BELGIEN:

Verkürzung der Arbeitszeit: Flexibilisierung oder Solidarität

Nachdem es lange Zeit ruhig war um die Arbeitszeitverkürzung, ist dieses Thema in Belgien durch die Anstöße aus Frankreich wieder in den Vordergrund der politischen und gesellschaftlichen Diskussion gerückt.

Von: Alain Tondeur

"Aufgestapelt wie Teppiche in der Moschee" [1] sind die 28 Pläne zur Beschäftigungssicherung vollkommen gescheitert. Angeregt vom Robien-Gesetz in Frankreich, bastelt die Regierung zur Zeit an rechtlichen Rahmenbedingungen für "Erfahrungsprojekte". Daß Lionel Jospin in Frankreich eine Gesetzesregelung für die 35-Stunden-Woche angekündigt hat, hat die Staatsgewalt aufgeschreckt und in den gewerkschaftlichen Organisationen die Diskussion wieder angefacht: flexible oder einheitliche Arbeitszeitverkürzung? Zersplitterung oder Solidarität? - so lautet die Frage.

DAS SCHEITERN DER BESCHÄFTIGUNGSPOLITISCHEN MASSNAHMEN

Trotz manipulierter Statistiken (obwohl sie Leistungen empfangen, werden die 113.754 "älteren Arbeitslosen" über 50 nicht mehr als Arbeitsuchende registriert) und rigoroser Streichungen (6290 männliche und 25.754 weibliche Arbeitslose wurden 1996 von Zahlungen ausgeschlossen) lag die Arbeitslosenquote im Juni 1997 noch immer bei 12,7%. Die offiziellen Zahlen liegen bei 456.754 voll bezugsberechtigten Arbeitslosen, davon fast die Hälfte seit mindestens 2 Jahren; dies entspricht der Quote von 1985. Diese scheinbare Stagnation täuscht jedoch: Rechnet man alle Erwerbstätigen, die vom Arbeitsamt (Office national de l'emploi) abhängen, zusammen, ergibt sich eine Zahl von 1,1 Millionen von Arbeitslosigkeit Betroffener. In manchen Gegenden Walloniens überspringen die Arbeitslosenraten locker 25 oder gar 30%.

Angesichts dieses Schlamassels haben die jeweiligen Regierungen etwa 28 Pläne zur "Beschäftigungssicherung" ausgebrütet, die allesamt für die Katz waren. Dies kann niemanden erstaunen, denn in Wahrheit - und seit dem Essener EU-Gipfel[2] sogar zunehmend - ist die Beschäftigungsförderung vor allem Alibi und Roßtäuscherei; realiter geht es um Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Schwächung der gewerkschaftlichen Organisierung und Senkung der Lohnkosten. Es bedarf keines besonderen Tiefblicks, um dies zu durchschauen.

Beispielsweise hat die Regierung im Namen der Beschäftigungsförderung:

Bei allen diesen Aktionen zur Verramschung von Arbeitskräften gibt es eine einzige positive Bestimmung: die Vorruhestandsregelung, die es 129.112 älteren entlassen Arbeitern erlaubt, bis zur Berentung eine Zulage zum Arbeitslosengeld zu beziehen, ohne als Arbeitsuchende registriert zu werden. Diese Regelung wurde in den Siebzigern geschaffen, als die Kräfteverhältnisse noch nicht so schlecht waren ...

Obwohl diese Stellen nur zu 40% durch Jüngere wiederbesetzt werden, bremst die Vorruhestandsregelung noch am wirksamsten (und am sozialverträglichsten) den weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Aber die Wirtschaftswissenschaftler und die Politiker der Rechten finden, dies koste zu viel Geld. Was sie in Wahrheit fuchst, ist die Tatsache, daß infolge des Vorruhestands die belgische Beschäftigungsquote eine der niedrigsten in der EU ist: 50,4% gegenüber 57,7% in Deutschland, 55,8% in Frankreich, 59,7% in den Niederlanden (1996). Das Alter für Vorruhestand (und Rente überhaupt) nach hinten zu schieben, wäre ein Mittel, diese Quote zu erhöhen und damit auch die Konkurrenz unter den Arbeitern und somit den Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen.

ANSTOSS AUS FRANKREICH

Angesichts einer Beschäftigungspolitik, die als Fehlschlag ersten Grades gelten kann, erscheint die Arbeitszeitverkürzung als das einzige Mittel, das noch nicht ausprobiert wurde. Etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung zeigt sich "bereit, die Arbeitszeit zu verkürzen, auch wenn dies mit Lohneinbußen verbunden ist, sofern damit ein Beschäftigungseffekt verbunden ist".[5] Mehrere bedeutende Gewerkschaftsbezirke machen sich stark für eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich.

