Vietnam

Eine Reise nach Vietnam

Interview mit einem vietnamesischen revolutionären Marxisten

Unser Genosse Tuân, der seit Ende der fünfziger Jahre in Frankreich lebt, kehrt seit 1990 immer wieder nach Vietnam zurück. Über seine früheren Reisen hat er ebenfalls berichtet.* In dem folgenden Interview, das Jean-Michel Krivine im November geführt hat, wurde Tuân vor allem danach gefragt, was sich seit seinen früheren Reisen in Vietnam verändert hat.

Jean-Michel Krivine

Inprecor: Du bist in drei Provinzen von Vietnam herumgekommen und du hast eine Reihe von spürbaren Veränderungen gegenüber deinen früheren Reisen bemerkt.

Tuân: In den Jahren 1997/1998 hat Vietnam sich in eine Konsumgesellschaft verwandelt. Die jungen Leute mit einem Diplom wollten in erster Linie weg, ins Ausland gehen, um dort "Geld zu machen". Jetzt suchen die ausländischen Firmen im Lande einheimische Führungskräfte, und sie zahlen gut: 1997/1998 bekamen sie ein Monatsgehalt von 200 US-Dollar geboten; im Jahr 2000 bietet man ihnen 800 Dollar (wobei sich das Durchschnittsgehalt auf 100 Dollar beläuft). Hinzu kommt die Möglichkeit, zur "Weiterbildung" umsonst nach Thailand oder nach Singapur zu fahren.

Diese Jugendlichen wollen jetzt in Vietnam bleiben. Früher war es ein Traum, nach Frankreich oder Japan zu gehen. Für die Mittelschichten und für viele aus dem Volk waren auch die USA das Modell. Aber selbst wenn bekannt ist, dass ziemlich viele dort lebende Familien über Autos und schöne Wohnungen verfügen, so weiß man doch auch, dass es nicht das so sehnsüchtig erhoffte Paradies ist: Es ist schwierig, dort mit einem vietnamesischen Diplom, das nicht anerkannt wird, Arbeit zu finden, und man stößt auf Rassismus, sogar von seiten der Schwarzen oder der Puertoricaner.

Kurz gesagt, auch wenn es nach wie vor den Kult der grünen Geldscheine gibt, so sucht man sie derzeit eher im eigenen Land zu bekommen, als dafür ins Ausland zu gehen.

Hast du den Eindruck, dass der Übergang zur Marktwirtschaft mit einem Bewusstsein darüber einhergeht, dass sie nicht alle Probleme lösen wird?

Tuân: Seit der Öffnung von 1986/1987 will Vietnam der internationalen Gemeinschaft beitreten. Es wollte Teil des ASEAN [Südostasienpakts] sein (der geschaffen wurde, um die vietnamesische Revolution aufzuhalten), und es hat zur Zeit die Präsidentschaft in diesem Pakt inne. Es will der Welthandelsorganisation (WTO) beitreten. Viele Funktionäre werden ins Ausland geschickt, und die herrschende Schicht hat einen Wandel durchgemacht: Die derzeitigen Minister sind zwischen 50 und 55 Jahre alt, ihre Berater, ihre Büro- und Abteilungsleiter reisen in der Welt herum und fangen an, über die Auswirkungen der Marktwirtschaft und der Globalisierung nachzudenken. Man kann schematisch zwei Strömungen unterscheiden: die konservative Strömung (die "Alten"), die die Globalisierung als "höchstes Stadium des Kapitalismus" ablehnen, und die Strömung der Jüngeren, die die Globalisierung nicht ablehnen, aber auch nicht für gleich welche Art von Globalisierung sind. Bücher über die Demonstrationen in Seattle sind übersetzt worden, und ATTAC ist nicht unbekannt.

Auf ökonomischer Ebene ist Vietnam weniger als die "Tigerstaaten" von der Asienkrise 1997 betroffen (es hat keine Wertpapierbörse), die Auslandsinvestitionen sind jedoch gesunken. Die Priorität wird jetzt außer auf Erdöl auf die Landwirtschaft gelegt (Reisexport). Der von regionalen Ausgliederungen (z. B. Taiwan) profitierende Sektor stockt. In der Nähe des "Petit Lac" von Hanoi sollte ein Handelszentrum gebaut werden, doch die Baustelle ruht...

