UKRAINE

Sieben Jahre Unabhängigkeit, sieben Jahre Krise

Das siebte Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine, das am 24. August 1998 gefeiert wurde, ist gekennzeichnet durch die Vollendung der Zerstörung aller sowjetischen Errungenschaften auf dem "Weg zur Errichtung des Kapitalismus". Diese Entwicklung hat 80 Prozent der Bevölkerung in materielles Elend gestürzt und demoralisiert. In der Ukraine hat sich wie in den anderen GUS-Republiken die Macht in eine kriminelle Vereinigung verwandelt, um den internationalen Anforderungen des Marktes zu genügen. Diese Vereinigung besteht aus dem Staatsapparat sowie dem Großkapital in all seinen Formen und der Mafia. Sie nagt wie ein bösartiger Tumor an der Gesellschaft und verfolgt einzig das Ziel, Gewinne einzufahren, um welchen Preis auch immer.

Roman Kondakov

 

Im siebten Jahr der Unabhängigkeit ist ein Rekord an vom Staat nicht ausbezahlten Renten, Sozialbeihilfen und Löhne zu verzeichnen. Die sowieso schon elenden Beträge wurden in den letzten Monaten nicht mehr überwiesen. Ähnliche Verhältnisse dauern mindestens schon drei Jahre an.

Trotz aller neuen Gesetze in der Ukraine und der GUS begleitet eine Frage die Bevölkerung, und zwar nicht erst seit sieben, sondern bereits seit zehn Jahren: Wann werden der Staat, die Ministerien und die Unternehmen die Löhne, Renten und Beihilfen auszahlen, und wer wird die offenen Beträge entsprechend den in den letzten drei Jahren um 300 Prozent gewachsenen Lebenshaltungskosten anpassen?

Tatsächlich ging die "Perestroika" nicht erst im August 1991 zu Ende, sondern genaugenommen bereits Ende 1988 / Anfang 1989! Es herrschte damals ein politisches Vakuum, eine harte Auseinandersetzung zwischen der Spitze und der Basis. Betrachtet man jedoch die Resultate der Jahre 1991 bis 1993, so wird klar, daß daraus nichts Positives entstanden ist. Die "Entwicklung der Marktwirtschaft" in der GUS hat also eine schwere Krise nach sich gezogen, die zu einem tiefgreifenden qualitativen Wandel geführt hat.

DÜSTERER ALLTAG

Seit dem 25. August sind infolge des steigenden Dollarkurses die Preise in die Höhe geschossen: zuerst für alkoholische Getränke, Zigaretten und Benzin, zwei Wochen später dann für alle importierten Nahrungsmittel. Für einen Dollar bekam man 2 bis 2,2 Griwna (die ukrainische Währung). Ende September stieg der Dollarkurs stark an, ein Dollar kostet nunmehr 3,6 bis 4 Griwna. Die Preise auf fast alle Lebensmittel kletterten um 40 Prozent in die Höhe, diejenigen auf Kleider und Schuhe um 30 Prozent, die auf Haushalts- und Industrieartikel um 20 bis 25 Prozent. Der Staat erhöhte den Benzinpreis um 100 Prozent und erlegte den Produzenten von alkoholischen Getränken eine zusätzliche indirekte Steuer auf, um die Löhne und Ausgaben der "Tschinovniks" (Bürokraten) zu finanzieren.

Nur eines ist zum jetzigen Zeitpunkt sicher: Die Preise werden nicht sinken, ob der Dollarkurs wieder auf den Stand von August zurückfällt oder weiter steigt. Nur die Löhne, Renten und staatlichen Sozialausgaben sind gleich geblieben. Im übrigen fragt sich, wie überhaupt Durchschnittslöhne festgelegt werden können, wenn rund ein Drittel bis ein Viertel der ArbeiterInnen nicht angemeldet ist und eigentlich illegal arbeitet. Auch der Anteil der Erwerbslosen ist nicht ermittelbar, da der Staat nur diejenigen zählt, die sich vergeblich bei einer Arbeitsvermittlung gemeldet haben. Die anderen erhalten keine Arbeitslosengelder. Es ist daher logisch, daß 60 Prozent der Bevölkerung weder Miete, Gas und Strom noch andere Dienstleistungen bezahlen.

Die Summe der vom Staat nicht ausbezahlten Löhne, Renten und Sozialbeihilfen übersteigt die gesamten Mietschulden der Bevölkerung um das Drei- bis Vierfache, doch der Staat weigert sich, diese zu streichen, und droht im Gegenteil mit weiteren Mieterhöhungen.

