EU:

Nehmt die Flüchtlinge auf!

Das Gespenst einer angeblichen Invasion geht um in der Festung Europa. Die Ankunft einiger hundert kurdischer Asylbewerber an der Küste Süditaliens genügte, um eine gewaltige Kampagne gegen die Flüchtlinge auszulösen.

Von Albert Rochal

Die Regierungen greifen in ihrer Argumentation auf die üblichen Klischees zurück, wonach die aus dem Irak und der Türkei stammenden kurdischen Asylbewerber mit der Mafia in Verbindung stünden, Terroristen seien oder von der türkischen Regierung benützt würden. Einmal mehr werden die Flüchtlinge selbst angegriffen, deren Aufnahme man verhindern möchte.

Die italienischen Behörden, die ihre Gesetzgebung bereits beträchtlich verschärft haben, um den Anforderungen des Schengener Abkommens zu genügen, müssen sich dennoch Kritik gefallen lassen. Der Vorwurf lautet auf zu große Nachgiebigkeit und Verantwortungslosigkeit, da sie es wagen, Einzel- und Kollektivprüfungen der Asylanträge der Kurden zu erwägen, ohne sie von vornherein zurückzuweisen, wie dies in anderen Ländern und insbesondere in Frankreich Praxis ist.

Daß an Italiens Küsten AsylbewerberInnen aus nahegelegenen Mittelmeerländern, aber auch von weiter her ankommen, ist nichts Neues. Hunderte, wenn nicht Tausende AsylbewerberInnen und ImmigrantInnen ohne Papiere haben vor der Küste Griechenlands oder in der Meerenge von Gibraltar bereits den Tod gefunden, als sie versuchten, in kleinen Booten oder auf alten Frachtern der Diktatur oder dem Elend in ihren Herkunftsländern zu entrinnen. Doch das hat bisher weder die Regierungen noch andere Menschenfreunde gerührt, die heute eine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in den Ursprungsländern fordern. Italien hat wiederholt Zehntausende von albanischen Flüchtlingen aufgenommen. Doch diesmal ist eine regelrechte Hysterie ausgebrochen, die von umfassenden Maßnahmen im der Repressionskräfte begleitet ist.

Am 8. Januar wurde in Rom zu einem Polizeigipfel eingeladen, auf dem Möglichkeiten beraten wurden, wie die in der Südflanke der Festung Europa aufgetretenen Löcher abzudichten sind. Bei diesem Treffen der Repressionskräfte haben die Polizeien der acht betroffenen Staaten (Italien, Deutschland, Österreich, Belgien, Holland, Frankreich, Türkei und Griechenland) beschlossen, ihre Zusammenarbeit im Kampf gegen die "illegale Immigration" zu verstärken. Geplant ist eine schärfere Überwachung der Außengrenzen der Europäischen Union und vor allem ein intensiverer Austausch von Geheiminformationen zwischen den Polizeien, namentlich über die Europol. Das entspricht im übrigen einem der Kernstücke des Schengener Abkommens, das zur Einrichtung einer riesigen Datenzentrale in Straßburg geführt hat.

Warum es im Rahmen der durch den Aufbau der Festung Europa festgelegten allgemeinen Zielsetzungen zu einer derartigen Dramatisierung dieser Ereignisse gekommen ist, hat mehrere Gründe:

1) Italien soll am 31. März 1998, also drei Jahre nach dessen Gründung, endlich dem Schengener Abkommen beitreten. Die italienische Regierung mußte die Gesetzgebung zur Immigration erheblich verschärfen, um dem Abkommen zu genügen, verfolgte jedoch bisher traditionellerweise eine weniger repressive Praxis als die nördlichen Staaten. Doch diese Verschärfung reichte der Führung des europäischen Polizeiapparates nicht aus. Sie will Italien dazu zwingen, die AsylbewerberInnen deutlich härter zu behandeln, was nach Ansicht dieser Polizeichefs durch die geographische Lage des Landes gerechtfertigt sei. Dabei werden vor allem vier Faktoren geltend gemacht: die vielen Inseln und Küsten, die den Booten zahlreiche Anlegemöglichkeiten bieten, die Nähe zu den Herkunftsländern der Flüchtlinge, eine durch die Erfahrung der eigenen Migration vom Süden in den Norden Europas bedingte offenere Aufnahmetradition in der Bevölkerung und die Nachbarschaft zu Frankreich, dessen immigrationsfeindliche Maßnahmen in Europa zu den härtesten zählen. Auch der kürzlich erfolgte Beitritt Österreichs zum Schengener Raum war von einer entsprechenden Kampagne begleitet, in der die deutschen Behörden und insbesondere die Regierung des Freistaates Bayern Druck auf das Land ausgeübt hatten.

