Ukraine

Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine

Nach Lugano (2022) und London (2023) findet am 11. und 12. Juni 2024 in Berlin die dritte Ukraine Recovery Conference (URC) statt.

Hermann Nehls

Offiziell handelt es sich um eine Geberkonferenz von rund 60 Regierungen, um Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine zu mobilisieren. Die drei Wiederaufbaukonferenzen haben die Ukraine-Reformkonferenzen abgelöst, die seit 2017 jährlich stattgefunden haben. Insofern geht das Ziel über eine reine Geberkonferenz hinaus.

Auf der Webseite der Konferenz werben die Organisatoren damit, dass sie „ständige internationale Unterstützung für die Erholung, den Wiederaufbau, die Reform und die Modernisierung der Ukraine“ mobilisieren will. Zur Konferenz selbst sind nach aktuellem Stand Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen nicht zugelassen. Es gibt jedoch ein umfangreiches Begleitprogramm, das von verschiedenen staatlichen und kommunalen und mit ihnen kooperierenden Stellen ausgerichtet wird.

Die Ukraine ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt und vom Export seiner Rohstoffe abhängig. So etwa vom Export von Erdgas, was von Russland mehrfach in „Gaskriegen“ ausgenutzt wurde. Auch die landwirtschaftliche Produktion (Weizen, Sonnenblumen, Gerste) ist weitgehend exportorientiert und wird zum Teil von Agrarkonzernen kontrolliert, denen eine große Zahl von kleinen Landwirtschaftsbetrieben und Bauern gegenübersteht. Die Ukraine verfügt mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde über ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Europäischen Union.

Das Land besitzt zudem einen reichen Schatz an sogenannten kritischen Rohstoffen wie Kobalt, Titan, Beryllium, Graphit und eine Reihe von Seltenen Erden. Hinzu kommt eines der größten Lithiumvorkommen weltweit, das auf etwa 500 000 Tonnen geschätzt wird und umweltfreundlich abbaubar ist. Die Aneignung dieser Schätze ist nicht nur Hintergrund für die russische Besetzung der Ostukraine, sondern gilt auch als entscheidend für die Energiewende der EU.

Die Löhne gehören mit zu den niedrigsten in Europa, Arbeitsrecht und Kollektivverträge wurden schon vor Ausbruch des Krieges teilweise ausgehöhlt und geraten seither immer stärker unter Druck. Die Regierung hatte schon zuvor versucht, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und die noch aus der Sowjetzeit stammenden arbeiter*innenfreundlicheren Gesetze abzuschaffen. Das unter Kriegsrecht stehende Land ist jetzt ein neoliberales Versuchslabor, das vor allem für europäisches Kapital als perfekter lnvestitionsstandort dienen soll.

Es ist nicht verwunderlich, dass einige Großkonzerne ein großes Interesse an der Ukraine haben. Die Weltbank schwärmt von der Öffnung der ukrainischen Schlüsselindustrie für kapitalistische Unternehmen. Auf der Londoner Konferenz im vorigen Jahr wurden BlackRock, eine der größten Vermögensverwaltungen weltweit, und J.P. Morgan, die größte US-Bank, damit beauftragt, sich um die Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft zu kümmern.

Die von der Bundesregierung ausgerichtete Berliner Konferenz gibt vier zu behandelnde Themenbereiche an:

Konkrete Projekte, die in den Blick genommen werden, sind u. a. der ukrainische Energiemarkt mit dem Aufbau einer Wasserstoffproduktion, die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft mit Hilfe ausländischen Kapitals, die Reorganisation des Gesundheitssektors, eine stärkere Rolle westlichen Kapitals im Städte- und Wohnungsbau sowie lukrative Beratungsleistungen zur Umsetzung der „nachhaltigen Strukturanpassung“. Wie ein Wiederaufbau der Ukraine im Interesse der Konzerne, des Finanzkapitals, des IWF und der EU aussehen würde, zeigt exemplarisch der „Ukraine-Plan“, der am 18. März 2024 vom Ministerkabinett der Ukraine in Abstimmung mit der EU als Dekret Nr. 244-p verabschiedet wurde. Dieses Vorhaben wird auch von der Bundesregierung unterstützt.