Die Mindestrente in der Ukraine beträgt 37 Griwna. Ende September 1998 sind das nicht einmal mehr zehn Dollar. Die durchschnittliche Rente beträgt 60 bis 70 Griwna, eine gute Rente 100 bis 120 Griwna. Der Mindestlohn beträgt 70 Griwna, ein durchschnittlicher Lohn 180 bis 200 Griwna; ein Lohn von 300 Griwna gilt bereits als hoch. Für eine Zweipersonenfamilie reichen indessen 300 Griwna gerade für die Nahrungsmittel und kleinere Ausgaben wie Transporte und Haushaltsartikel.

Die Einkommen der Direktoren, Geschäftsleute und Bankiers, aber auch die Löhne der "Tschinovniks" in mittlerer und höherer Stellung sind aufgrund des Geschäfts- und Staatsgeheimnisses nicht bekannt, liegen aber jenseits aller Normen und Gesetze.

Im Februar 1998 legte der oberste Sowjet der Ukraine den Lohn der Abgeordneten auf 700 Griwna und somit auf das Zehnfache des Mindestlohns, ihre Rente auf 570 Griwna fest. So bekommen Abgeordnete, die vier Jahre lang auf ihrem Sessel gesessen haben, jeden Monat ein Geschenk des Staates im Wert von zehn Durchschnittsrenten.

WAHLEN OHNE NENNENSWERTE ERGEBNISSE

Am 29. März 1998 fanden Wahlen für den obersten Sowjet der Ukraine und für die Sowjets der Regionen, Städte und Stadtteile statt. Die Folgen dieser Wahlen waren schnell abzusehen: Sie brachten keinerlei Verbesserung für die Bevölkerung.

Die am meisten im Zentrum stehende Person des Wahlkampfes war der ehemalige Premierminister von Staatschef Leonid Kutschma, Pavel Lasarenko. Er war durch ein Dekret des Staatschefs unter dem Vorwurf der Korruption und der Unterschlagung von beträchtlichen Summen aus der Staatskasse und anderen Finanzquellen zugunsten der Vereinigten Energiewerke der Ukraine (dem bevorzugten Ansprechpartner der russischen Gazprom) seines Amtes enthoben worden. Lasarenko hatte als Premierminister die Kassen der Stadtverwaltungen geleert und die Gelder in den agroindustriellen Komplex umgeleitet.[1] In den meisten Regionen hat er Leute der ehemaligen KPdSU-Nomenklatura als Landwirtschaftsbeauftragte in hohe Verwaltungsposten eingesetzt. So tauchten in der Ukraine plötzlich landwirtschaftliche Großgrundbesitzer auf. Ein großer Teil der Landwirtschaft ist seit langem privatisiert, es gibt eine Agrarpartei, der die reichen Besitzer von Produktionsmitteln und Böden angehören, und ein Netz von Agrarbanken ist entstanden. Diese Entwicklung war regelrecht kriminell und entbehrt jeder gesetzlichen Grundlage. Nach ukrainischem Recht gibt es noch immer Kolchosen und Sowchosen, der Boden befindet sich noch immer in staatlichem Besitz und ist unverkäuflich. Die materiellen Grundlagen der Landwirtschaft waren unter Breschnew nicht erneuert worden und sind heute noch immer geprägt vom Erbe, das die UdSSR hinterlassen hat. Die Situation der DorfbewohnerInnen ist noch schlechter als die der StädterInnen.

Die Wahlen können folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Der Konflikt zwischen Präsident Kutschma und der durch den scheidenden obersten Sowjet der Ukraine verkörperten Opposition der "Verteidiger des Volkes" war nichts anderes als ein Vorwahlgeplänkel seitens der Parteien, Bewegungen und Persönlichkeiten, die möglichst viele Abgeordnete ins neue Parlament bringen wollten.

Es gibt keinerlei linke oder rechte Opposition gegen den Präsidenten und seine Machtstrukturen. Das einzige, was es gibt, ist ein Machtkampf unter den verschiedenen Finanz- und Industrieclans. Alle Parteien und Gruppierungen im Parlament sind nichts anderes als Bruchstücke des Staates und der Regierung, die sich die Macht teilen.

Die Abgeordneten der Stadtteile, Städte und Regionen stellen einen Teil des Apparates der "Tschinovniks" dar und stützen somit die Tätigkeit der staatlichen Verwaltung.

Drei Monate vor den Wahlen vom 29. März wurde in allen Regionen der Ukraine die Partei Hromada (Gemeinsam) gegründet, an deren Spitze Lasarenko steht. Diese Partei ist bestimmt durch die Politik eines der mächtigsten Clans von Bodenbesitzern, Unternehmern von Nahrungsmittel- und Landmaschinenproduzenten und dem Finanzkapital, der darüber hinaus die Nomenklatura der ehemaligen KPdSU hinter sich weiß.