Die Koalition aus Christlich-Sozialen und Sozialisten will um jeden Preis vermeiden, daß die Arbeitszeitverkürzung zur zentralen Achse oder auch nur zu einem wichtigen Instrument im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wird. Nach ihrer Ansicht kann dies nur eine Maßnahme unter anderen sein und soll mit Kostensenkungen und umfassenden Flexibilisierungsmaßnahmen verknüpft werden. Bezugnehmend auf das Robien-Gesetz in Frankreich haben die Minister Vande Lanotte und Di Rupo von den flämischen bzw. wallonischen Sozialisten eine Gesetzesverfügung mit zwei Varianten vorgeschlagen: einer offensiven für florierende Unternehmen und einer defensiven für solche, die in Schwierigkeiten oder Umstrukturierungsmaßnahmen stecken. Nach zähen Verhandlungen wurde dies von der Regierung verabschiedet.

In der offensiven Variante erwerben die Unternehmer für jeden Beschäftigten, ob langjährig oder neu eingestellt, der im Rahmen einer Betriebsvereinbarung von 38 auf 32 Stunden verkürzt, das Recht, die Sozialabgaben sechs Jahre lang pauschal zu reduzieren; und zwar um jährlich 97.000 BEF während der ersten beiden Jahre, danach von Jahr zu Jahr weniger. Voraussetzung dafür sind Neueinstellungen. Die Vereinbarungen müssen darüber hinaus einen partiellen Lohnausgleich zu Lasten der Arbeitgeber beinhalten, wobei ein Betrag von 3250 BEF monatlich empfohlen wird.

Die defensive Variante ist ähnlich, bloß daß diese Bestimmungen schon bei einer Arbeitszeitverkürzung auf 33, 34 oder gar 35 Stunden greifen. Darüber hinaus wird der Erhalt von Arbeitsplätzen nicht zur Bedingung: Damit verbunden werden können auch Vorruhestandsregelungen, freiwillige Kündigungen auf Abfindungsbasis oder anderweitiges Ausscheiden.

Die offensive Variante wird nur zwanzig Unternehmen zur Probe angeboten. Die Regierung will auf jeden Fall Erwartungen vermeiden, die generelle Arbeitszeitverkürzung könnte in irgendeiner Weise auf der Tagesordnung stehen. Diese Übervorsicht erklärt sich durch die geringen Spielräume im Staatshaushalt (die öffentliche Verschuldung liegt noch bei 126% des BIP). Vielleicht auch aus dem Umstand, daß die belgische NAWRU[6] von der OECD auf 11% geschätzt wird, was bedeutet, daß auch eine geringe Zunahme freier Stellen im Rahmen einer weiterhin hohen Arbeitslosigkeit die Löhne treiben könnte.

Auf Druck der Unternehmer wurde die Dauer o.g. Beihilfen von anfänglich vier auf sechs Jahre erhöht. Bei einer jährlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität um durchschnittlich 2,5% können die Unternehmer sicher gehen, daß diese Arbeitszeitverkürzung sie gegebenenfalls keinen Pfennig kostet.[7]

Unter solchen Umständen können manche Unternehmer sogar offensichtlich an einer Arbeitszeitverkürzung interessiert sein. Je nachdem wie die Organisation der Produktion aussieht, kann nämlich:

Die Gesetze von Vande Lanotte/Di Rupo sowie von Robien in Frankreich sind Bausteine solcher Kalküls. Ihre Verfügungen laufen darauf hinaus, daß die öffentliche Hand den Unternehmern wunschgemäß ermöglicht, ihre Produktion durch die Arbeitszeitverkürzung zu reorganisieren und die Kosten davon der Allgemeinheit und besonders der Sozialversicherung aufzubürden.

WELCHER AUSWEG?

Im Falle Belgiens ist die Lage besonders vertrackt, da die Regierung Dehaene eine Norm gesetzt hat, daß die Lohnkosten nicht schneller als bei den drei wichtigsten Handelspartnern (Frankreich, Niederlande, Deutschland) wachsen dürfen. In dieser engen Marge sind die Indexbindung an die Lebenshaltungskosten und der Anstieg des Stundenlohns durch eine eventuelle Arbeitszeitverkürzung enthalten. Insofern läßt das Gesetz keinen Spielraum. Alles ist so geregelt, daß die flexible Arbeitszeitverkürzung nur dort greift, wo die Unternehmer es wünschen oder - bspw. zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens - hinnehmen.