Eine zentrale Frage beim Wiederaufbau der Ukraine ist die Verschuldung. Die Ukraine war schon vor Kriegsbeginn im Februar 2022 stark verschuldet. 2020 hatte die ukrainische Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland mehr Zahlungsverpflichtungen, als es ihrer jährlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprach. Der Krieg hat die Auslandsverschuldung der Ukraine vervielfacht, das Land ist heute der weltweit drittgrößte Schuldner des IWF. Die zusätzlichen Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg werden zurzeit auf 750 Milliarden Dollar geschätzt. Nach dem Ende des Krieges werden vom ukrainischen Staat Rückzahlungen erwartet, insbesondere von den institutionellen Finanzorganisationen (wie dem IWF), der EU und großen privaten Anleihegläubigern. Sowohl die hohe und wachsende Verschuldung der Ukraine als auch ihre Annäherung an die EU bedrohen den Lebensstandard und die sozialen Rechte der Arbeiter*innen im privaten wie im öffentlichen Sektor. Dies verringert auch deren Möglichkeiten, beim Wiederaufbau ein gewichtiges Wort mitzureden, obwohl sie die Hauptlast des Krieges tragen. Diese Sichtweise aber spielt bisher auf der Konferenz keine Rolle.

Die Gewerkschaften in der Ukraine kämpfen an zwei Fronten: Sie kämpfen gegen die russische Aggression und gegen die neoliberale Politik der Selenskyj-Regierung, die den Auflagen der EU und des IWF Folge leistet. Diese Politik spaltet die Gesellschaft und wälzt die Last des Krieges einseitig auf die arbeitende Bevölkerung ab. Dies schwächt letzten Endes auch den Widerstandswillen gegen die militärische Aggression. Klar ist, dass an einen ernsthaften Wiederaufbau des Landes erst zu denken ist, wenn die Waffen schweigen und die russischen Truppen sich zurückgezogen haben.

Nicht die Interessen der Gläubiger und Konzerne dürfen den Wiederaufbau der Ukraine bestimmen, vielmehr müssen gute Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bevölkerung und soziale Rechte geschaffen und gestärkt werden. Nachdem der Krieg die Ukraine ausgeblutet hat, darf es nicht auch noch zum Ausverkauf ihrer Ressourcen, Mineralien und fruchtbaren Ländereien kommen.

      
Mehr dazu
Michael Roberts: Kein Ende des Krieges in Sicht, die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024)
Jakob Schäfer: Eskalation oder Verhandlungen?, die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024)
Dringender gemeinsamer Appell der ukrainischen Gewerkschaften, Ukraine-Blog der ISO (06.04.2024)
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ISO-Bundeskonferenz: Solidarität mit dem Widerstand in der Ukraine und der russischen Antikriegsbewegung! Stoppt den Krieg!, intersoz.org (17./18. September 2022)
Jakob Schäfer: Zur Logik von Putins Ukraine-Krieg und den Folgen, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022)
 

Der ukrainische Staat muss in die Lage versetzt werden, die für Leben und Wirtschaften notwendige Infrastruktur wieder aufzubauen. Die Arbeiter*innen und die Frauen tragen die Hauptlast des Krieges, sie müssen jetzt das Sagen haben, ihre Bedürfnisse müssen prioritär berücksichtigt werden. Die Ukraine braucht Lebens- und Wohnräume, ein Arbeitsrecht und Einkommen, die attraktiv sind für die Menschen, die dort leben wollen und darüber hinaus für die zahlreichen Flüchtlinge, die in ein lebenswertes Ursprungsland zurückkehren wollen. Der Widerstand gegen die russische Aggression wird durch höhere Einkommen für ukrainische Arbeiter*innen und Bauern und mehr Rechte am Arbeitsplatz, auf Bildung und Gesundheit gestärkt.

Die Initiative „Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften“, die im Oktober 2023 eine Reise in die Ukraine organisiert hat, um Gespräche mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu führen und Kontakte zu knüpfen, schlägt vor, anlässlich der Ukraine Recovery Conference in Berlin eine eigene Veranstaltung zu organisieren, bei der die Interessen der Lohnabhängigen zu Wort kommen sollen. Zusammen mit Aktiven von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine sollten als Ergebnis der Veranstaltung Anforderungen an einen Wiederaufbauprozess formuliert werden, die die Bedürfnisse der Bevölkerung und vor allem der arbeitenden Menschen berücksichtigt und sie an diesem Prozess beteiligt.

Die internationale Unterstützung für den Kampf um soziale Rechte und einen Wiederaufbau, der Teilhabe ermöglicht und sich an den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung orientiert, ist unerlässlich. Die Vorhaben der Konzerne und Finanzindustrie müssen öffentlich gemacht werden und zusammen mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine müssen Vorschläge für konkrete gemeinsame Projekte und Kampagnen – etwa für die Streichung illegitimer Schulden – erarbeitet werden.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz