftsverband AFL-CIO und die anderen Beteiligten, wieder die Initiative zu ergreifen und ihre Opposition gegen die neoliberale Politik öffentlich zu demonstrieren.

Besonders in der Abstimmung zwischen den sozialen Bewegungen zeigt sich, welche Fortschritte im vergangenen Jahr gemacht wurden. Um künftig die regelmäßige Kommunikation zu vereinfachen, wurden der brasilianische Gewerkschaftsverband CUT und Via Campesina, in der gerade die Landlosenbewegung vertreten ist, mit dem Aufbau eines technischen Sekretariats betraut. Ähnliche Sekretariate könnten bald in anderen Teilen der Welt entstehen, um den sozialen Bewegungen um das WSF eine feste und zugleich flexible Struktur zu verschaffen.

Der von ihnen kürzlich herausgegebene Aufruf zu Mobilisierungen zeugt von diesem Fortschritt. Darin werden - wie letztes Jahr auch - die desaströsen sozialen und ökologischen Folgen der neoliberalen Globalisierung angeprangert. Traditionelle Forderungen wie nach Schuldenannullierung für die Dritte Welt und nach Demokratie werden darin erhoben; aber auch die Gegnerschaft zum Krieg ist integrativer und konstitutiver Bestandteil der Bewegung geworden. Die Solidarität mit dem argentinischen und palästinensischen Volk kommt darin zum Ausdruck. Die Agenda am Schluss ist dicht gepackt mit internationalen Ereignissen, zu denen 2002 und 2003 gemeinsam mobilisiert wird.

Bushs Brandreden werden in Brasilien hautnah erlebt. Allein in den letzten Monaten wurden sieben führende Gewerkschafter und Politiker, darunter zwei Bürgermeister der PT, ermordet. In São Paulo wurde während des WSF ein Gewerkschaftsbüro der CUT von einer bewaffneten Bande verwüstet. Dies alles hält den neuen US-Staatssekretär für Lateinamerika nicht davon ab, drei "Hauptrisiken" anzuprangern: Kolumbien, Argentinien und den möglichen Sieg von Lula, dem Kandidaten der PT bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Den brasilianischen Todesschwadronen wird damit grünes Licht signalisiert!

Die Kriegsfrage

Die Tagesordnung auf dem Treffen der Parlamentarier im Rahmen des WSF wurde von der Kriegsfrage dominiert. Insbesondere forderten weite Teile der italienischen Delegation um die PRC und die centri sociali, dass neben der Verurteilung des Krieges im Allgemeinen der Krieg in Afghanistan im Besonderen angeprangert wird. Die Sozialdemokraten und besonders die französischen lehnten jeden Bezug auf dieses Land ab. Die Lateinamerikaner legten allergrößten Wert auf eine entschiedene Verurteilung der neuen Bush-Doktrin. Auf ihr Betreiben wurden schließlich zwei Resolutionen hierzu verabschiedet, wobei in einer auf Afghanistan Bezug genommen wird. Andere Erklärungen befassen sich mit Argentinien, der Aufhebung der Blockade Kubas, der Ablehnung des Kolumbien-Plans und der amerikanischen Freihandelszone ZLEA, die Washington auf dem ganzen Kontinent durchsetzen will. Außerdem wurde auf diesem zweiten Forum endlich der Aufbau eines internationalen Netzwerks der Parlamentarier in Angriff genommen, was im Grundsatz schon 2001 beschlossen worden war.

Auch auf dem Jugendsektor gab es Fortschritte. Das 2. internationale Jugendcamp war ein voller Erfolg mit mehr als 15.000 Teilnehmern aus ungefähr 40 Ländern und einer Atmosphäre aus permanenter Fête, politischer Diskussion und Mobilisierung. Durch das hohe Diskussionsniveau in den Arbeitsgruppen konnten wirkliche Annäherungen unter den Jugendbewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung erzielt werden, was Aktionsformen, Kampf gegen ungesicherte Beschäftigung und aktive und basisorientierte Gewerkschaftsarbeit angeht. Das enorme Angebot von offenen und auf Querverbindungen beruhenden Diskussionen hat viele Teilnehmer des WSF inspiriert. Das Projekt Intergalactika dient bspw. der weltweiten Vernetzung der verschiedenen Bewegungen und Mobilisierungen. Die Wiederaneignung des 1. Mai unter dem Namen "Tag des Kampfes und des weltweiten Widerstands" wird ab diesem Jahr zu einem festen Termin für eine gemeinsame Mobilisierung in Süd und Nord.

Gleichzeitig lässt die massive Beteiligung aus Lateinamerika (Brasilien, Argentinien) und aus den verschiedensten Bereichen (Studenten, NRO's, Antiglobalisierungsbewegung oder politische Organisationen) auch auf eine Vereinheitlichung der laufenden internationalen Kämpfe der Jugend hoffen. Beim nächsten Camp 2003 gilt es, eine tatsächliche weltweite Repräsentanz zu schaffen, die auch Afrika und Asien einschließt. Hierbei werden die regionalen Foren Ende 2002 von Nutzen sein.

Die Rolle der Frauenbewegung

Den Anliegen der Frauenbewegung wurde während des gesamten Forums Rechnung getragen. Die brasilianischen Teilnehmerinnen am Weltfrauenmarsch haben Bemerkenswertes geleistet, um den Kampf gegen Armut und Gewalt gegen Frauen zu einem breiten Anliegen werden zu lassen. Die Organisatorinnen des Marsches haben bspw. ein Seminar zum Thema: "Eine feministische Alternative für eine andere Welt" und eine Konferenz zur Frage der Gewalt gegen Frauen bewerkstelligt. Das lateinamerikanische Frauennetzwerk für einen Wirtschaftswandel Remte und die Organisatorinnen des Marsches, besonders aus Brasilien, Ecuador, Peru und Mexiko haben einen Workshop zum Thema Frauen und Arbeit initiiert. Diese Initiativen waren sehr erfolgreich. Eine Diskussion über die Rolle der Frauen beim Kampf in Argentinien wurde von den Genossinnen des Netzwerkes "Argentinische Frauen im Kampf" angeboten. Eine Vertreterin der Vereinigung Revolutionärer Frauen Afghanistans (Rawa) wurde zum WSF eingeladen, um die Situation in Afghanistan darzulegen.

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Die Beteiligung der feministischen Bewegungen am Forum und auf den Kundgebungen zum Auftakt und gegen die ZLEA war sehr rege. Auch im Rahmen des Forums gab es weitere Kundgebungen: für das Recht auf Abtreibung, gegen den Fundamentalismus, für Gleichberechtigung. Die Organisatorinnen des Weltfrauenmarsches haben an der Schlusserklärung der sozialen Bewegungen mitgewirkt. Hierin wird der Kampf gegen das Patriarchat zum integrativen Bestandteil des Kampfes gegen den Wirtschaftsliberalismus erklärt. Weiterhin werden die Rechte der Frauen, auf gleichen Lohn z.B., ebenso wie die Verurteilung sexueller Ausbeutung zum Ausdruck gebracht.

Das WSF bereitet seine internationale Ausdehnung vor. Wenn das dritte WSF wieder in Porto Alegre stattfindet, soll das Folgetreffen in Indien sein. 2005 ist Afrika an der Reihe. Ab kommenden Herbst werden Regionalforen abgehalten - in Italien für Europa, im Folgejahr in Frankreich.

Porto Alegre ist der Schmelztiegel eines neuen Internationalismus. Aus einem Event ist ein veritabler Prozess geworden.

Aus rouge, Wochenzeitung der LCR, französische Sektion der IV. Internationale
Übersetzung: Miwe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 365 (März 2002).