SPIEL MIT DER ANGST

2) Die deutsche und die französische Regierung üben am meisten Druck aus. Was Deutschland betrifft, ist diese Haltung mit den in diesem Jahr fälligen Parlamentswahlen zu erklären. Helmut Kohl und die Rechte stehen zur Zeit schlecht da und setzten ausgiebig auf die Karte der Ausländerfeindlichkeit und der Sicherheitspolitik, um die Wählergunst zu gewinnen. Innenminister Kanther hat einen Maßnahmenkatalog präsentiert, mit dem die Kontrolle über die Ausländer erhöht und ihren Zugang zur Sozialhilfe erschwert werden soll.

Der sozialdemokratische Abgeordnete und Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen meint dazu: "Nichts ist neu am Kurdenproblem. Ein internationales Problem wird ausgenützt, um damit Innenpolitik zu machen. Man spielt mit der Angst der Bevölkerung, indem man zu verstehen gibt, daß Wellen von Ausländern den Wohlstand der Deutschen bedrohen werden. Eine solche Psychose bereitet der extremen Rechten das Terrain." Um so bedauerlicher ist es, daß sich die Sozialdemokratie 1993 der christdemokratischen Rechten angeschlossen und für Einschränkungen im Asylrecht gestimmt hat und daß sich auch führende Sozialdemokraten an der fremdenfeindlichen Kampagne beteiligen.

Was Frankreich betrifft, verfolgt die Linksregierung eine harte Haltung gegenüber AsylbewerberInnen. Positive Bescheide wurden in den letzten Jahren drastisch eingeschränkt, und Innenminister J.P. Chevènement, der eine ausgesprochen chauvinistische Fraktion vertritt, hat erklärt, es werde zu einem Ansturm von kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak, aber auch aus Algeriern kommen, wenn nicht die Grenzen hermetisch geschlossen würden. Dieses Argument wird oft auch von denjenigen vorgebracht, die das algerische Militärregime als "Garantie" gegen einen solchen Ansturm verteidigen. Um dem Druck auf Italien Nachhalt zu verleihen, hat die französische Regierung im übrigen Sondereinheiten an die Grenze zu Italien beordert, wo die Polizei schon vor zwei Jahren auf einem Bergpfad bei einer nächtlichen "Kontrolle" ein bosnisches Kleinkind erschossen hat, das zu einer Flüchtlingsgruppe gehörte.

3) Die europäischen Regierungen benützen die Affäre, um bevorstehende Schritte vorzubereiten, wie insbesondere die beabsichtigte Angleichung der Immigrationspolitik innerhalb der Gemeinschaft. Der Vertrag von Maastricht und der Vertrag von Amsterdam, zahlreiche mehr oder weniger geheime Vereinbarungen und Abkommen und das Schengen-Abkommen selbst gehen in diese Richtung. Mit diesem neuen Stützpfeiler des europäischen Aufbaus sollen die Entscheidungen über die Einreise von ImmigrantInnen und Flüchtlingen an hyperzentralisierte Stellen und Polizeiinstanzen übertragen werden. Im Namen der Freizügigkeit im Inneren des europäischen Raums sollen natürlich die strengsten Normen an den Außengrenzen zum Tragen kommen. Das ist einer der Hauptgründe, warum gegenüber der italienischen Regierung ein derartiger Druck aufgebaut wurde. Die Parallele zur Frage der Einheitswährung Euro ist auffallend. Auch hier spielt Italien die Rolle des Nachzüglers, der nur mit Mühe und viel Druck in die nächste Klasse aufsteigen darf.

4) Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Krise der Beziehungen zwischen dem europäischen Block und der Türkei. Ein zentrales Thema spielte dabei die Frage der Unterdrückung der Kurden, die den Mangel an demokratischen Rechten in diesem Land offensichtlich macht. Die Tageszeitung Le Monde weist im Leitartikel vom 5. Januar im übrigen auf ein Paradox hin, das die offizielle Haltung in dieser Frage auszeichnet: "Kann man der Türkei unter dem Vorwand, die kurdische Bevölkerung schlecht zu behandeln, die Türe nach Europa zuschlagen und gleichzeitig den Kurden, die an der kalabrischen Küste Zuflucht suchen, den Zutritt zu Europa verweigern?" In diesem Zusammenhang wurden von Medien und Regierungen verschiedene sensationsheischende Behauptungen aufgestellt: Die Asylbewerber seien heimlich von der türkischen Regierung geschickt worden, um sich für die Entscheidung der Europäischen Union zu rächen und Deutschland mit einer "Invasion" zu drohen, oder aber dieselben Flüchtlinge seien von der PKK manipuliert worden, um die Widersprüche zwischen der türkischen Regierung und der Europäischen Union zu verschärfen. Daneben wurden gegen diese Flüchtlinge, die auf "Schlepper" zurückgreifen mußten und deshalb mit Banditen gleichgesetzt werden, weitere Beschuldigungen erhoben.

Man muß jedoch feststellen, daß die türkische Regierung trotz dieser Spannungen am Polizeigipfel in Rom teilgenommen und sich dort dazu verpflichtet hat, die Ausreise bzw. Flucht in die Länder der Gemeinschaft zu verhindern. Und sie hat dieses Versprechen bereits in die Tat umgesetzt und in Istanbul erste Razzien durchgeführt. Der französische Außenminister Hubert Védrine, der ganz in der Tradition Mitterrands steht, dessen enger Berater er war, spielte eine entscheidende Rolle in der Einbindung der Türkei in die Verhandlungen und hat damit einmal mehr dazu beigetragen, die Beziehungen zu einem diktatorischen Regime zu gewährleisten, das immer dann geschätzt ist, wenn es um die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Überwachung potentieller ImmigrantInnen geht.

FÜR DIE VERTEIDIGUNG DES ASYLRECHTS

Die Vereinigungen zur Verteidigung der Menschenrechte verurteilen die zahlreichen Verletzungen der Regeln des Asylrechts, wie sie von den Behörden verschiedener Länder begangen werden. Amnesty International kritisiert die Regierungen, die mit der türkischen Regierung Abkommen zur "Rücknahme", also zur zwangsweisen Rückführung von Flüchtlingen aushandeln und ungeachtet der bedrohten Lage der Bevölkerung im Norden des Irak sogar Abschiebungen in diese Regionen vorsehen. Diese Regierungen sprechen sich ab, um AsylbewerberInnen ohne Prüfung ihre Anträge abzuweisen, was gegen alle einschlägigen internationalen Abkommen im Flüchtlingsbereich verstößt.

Neben diesen dauernden Verstößen gegen das Asylrecht muß auch auf die Verantwortung der europäischen Länder für das gravierende soziale Ungleichgewicht, für Kriege und gewaltsame Unterdrückung hingewiesen werden, die dem Fluchtversuch ganzer Bevölkerungsgruppen zugrunde liegen. Insbesondere muß an das Schicksal des kurdischen Volkes erinnert werden, das mit Billigung der Großmächte in verschiedenen Staaten der Region unterdrückt wird, aber auch an das Schicksal der Völker Nordafrikas, die unter uneingeschränkt tolerierten diktatorischen Regierungen leben.

Die Ereignisse in Italien werfen ein Schlaglicht auf den gesamten europäischen Kontroll- und Repressionsapparat. Das Schengener Abkommen, der Vertrag von Maastricht und der Vertrag von Amsterdam bilden die Grundlage für ein zentralisiertes System des Umgangs mit der Einreise von ImmigrantInnen und Flüchtlingen. Bei dieser Gelegenheit machen sich die Regierungen gegenseitig Druck, um ihre Gesetzgebung zu verschärfen, und schwingen sich selbst zu fremdenfeindlichen Kampagnen auf.

Die Antirassismusbewegung und die europäische Linke stehen in ihrer Solidaritätsarbeit vor riesigen Aufgaben: Sie müssen in einer Situation, wo die kontinentalen Polizeibehörden in ihrem Krieg gegen Flüchtlinge tagtäglich neue schreiende Ungerechtigkeiten verüben, versuchen, die Grundlagen einer anderen Gesellschaft in Europa und im Mittelmeerraum zu schaffen, in der das Asylrecht tatsächlich gewährleistet wird und die unterdrückerischen Regime überwunden werden.


Paris, 30.1.1998
Übers.: Birgit Althaler

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 317