Festung Europa

Festung Europa

Auch wenn der Anlass zu dem folgenden Artikel zurückliegt, wird die Migration angesichts der sich verschärfenden multiplen Krise weiter zunehmen und wird der hier skizzierte Ausbau Europas zu einer Festung gegen Flüchtlinge fortschreiten.

Galia Trépère

In der Nacht zum 13. September kamen mehr als 7000 Migrant*innen von den Küsten Tunesiens und Libyens auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa an. Die von Einwohnern und Freiwilligen verteilten Lebensmittel und Kleidung reichten nicht einmal aus, um die Mindestbedürfnisse der erschöpften und ausgehungerten Neuankömmlinge zu befriedigen. Der Bürgermeister von Lampedusa rief am selben Abend den Notstand aus und forderte vom italienischen Staat und den europäischen Ländern „Unterstützung und schnelle Transfers auf das Festland“. [1]

Im Juni starben mehr als 650 Migrant*innen beim Untergang des Fischkutters, der sie vor der griechischen Küste transportierte, und auf Lampedusa ertrank ein fünfjähriges Kind. Seit Jahresbeginn kamen fast 120 000 Menschen an der italienischen Küste an und 2325 starben oder wurden im Mittelmeer vermisst, als sie versuchten, Europa zu erreichen, um der Hölle ihres Landes zu entfliehen.

Die schrecklichen Katastrophen, die sich in den letzten 15 Tagen in Marokko und Libyen ereignet haben, die Kriege in der Sahelzone und in Subsahara-Afrika, das Elend und die Hungersnöte, die durch die Folgen des Krieges in der Ukraine verschlimmert werden, die Verschärfung der Wirtschafts- und Klimakrise treiben Hunderttausende Frauen, Männer und Kinder dazu, die schlimmsten Gefahren auf sich zu nehmen und ihr Leben zu riskieren, um ins Exil zu gelangen. Für die herrschenden Klassen in Europa geht es jedoch, sobald die Pflichtübung geheuchelten Mitleids absolviert ist, nur noch darum, „die Grenzen zu schützen“ und ihre Ordnung zu verteidigen, die Ordnung der multinationalen Konzerne, die hemmungslose Ausbeutung von Mensch und Natur, die den Planeten verwüstet, allen voran ihre ehemaligen Kolonialbesitzungen, die immer noch und immer wieder in Unterentwicklung und Elend zurückgeworfen werden, wie zu Zeiten der alten Kolonialreiche.


Statt Mauern, Stacheldraht und Auffanglager …


„Das Wichtigste ist nicht, die Migranten umzusiedeln, sondern sie daran zu hindern, Afrika zu verlassen“, erklärte Italiens rechtsextreme Regierungschefin Meloni gleich zu Beginn, während ihr Kollege und politischer Verbündeter Salvini beklagte: „Diese Migrationswelle ist ein Akt des Krieges.“

Die französische extreme Rechte nutzte die Gelegenheit, um ihre Kampagne für die Europawahlen zu starten. Bardella, der künftige Spitzenkandidat des RN [Rassemblement National], forderte Macron auf, sich zu verpflichten, dass „Frankreich keinen einzigen Migranten aufnimmt“. Marion Maréchal, die die Liste von Reconquête [„Rückeroberung“, eine von E. Zemmour gegründete rechtsextreme Partei, AdÜ] anführen wird, sprach ebenso wie ihre Tante Le Pen von einer „Überflutung“. „Angesichts der Dringlichkeit“, tönte der Fraktionschef der Republikaner Ciotti, „fordern wir den Präsidenten der Republik auf, bis Ende des Jahres ein Referendum über die Einwanderung abzuhalten“.

Die extreme und reaktionäre Rechte, die die Tragödie der Flüchtlinge für ihre fremdenfeindliche und rassistische Demagogie instrumentalisieren und Angst und Vorurteile schüren, überbieten nur die Politik, die die Staaten der Europäischen Union ohnehin bereits umsetzen. Macron sagt auch nichts anderes: „Europa muss seine Grenzen besser schützen. Es muss diese Ausreisen vom afrikanischen Kontinent und aus dem Nahen Osten stärker verhindern.“ [2]

 

Flucht übers Meer

Lebos (Griechenland), Foto: Ggia

Genau diese Schließung der europäischen Grenzen verursacht diese Tragödien, denen die Flüchtlinge zum Opfer fallen, denn sie haben keine andere Wahl, als auf illegale Mittel und skrupellose Schlepper zurückzugreifen. Zwölf europäische Staaten haben bereits 2000 Kilometer Mauern und Stacheldraht errichten lassen, um weitere Einreisen in ihr Hoheitsgebiet zu verhindern. Und vor allem hat die Europäische Union das harte Durchgreifen gegen Migrant*innen scheinheilig an Staaten wie die Türkei, Marokko, Tunesien, Libyen und Mauretanien delegiert. Exilbewerber*innen aus Subsahara-Afrika sind dort schlimmsten Übergriffen ausgesetzt, und in Tunesien kam es zu regelrechten rassistischen Pogromen, die von der Regierung angezettelt wurden.

