RUSSLAND

Lasst sie Lieder singen

Mir war nicht so sehr danach, in die allgemeine Hysterie einzustimmen, als jeder etwas über die Nationalhymne schrieb. Aber jetzt, wo die neuen Symbole eingeführt und die Debatten versiegt sind, überwältigt mich plötzlich der Drang, meiner Meinung zu diesen neuen offiziellen Staatssymbolen Ausdruck zu geben.

Boris Kagarlitzki

Die liberale Intelligenz hatte argumentiert, die Musik von Alexander Alexandrow sei die "Hymne der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" gewesen. Tatsächlich war die Hymne der Partei "Die Internationale", und sie war bis 1942 auch die Hymne der Sowjetunion. In der Mitte des Krieges traf Stalin eine Reihe von Entscheidungen, um mit den alten revolutionär-kommunistischen Symbolen und Traditionen zu brechen. Er gab den Offizieren ihre Schulterstücke zurück und ersetzte die "Volkskommissare" durch Minister. Er klärte das Verhältnis zur russisch-orthodoxen Kirche und löste die Komintern auf.

Die Alexandrow-Hymne war von Anfang an als offenes Signal der Rückkehr zu Stil und Methoden der alten Monarchie gedacht. Sie war die Parteiversion von "Gott schütze den Zaren". Indem er diese Hymne mit dem zaristischen Doppeladler zusammenbrachte, vollendete Präsident Wladimir Putin nur, was Stalin begonnen hatte. Die Rückkehr zur Sowjethymne soll das derzeitige Regime stärken, wie die Rückkehr zu zaristischen Symbolen Stalin stützen und der Sowjetmacht Legitimität geben sollte.

In diesem Sinne sind die Begriffe "sowjetisch" und "sozialistisch" nicht nur nicht dasselbe, sie sind vielmehr direkt gegensätzlich. Putin ist für alles "sowjetische", obwohl er kapitalistisch ist. Die "Sowjet"-Symbole sollen die Herrschaft der neuen Privateigentümer stützen (die, nicht zufällig, aus der alten Parteielite hervorgingen).

Ich denke, dass die Intelligenzler wirklich glaubten, die Wiederherstellung der Sowjethymne sei irgendwie ein Wegbereiter der Rückkehr zu Sowjet-Methoden. In Wirklichkeit hat der Staat die Hymne genau deshalb wiederhergestellt, weil an nichts anderes wiederherstellen kann. Die Behörden boten die Hymne als Entschädigung an.

Die Sowjetunion liegt weit in der Vergangenheit und der "point of no return" [die Möglichkeit der Umkehr] ist längst überschritten. Die Leute im Kreml haben absolut kein Interesse, die "Ergebnisse der Reformen" rückgängig zu machen, durch die sie zu Macht und Reichtum kamen. Auch die Mehrheit der Bevölkerung sehnt sich nicht nach der Sowjetzeit zurück, als wir eingesperrte Dissidenten, eine große Armee und Militärberater in Afrika hatten. Sie sehnen sich aber nach dem kostenlosen (und wahrscheinlich weltbesten) Bildungssystem. Sie erinnern sich, wie sie ihre Löhne pünktlich bekamen und - nach ein oder zwei Stunden Schlange stehen - für das Geld sogar etwas kaufen konnten.

All die armen Teufel ohne Geld und Essen bekommen jetzt Alexandrows Nationalhymne. Zweimal täglich, mindestens. Die Leute werden zwar nicht weniger hungrig sein, aber die bekannten Klänge werden ihnen helfen, sich an den Geschmack längst vergessener Speisen zu erinnern. Ist das nicht ergreifend?

Die Behörden werden nicht zum sowjetischen Lebensstandard zurückkehren, sonst müssten sie ihren eigenen Privatbesitz enteignen und sich selbst auf die Anklagebank setzen. Die Behörden sind ein wenig hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, die nächste Phase der neoliberalen Reform nach dem Plan des Wirtschaftsentwicklungs- und Handelsministers German Gref umzusetzen, und dem Wunsch, einfach alles zu lassen wie es ist. Insgesamt ist die derzeitige Situation in Russland nach ihrer Ansicht eigentlich ganz vorzüglich.

Doch die Menschen müssen beruhigt werden mit Illusionen. Die Behörden können ihnen keine Versprechungen mehr machen, weil sowieso niemand mehr an Worte glaubt. Alles was noch bleibt, ist Lieder zu singen.

Aus: Moscow Times, 5.1.2001


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 352 (Februar 2001).