Die Hromada-Partei hat sich im Wahlkampf als "Rat der oppositionellen Minister" dargestellt, der den Kampf gegen den Einfluß des ausländischen Kapitals führt. Nach den Angaben der Presse hat der Wahlkampf von Hromada ungefähr 100 Millionen Dollar gekostet, wobei das meiste Geld für Korruption, Bestechungsgelder und den Kauf von Parlamentssitzen ausgegeben wurde. Alle anderen Parteien zusammen haben ca. 50 Millionen Dollar ausgegeben. Trotz dieser gigantischen Summen hat Hromada nur acht bis zehn Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten.

KONSENS DER POLITISCHEN ELITE

Im Gefolge von Hromada tat sich darüber hinaus der Block der Sozialisten und Bauern hervor, der von der Agrarpartei finanziert wurde, sowie die unter den Auspizien von Hromada stehende Kommunistische Partei der Ukraine. Dieser Pseudoblock aus Sozialisten, Kommunisten und Bauern bekam rund 30 Prozent der Stimmen. Von den 90 Parlamentssitzen, die durch Proporzwahl vergeben werden,[2] verkauften die Sozialisten/Kommunisten 40 Sitze an Hromada, darunter diejenigen von Lasarenko, verschiedenen Bankiers, Direktoren und Großgrundbesitzern. In den industriell entwickelten Regionen hat kein Kandidat der Sozialisten oder Kommunisten auch nur einen Wahlkreis gewonnen, so unbeliebt sind diese Persönlichkeiten.

Kaum waren die Wahlen vorüber, hatten sich die politischen Parteien aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Einzig das Programm des Rates der oppositionellen Minister mit dem schönen Titel "Hundert Wochen für ein würdiges Leben" war übriggeblieben.

Das neu bestellte Parlament, das sich als "einzigen Verteidiger des Volkes" gegen die unpopuläre Macht des Präsidenten darstellt, hat im letzten halben Jahr keine einzige Aktivität entwickelt.

Ende September war bereits absehbar, daß die Krise sich mehr und mehr zuspitzte. In der politischen Elite der Ukraine herrscht indessen vollständiger Konsens. Kein einziger Abgeordneter, keine Partei oder Gruppierung bemüht sich darum, die Interessen des Volkes zu verteidigen. Die Mehrheit der heutigen politischen Elite gehörte früher der Nomenklatura der KPdSU an. Zusammen mit ihren Familienclans haben sie der Bevölkerung eine lebenswerte Gegenwart vorenthalten und machen sich nun daran, Millionen von Menschen auch die Zukunft zu stehlen.

In der GUS, die an die Stelle der ehemaligen UdSSR getreten ist, haben die degenerierten Staaten alle pseudodemokratischen und pseudosozialistischen Theorien zunichte gemacht: Kapitalismus für das Volk, staatliche Preisfestsetzung im Interesse der KonsumentInnen, Unternehmen als kollektives Eigentum der ProduzentInnen, Selbstverwaltung ganzer Industriezweige auf der Grundlage der Marktwirtschaft, all dies ist diskreditiert. Die Realität hat den Mythos von den patriotischen Bossen sehr schnell zerstört, die nur am Wohl der ArbeiterInnen interessiert seien und die KPdSU wieder zu neuem Leben erwecken würden, damit diese in einem Jahr die UdSSR und die Zustände vor 1985 wiederherstellen würde.

Doch wo kann ein Ansatz zu einem Ausweg aus der Krise gefunden werden? Der Beginn einer Veränderung kann nur der Kampf jener Millionen Männer und Frauen bringen, denen im Namen des "sowjetischen Kommunismus" Tag für Tag das Nötigste vorenthalten wird.

Das Wesen des Marxismus besteht darin, diejenigen Kräfte wiederaufleben zu lassen, die fähig sind, zu kämpfen und sich weiterzuentwickeln, um Millionen von Menschen aus ihrer geistigen, physischen und sozialen Misere zu befreien. Der Weg zu einem Sieg ist nur möglich, wenn Millionen von BürgerInnen in der Hoffnung auf eine bessere soziale Situation mit einem klaren Ziel vor Augen kämpfen.


[1] Mitte Dezember 1998 wurde er unter dem Vorwurf, unterschlagene Gelder illegal ins Land geschleust und auf Geheimkonten deponiert zu haben, in der Schweiz verhaftet.

[2] Die Hälfte des Parlaments wird über Parteilisten nach Proporzwahl vergeben, die andere durch Majorzwahlen in den einzelnen Wahlkreisen.


Dnjepropetrovsk, 20. September 1998
Übersetzung aus dem Französischen: David Reber

Roman Kondakov arbeitet als Hafenarbeiter in Dnjepropetrovsk

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 327/328