Die Regierenden wollen zur Zeit den Amerikanern schöne Augen machen. Clintons Reise ist unter diesem Aspekt betrachtet worden: Da er nicht mehr lange Präsident sein wird, ist er so etwas wie ein Handlungsreisender der Multis. Vor einigen Monaten wurde mit den Amerikanern ein Handelsabkommen abgeschlossen, das vor zwei Jahren noch abgelehnt worden war. General Electric hat einige Willkommenstransparente für Clinton gespendet.

Was wird vor diesem Hintergrund mit den Fremdsprachen?

Tuân: Sprechen wir nicht vom einst obligatorischen Russisch. Englisch breitet sich mehr und mehr aus, und ich habe in Hanoi Geschäfte mit Auslagen in englischer Sprache gesehen. Das Französische erholt sich wieder ein wenig, nach dem Gipfel der frankophonen Länder. Seit zwei, drei Jahren gibt es zweisprachige Klassen, in denen das Abitur in zwei Sprachen erworben wird, was es erlaubt, sich in einer französischen Fakultät einzuschreiben.

Wenn wir nun zur Politik kommen - hast du da bedeutende Veränderungen festgestellt?

Tuân: Es gibt sie, zweifellos. Man liest viele Memoiren, und viele stellen sich die Frage, was davon wahr ist, vor allem die jüngere Generation (bis 40 Jahre). Sie wissen nichts über den ersten Indochinakrieg [gegen Frankreich, 1946-1954]. Sie wissen ein wenig mehr über den zweiten, denn davon wird noch gesprochen (es gibt Gedenkfeiern usw.).

Seit drei Jahren sprechen die Alten wieder von der Vergangenheit und werfen auch bislang tabuisierte Fragen auf. Zum Beispiel ist anlässlich seines einhundertsten Geburtstags (am 29. September 2000) wieder von dem nationalistischen Führer Nguyen an Ninh die Rede gewesen. Ninh war in den dreißiger Jahren bekannter als Nguyen ai Quoc (der spätere Hô Chi Minh), und er beteiligte sich zusammen mit den Kommunisten und den Trotzkisten an der Zeitung La Lutte.

Er starb 1943 im Gefangenenlager von Poulo Condor an Erschöpfung. Obwohl er eher ein "Weggefährte" der Kommunisten war, wurde nach der Unabhängigkeit wenig über ihn gesprochen: Er hätte ja das Prestige von Hô in den Schatten stellen können. Außerdem wurde er zur selben Zeit Opfer der Repression von Seiten der Kolonialmacht wie Ta thu Thau, der populäre trotzkistische Führer, der dann im September 1945 von den Stalinisten ermordet wurde.

Von Nguyen an Ninh zu sprechen, hätte bei den Alten unnütze Erinnerungen wecken können. Doch zu seinem hundertsten Geburtstag wurde in Ho-Chi-Minh-Stadt zum ersten Mal eine große Gedenkveranstaltung genehmigt. Mehr als 200 Personen nahmen daran teil, vor allem ältere Menschen und Parteimitglieder. Dort wurde die Errichtung einer Statue, die Benennung eines Boulevards nach ihm und die Schaffung einer Gedächtnisstätte gefordert. Seine Tochter sprach und beschuldigte die Behörden, sie wollten für solch eine Gedächtnisstätte keinen Hektar Boden hergeben, während sie von seiner Familie neun beschlagnahmt hätten. Der alte Kommunist Tran Van Giau ergriff vom Podium aus das Wort und rief mit Tränen in den Augen: "Es war Ninh, der mich gelehrt hat, bewusst für die Revolution zu kämpfen!" Seit zwei Jahren sprechen viele Bücher von ihm. Sein Sohn hat ein dickes Buch veröffentlicht, in dem er die Trotzkisten als Revolutionäre darstellt, die einen anderen Weg gingen als die kommunistische Partei...

Vor drei Jahren wurde viel über die Bauernrevolte von Thai Binh gegen die korrupten Bürokraten gesprochen. Hat diese Bewegung Spuren hinterlassen?

Tuân: Und wie! Ich nenne ein Beispiel: In Ho-Chi-Minh-Stadt, Le-Duan-Straße 7, befindet sich das Büro der Nationalversammlung. Seit einem Jahr wird der Bürgersteig auf der Straßenseite gegenüber ständig von 200 Personen besetzt, Tag und Nacht. Sie haben einen Wald von Schildern und Transparenten aufgebaut, auf denen im Allgemeinen steht: "Es lebe Präsident Hô chi Minh!" und "Es lebe die Kommunistische Partei Vietnams!"