Dies stellt diejenigen Gewerkschaftsvertretungen vor Probleme, die sich der Bedeutung des Kampfes für die generelle Arbeitszeitverkürzung am klarsten bewußt sind. Konkret stehen diese Vertretungen vor zwei Alternativen: entweder ein paar Prozent Lohnerhöhungen rauszuschlagen oder kleine Schritte in Richtung Arbeitszeitverkürzung durchzuführen, in der Hoffnung eine breitere Bewegung loszutreten. Die zweite Vorgehensweise ist die konsequentere, und wenn Arbeitsplätze bedroht sind, setzt sie sich auch durch. Der Haken an der Sache ist dann allerdings die Flexibilisierung in der Arbeitsorganisation und/oder die Lohneinbuße, die aus öffentlichen Mitteln, d.h. letztendlich zu Lasten der Sozialversicherung kompensiert wird. Die Grenzen dieser Strategie haben die Gewerkschafter bei VW-Forest (35-Stunden-Woche ohne Lohneinbußen und mit Neueinstellungen; dafür mehr Flexibilisierung und Produktivitätssteigerung) und ihre Kollegen bei Cockerill-Sambre (34-Stunden-Woche mit vollem Personalausgleich; dafür eingefrorene Löhne bis 2002) kennengelernt.[8]

Für die Arbeiterbewegung gibt es nur die Flucht nach vorn, um im gemeinsamen Kampf die von oben auferlegten Lohnnormen zu durchbrechen und eine generelle Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen, ohne Lohneinbußen und Flexibilisierung und mit vollem Personalausgleich. Nur so lassen sich die Kämpfe auf eine einheitliche Schiene bringen. Die aktuelle Entwicklung ist dazu angetan: die 400.000 Arbeiter und Arbeiterinnen im Sektor der sozialen Dienstleistungen fordern gemeinsam die 35-Stunden-Woche mit Lohn- und Personalausgleich. Die Gewerkschaften in der höchst profitablen Energiewirtschaft führen seit Monaten Aktionen für die 32-Stunden-Woche durch. Darüber hinaus haben die "weißen" Mobilisierungen vom Vorjahr[9] ein günstiges Klima geschaffen, um offensiv die Belange der Menschen vor denen der Wirtschaft zu propagieren.

Trotz allem wollen die Führungen der Gewerkschaftsverbände FGTB und CSC nichts davon wissen. Ein solcher Kampf würde ihrem zentralen Anliegen im Weg stehen, welches darin besteht, im Chor der konzertierten Aktion wieder mitsingen zu dürfen. Verschreckt durch die ungünstige Verschiebung der Kräfteverhältnisse, jedoch überglücklich, daß sie vom Großkapital für die reibungslose Einführung der Währungsunion gebraucht werden, wollen diese Führungen nicht die Gelegenheit verpassen, sich unentbehrlich zu machen, auch auf die Gefahr hin, daß der Ruch dieser Institutionen auf sie übergeht.

Daher hat auch die Ankündigung von Lionel Jospin am 10. Oktober, daß die französische Regierung ein Gesetz zur generellen Einführung der 35-Stunden-Woche verabschieden wolle, vor allem Zorn und peinliche Berührtheit hervorgerufen. Regierungschef J.L Dehaene und L. Tobback (Vorsitzender der flämischen Sozialisten) haben Jospin gänzlich unverhüllt zum Sündenbock gestempelt. Ph. Busquin (Vorsitzender der wallonischen Sozialisten) hat das Thema der Viertagewoche (mit oder ohne Arbeitszeitverkürzung, und lediglich punktuell) als Ablenkungsmanöver ins Spiel gebracht. Ein paar Erklärungen von Unternehmerseite haben die Gewerkschaftsführer vollends überzeugt, Vernunft zu wahren. Deshalb hat der Apparat sich auch nur zu Wort gemeldet, um nach dem rettenden Strohhalm: "Viertagewoche dort, wo es machbar ist" zu greifen.

Auf der anderen Seite kam die französische Initiative vielen Gewerkschaftern aus naheliegenden Gründen gelegen. Auf Initiative von Persönlichkeiten aus Gewerkschaft, Verbänden, Wissenschaft und Politik wurde ein Aufruf "für die allgemeine Einführung der 35- Stunden-Woche in Belgien" gestartet. Da bei den Unterzeichnern so gewichtige Leute wie Georges Debunne, der ehemalige FGTB- Vorsitzende, und Riccardo Petrella zu finden waren, beeinflußte er die Diskussion auf dem sozialistischen Gewerkschaftskongreß Anfang Dezember.