Das von den EU-Minister*innen diskutierte „Migrations- und Asylpaket“ sieht den Bau von Auffanglagern an den Außengrenzen der EU für 30 000 und längerfristig 100 000 Personen vor, um all jene, die kein Asyl erhalten – die überwiegende Mehrheit –, in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Es sieht auch eine Verschärfung des Dubliner Übereinkommens vor, nach dem das erste Land, in dem ein Flüchtling in Europa ankommt, dafür zuständig ist, wodurch die Hauptlast der Aufnahme von Flüchtlingen auf die Länder der „ersten Reihe“ – Spanien, Italien, Griechenland, Zypern und Malta – verlagert wird. Die herrschenden Klassen in Europa kennen nur ihre nationalen Interessen, auch wenn sie in der EU verbündet sind.


… eine Welt ohne Grenzen und Kapitalismus


Anders als uns die reaktionären Demagog*innen mit ihren Verschwörungsmärchen glauben machen wollen, trotzen Hunderttausende von Frauen, Männern und Kindern den Gefahren ihres Exils nur deshalb, weil sie keine andere Wahl haben. Die uneingeschränkte Herrschaft des globalisierten Kapitalismus und die daraus resultierenden multiplen Krisen – Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz und der militärischen Spannungen und Kriege, Wirtschafts- und Klimakrisen, zunehmende Unterdrückung – machen die Situation der Flüchtlinge in ihren Ländern untragbar.

Der Kampf der Migrant*innen für die Verteidigung ihrer Rechte, des Rechts auf Freizügigkeit und freie Niederlassung, für die Regularisierung aller Menschen ohne Ausweispapiere, ist dem Inhalt nach subversiv und emanzipatorisch, weil dadurch die Fundamente des kapitalistischen Privateigentums – Grenzen und Nationalstaat – in Frage gestellt werden.

Diese Nationalstaaten sind von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung überholt worden, von der Entstehung einer Weltwirtschaft, die auf der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Völkern und dem freien Kapital- und Warenverkehr beruht.

      
Mehr dazu
Inge Höger: Das EU-Grenzregime – Abschottung statt Asylsystem, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023)
Jakob Schäfer: Die EU-Politik vermehrt die Fluchtursachen, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023)
Koordination der ISO: Thesen zur Migrationsdebatte, die internationale Nr. 1/2019 (Januar/Februar 2019)
Büro der IV. Internationale: Schluss mit der unmenschlichen Einwanderungspolitik!, die internationale Nr. 5/2018 (September/Oktober 2018)
 

Und genau diese historisch überholten Klassenstrukturen, die keine andere Funktion haben, als die Interessen der herrschenden Klassen und der Privilegierten im Widerspruch zum Fortschreiten der Technik und der Kultur zu verteidigen, sind die grundlegende Ursache für die Übel, unter denen die gesamte Menschheit leidet.

Die Migrant*innen sind nicht bloße Opfer der reaktionären und fremdenfeindlichen Demagogie, sondern Teil des internationalen Proletariats, das um seine Existenzbedingungen kämpft – ein Kampf, der die institutionellen und ideologischen Pfeiler der etablierten Ordnung, die Nation und den Nationalismus, untergräbt und an einen Humanismus appelliert, der auf internationaler Solidarität beruht. Ihre Forderungen, ihr Kampf sind die Forderungen aller Arbeiter*innen: Für die Öffnung der Grenzen, für die Umwälzung der sozialen Verhältnisse auf globaler Ebene, um die Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen und nicht mehr den Bereicherungtrieb einer winzigen, parasitären Minderheit.

Diese Forderungen sind keine Wünsche für die ferne Zukunft, sondern entsprechen den unmittelbaren Bedürfnissen, die der Bankrott des Kapitalismus erfordert. Sie sind die Antwort auf die demagogischen Zauberlehrlinge, die sich keine andere Antwort als polizeiliche oder militärische Mittel vorstellen können, und bloß für weitere Spannungen und Dramen sorgen, um die Privilegien einer überholten Klasse zu verteidigen.

aus: Démocratie révolutionnaire vom 17.09.2023
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Lampedusa verfügt mit seinen 6000 Einwohnern über ein Auffanglager für lediglich 400 Personen und ist auf einen schnellen Transit angewiesen, da die Forderungen nach mehr Mitteln von Staat und Regionalregierung ignoriert wurde [AdÜ].

[2] In der BRD hetzen natürlich gleichfalls nicht nur die Rechten gegen „unkontrollierte Zuwanderung“, auch für die Sozialdemokratie gehören „zu einem Teil“ auch „hohe Zäune und Mauern“ an den Außengrenzen zur europäischen Asylpolitik [AdÜ].