Dann folgen die Klagen über das Verhalten der Bürokraten in diesem oder jenem Dorf und die Forderung nach Gerechtigkeit. Der Presse wird nicht gestattet, sie aufzusuchen oder über sie zu berichten. Es gibt einen Haufen von Polizisten um sie herum; und man darf sich ihnen nicht nähern, um Fotos zu machen (mir ist es trotzdem gelungen, welche zu besorgen)... Doch die Regierung ist machtlos, denn es handelt sich um Familien von Helden des Unabhängigkeitskampfs, und die Anwendung brutaler Methoden würde in der Bevölkerung sehr schlecht ankommen. Während die vietnamesische Presse darüber schweigt, berichtet die Presse anderswo in Asien regelmäßig darüber.

Zur Korruption ist soviel zu sagen: Sie nimmt zu, und alle wissen Bescheid. Vor jedem Vertrag mit dem Ausland wechseln Umschläge die Besitzer; den Auftrag bekommt, wer am meisten schmiert. Man weiß nicht allzu viel darüber, was die Minister direkt betrifft, aber durchaus über ihre Umgebung. Ich habe mit eigenen Augen den fürstlichen Wohnsitz gesehen, den sich der Sohn des Ministerpräsidenten in Vung Tau am Cap St. Jacques an einem Berghang hat bauen lassen (ein Taxifahrer hat mir erklärt, was da zu erblicken war). Das Anwesen ist prunkvoller als das des früheren [südvietnamesischen] Präsidenten Thieu.

Es gibt also ein gewisses Nachlassen der Kontrolle über die Bevölkerung?

Tuân: Das ist unbestreitbar, die Leute haben weniger Angst. Man kann reden und zu den Leuten gehen. Die Bullen sind weniger eifrig und "professioneller" geworden. Die Intellektuellen werden "diskret" überwacht. Es gibt immer zwei Beamte vor der Wohnung der bekannten Regimekritiker, aber nur um durch ihre Anwesenheit Besucher abzuschrecken.

Anders als in Russland gibt es keine Oppositionspresse. Auch keine nicht-offiziellen Gewerkschaften (wobei es allerdings schrecklich weite Betätigungsfelder gäbe!). Somit können sich die Zeitungen nicht direkt zur aktuellen Unzufriedenheit der Staatsangestellten äußern, aber die Zeitung "Der Werktätige von Ho-Chi-Minh-Stadt" veröffentlicht unkommentiert vielsagende "Leserbriefe".

Die neuen Technologien begünstigen ebenfalls die Öffnung zum Ausland, ohne dass eine Kontrolle möglich wäre. Die Computer haben alle einen kostenlosen E-Mail-Anschluss. Man hat sogar Zugriff auf die Webseite von Rouge [der französischen LCR-Wochenzeitung]. In Hanoi und in Ho-Chi-Minh-Stadt gibt es eine Menge Internetcafés. Man muss dort sogar Schlange stehen. Die Gebühren sind bescheiden: 400 Dong pro Minute (etwa 6 Pfennig). Vor kurzem haben die Behörden ein Buch beschlagnahmt, in dem über nicht genehme Vorgänge berichtet wird (die "Hundert Blumen" von 1956/57). Der Protest dagegen wurde über E-Mail verbreitet.

Glaubst du, dass es trotz der Karikatur, die das aktuelle Regime darbietet, Aussichten für das Wiederentstehen eines echten sozialistischen Ideals in Vietnam gibt?

Tuân: Es gibt zweifellos eine - wenn auch von einer kleinen Minderheit getragene - Bewegung unter der Oberfläche, vor allem unter den Intellektuellen im Alter von 35 bis 40 Jahren, unter Schriftstellern, Künstlern, Filmemachern, die Kontakt zum Ausland haben. Gegenüber 1997 ist ein Wandel zu spüren: Es gibt einen Drang zu begreifen, und einige sehen, dass ein unverschnittener Marxismus dabei helfen kann. Unsere Übersetzungen von Trotzki-Texten (Verratene Revolution, Literatur und Revolution, Mein Leben) haben eine ausgesprochen gute Aufnahme gefunden, als wir sie ins Land brachten. Und wir setzen die Übersetzungsarbeit fort.

Vor zwei Jahren bin ich in Hanoi in einer Buchhandlung überraschend auf das Werk unseres Genossen Daniel Bensaïd, Marx l'intempestif, in vietnamesischer Übersetzung gestoßen. Und die Lektüre ist nicht gerade leicht. Und doch war die erste Auflage von 800 Exemplaren bereits in einem Jahr vergriffen, die zweite mit 1000 bis 1200 Exemplaren ist ebenfalls vergriffen, und jetzt gibt es schon die dritte Auflage. Wie lange wird es noch dauern, bis in Vietnam eine Konferenz mit Bensaïd zustande kommt? Ich bin sicher, da würden eine Menge Leute kommen.

Wir sind Zeugen eines Paradoxons: Die Marktwirtschaft benötigt ein gewisses Ausmaß an Demokratie, um funktionieren zu können, und dies ermöglicht es in einem gewissen Maße auch den wirklichen Gegnern dieser Wirtschaft, zu Wort zu kommen. Dies war vor sieben oder acht Jahren unvorstellbar, niemand hatte Zugang zu Fax und Internet oder konnte einfach Fotokopien machen. Doch um ausländische Firmen anzusiedeln, sind diese Mittel unerlässlich, alle Unternehmen brauchen E-Mail.

Ich sage nicht, dass Vietnam dank des Marktes ein wirkliches Aufblühen von Demokratie erleben wird, aber es wird von der früheren politischen Zwangsjacke befreit werden. Selbst die Kolonisation hat ja nicht nur negative Auswirkungen gehabt. Dank ihr konnten Männer wie Nguyen an Ninh, Ta thu Thau oder Hô chi Minh nach Frankreich kommen, die Errungenschaften der Französischen Revolution kennen lernen und für die Befreiung ihres Landes kämpfen.

Sicher, es gibt noch "Konservative", 75 bis 80 Jahre alte Männer, aber sie lenken immer weniger die Geschicke. Die Historiker, selbst die bekanntesten, wollen die Geschichte Vietnams neu schreiben. Zum Beispiel hat die Zeitschrift "Gestern und Heute" eine Untersuchung über die Familie von Hô veröffentlicht. Sein Bruder erscheint da in einem völlig neuen Licht. Bis dahin hatte er stets als Opfer der kolonialen Repression wegen seiner antifranzösischen Aktivitäten gegolten; doch er war ein Trunkenbold, der in trübe Machenschaften verwickelt war. Vor kurzem noch ganz unvorstellbar...

Das Wiederentstehen der sozialistischen Idee kommt von der Basis. Sie ist noch zerbrechlich, und die große Frage lautet: Was tun von außen, um zu helfen? Die politische Führung rühmt den chinesischen "Marktsozialismus" mit zehn Jahren Verspätung, nachdem sie ihn heftig kritisiert hatte. Sie lassen die "theoretischen" Schriften aus China über die "Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung" durch das Institut für Ökonomie und Soziologie mit der Aufschrift "Für den internen Gebrauch" übersetzen.

Es ist von großer Bedeutung, dass wir unsere Ideen den Vietnamesen bekannt machen, die ihre Vergangenheit zunehmend kritischer sehen und den Markt nicht als letzten Schrei der gesellschaftlichen Entwicklung betrachten. Warum veröffentlichen wir nicht wieder von Zeit zu Zeit die [in Frankreich erscheinende Zeitschrift] Chroniques vietnamiennes und setzen sie auf der Webseite von Rouge ins Internet?

Vielleicht schreibt eines Tages eine Studentin oder ein Student eine Arbeit über Nguyen an Ninh (oder womöglich über Ta thu Thau)? Die Veränderungen sind sicherlich noch minimal, aber es handelt sich um einen qualitativen Wandel: Nichts wird mehr sein wie vorher.

Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Günter Mull und Friedrich Dorn.



[*] Siehe die französische inprecor, Nr. 397, Dezember 1995; Nr. 408, Dezember 1996; Nr. 429, November 1998.
Auf deutsch haben wir das erste und das letzte dieser drei Interviews in Inprekorr veröffentlicht (Nr. 292, Februar 1996; Nr. 327/328, Januar/Februar 1999).


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 353 (März 2001).