In seiner Kongreßresolution bekräftigt der FGTB die Forderung nach 32 Stunden mit Lohn- und Personalausgleich durch Vereinbarungen in den einzelnen Sektoren. Die 38 Stunden werden als gesetzliche Obergrenze gefordert und die 35-Stunden-Woche soll als Zwischenschritt auf dem Verhandlungsweg, ggf. auch per Gesetz vereinbart werden. Eine radikalere Position, die für eine Kampagne für die gesetzliche Obergrenze von 35 Stunden eintrat und von Karel Gacoms (Renault-Vilvoorde) und besonders dem FGTB Brüssel vertreten wurde, fand keine Mehrheit. Der Kongreß kann von der FGTB-Führung aber auch nicht als Sieg verbucht werden. Diese setzte eher auf zersplitterte Verhandlungen in den Bezirken und Unternehmen mit dem vorläufigen Ziel einer Viertagewoche und einer 32-Stunden-Woche "zu ihrer Zeit".

Die jetzige Situation wird ihre Auswirkungen haben. Fünf Jahre nach dem Großen Plan scheint der dritte Anlauf, einen Sozialpakt herbeizuführen, durch das Unvermögen der FGTB-Spitze, die eigene Organisation in Zaum zu halten, erneut vor dem Scheitern zu stehen. Der Premierminister scheint daraus seine eigenen Schlüsse gezogen zu haben. Vor Kongreßbeginn sprach er sich in provokanter Weise für eine Heraufsetzung des Vorruhestandsalters aus und - unter Verweis auf den Luxemburger Gipfel - für eine obligatorische Ausbildung der jugendlichen Arbeitslosen mit Absenkung der zu erwartenden Bezüge. Damit stellte er klar, daß die Regierung zu schmerzhaften Maßnahmen bereit ist und die FGTB-Führung besser die Konsequenz daraus ziehen solle, wenn sie nicht auf die Zuschauerränge verbannt werden wolle.

Aus: Inprecor Nr. 420 (Januar 1998)
Übersetzung: M. Ws.


[1] So Michel Jadot, Staatssekretär im Arbeitsministerium.
[2] Der Essener EU-Gipfel hat 5 Achsen für die Beschäftigungspolitik festgelegt: Verringerung der Kosten, Umverteilung der Arbeit, (Wieder)eingliederung bestimmter Ziel(=Problem)gruppen, neue Arbeitsmärkte und Weiterbildung. Damals (1994) wurden die großen Projekte (etwa Arbeitsbeschaffungsprogramme) offiziell beerdigt.
[3] Im Rahmen dieser Projekte genügt es z. B. eine Vollzeitstelle in 2 halbe Stelle umzuwandeln, um von den Zuschüssen zu profitieren.
[4] Dies entspricht in Deutschland den Beziehern von Sozialhilfe; in Belgien beträgt sie für eine Familie mit 3 Kindern z.Z. 2200 DM, die europäische "Norm" beträgt in diesem Fall 3200 DM. (Anm. d. Übers.)
[5] So die Untersuchung Survey & Action in Le Soir en Belgique francophone.
[6] NAWRU = Non accelerating wages rate of unemployment umschreibt den Punkt, unter den die Arbeitslosigkeit nicht sinken kann, ohne daß die Börsen einen Anstieg der Löhne befürchten. Die OECD sieht diesen Punkt auf Belgien bezogen bei 11%, was außergewöhnlich hoch ist (Festlegung auf Arbeitslosigkeit und Ausgrenzungsmechanismen) ... und nicht sehr weit von der tatsächlichen Arbeitslosenrate entfernt ist.
[7] Die belgische Arbeitskraft bleibt die produktivste der ganzen Welt. Verglichen mit einem Basiswert von 100 für Frankreich im Jahr 1995 war die Produktivität seinerzeit in Belgien 106,3; in den USA 102,4; in Italien 101,8; in den Niederlanden 84,2 (Zahlen nach dem Bureau of Labor Statistics, berechnet nach Bruttoinlandsprodukt je aktivem Beschäftigten).
[8] Dennoch sind diese Fälle Beispiele für eine solidarische Arbeitszeitverkürzung mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Bei Uniroyal (Conti) in Herstal dagegen mußten die KollegInnen unter der Drohung der Werksschließung eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 32 Stunden mit Lohnverlust und einem Abbau der Arbeitsplätze hinnehmen.
[9] Gemeint sind die Demonstrationen gegen die Kindermörderbande um Dutroux und die Untätigkeit/Komplizenschaft der Polizei. (Anm. d. Übers.)


Dieser Artikel erscheint (als Teil des Schwerpunktthemas Arbeitszeitverkürzung) in Inprekorr Nr. 316