Ukraine

Von Lissabon nach Krywyj Rih

Das nachfolgende Interview wurde Ende Mai mit dem Gewerkschaftsaktivisten und Mitglied von Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) Jurij Samoil geführt. Wir bringen Auszüge.

Interview mit Jurij Samoil

 Was sind – neben der Lohnfrage – die drängendsten Probleme der Linken, mit denen du gesprochen hast?

Jurij Samoil: In den europäischen Ländern, nicht nur in Frankreich, […], treibt die Menschen die Anhebung des Renteneintrittsalters um. […] Selbst wenn jemand einen gefährlichen Job hat, wirkt sich dies nicht wesentlich auf den Renteneintritt aus. In der Ukraine ist der Unterschied zwischen zwei Gehältern größer. Im Vergleich zu den westlichen Ländern sind wir immer noch dabei, „die Marke zu halten“.

Wir müssen für Lohnsteigerungen kämpfen, um auf das gleiche Niveau [wie in Westeuropa] zu kommen, unabhängig davon, ob wir in der EU sind oder nicht.

Einige Leute denken, dass sich die Änderungen der ukrainischen Gesetzgebung von den Änderungen der europäischen Gesetzgebung unterscheiden. In Wirklichkeit passen sie gut in das Gesamtbild der allgemeinen Angleichung der Sozialbereiche in Europa. Dies gilt für alle Aspekte der Arbeit, mit Ausnahme der Löhne, die die Eliten in den jeweiligen Ländern versuchen, niedrig zu halten. Manche hängen dem Irrglauben an, dass wir, wenn wir in die EU eintreten, umgehend die gleichen Löhne wie in Frankreich oder Deutschland haben werden. Doch das ist nicht möglich. Um das gleiche Niveau zu erreichen, müssen wir für Lohnerhöhungen kämpfen, unabhängig davon, ob wir Teil der EU sind.

 Haben sie neben der Sorge um das Renteneintrittsalter noch über andere Probleme berichtet?

Sie setzen sich auch mit der Behauptung der Unternehmer auseinander, die Löhne seien wegen des Kriegs in der Ukraine eingefroren. Es stellt sich heraus, dass sie damit ein Narrativ befördern, das der Bevölkerung dieser Länder nahelegt, der Ukraine nicht zu helfen und sich auf die Seite unseres Feindes zu stellen.

 Es stellt sich also heraus, dass sie die Situation für ihre eigene Bereicherung nutzen?

Ja, um des Profits willen. Ihnen geht es nicht um die Menschen. Es gibt noch ein weiteres Problem, das für die Linken in Europa von größter Bedeutung ist. Sie können sich nicht an die neuen Realitäten anpassen, sie denken in alten Mustern. Deshalb besetzen populistische Organisationen, nennen wir sie die neuen Faschisten, den freien politischen Raum. Die linken Organisationen, die ich kennengelernt habe, machen wenig mit jungen Menschen. Sie haben keine spezifische Jugendpolitik, solche Organisationen haben keine Zukunft.

 Du meinst, sie beziehen die Jugendlichen nicht in gewerkschaftliche Aktivitäten ein?

Sie meinen, dass junge Menschen sich selbst engagieren und bilden sollten, wie ein Kind, das in einer Familie aufwächst. Ihrer Meinung nach ist jede Organisation eine große Familie (lacht). Sie verlieren junge Mitglieder. Die alten, ideologisch motivierten und gefestigten Aktiven gibt es zwar noch, aber sie sterben aus. Und sie kümmern sich nicht um die neuen Wähler*innen, also unterstützen diese Leute irgendeinen Blödsinn. In der Ukraine ist es das Gleiche: Die Leute wählen ein Bild.

Es gibt noch ein weiteres Problem, das für die Linke in Europa entscheidend ist. Sie können sich nicht an die neuen Realitäten anpassen, sie kleben an den alten Erzählungen.

 Wie hoch ist das Durchschnittsalter der Gewerkschaftsaktiven?
 

Jurij Samoil

Grafik: Спільне/Commons

Diejenigen, die ich getroffen habe, waren meist älter, sogar älter als ich. Ich habe auch Menschen mittleren Alters und junge Leute gesehen, aber nicht viele. In der polnischen Gewerkschaft Inicjatywa Pracownicza sind vorwiegend junge Leute. Es ist eine neue, dynamische und interessante Gewerkschaft. Die Mitglieder erklären, dass die IP eine anarchosyndikalistische Organisation ist. Das ist genau das Richtige für junge Leute. Sie sind auf eine gute Art revolutionär.

 Und sie befassen sich mit neueren Arbeitsverhältnissen wie der prekären Arbeit bei Amazon?

Ja. Sie tun es, und sie sind gut darin, weil dort junge Leute arbeiten. […]

In Deutschland sind es vor allem Rentner*innen. Dort ist die Situation generell traurig: Die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat der Linken die Wähler*innen weggenommen. Seltsamerweise halten die Bürger*innen die Partei für links. Sie unterscheiden die AfD nicht wirklich von der LINKEN. Die AfD arbeitet mit jungen Leuten, was die LINKE gar nicht tut. Ich habe ihnen gesagt, dass sie dies im Auge haben sollten. Wisst ihr, was der Vorteil der Sozialen Bewegung (Sozialnyj Ruch) ist? Dass ich der einzige Ältere bin. Die anderen sind dreimal jünger (lacht) […]

 Welches sind die drängendsten Fragen des Klassenkampfes in der Ukraine? Und was hat sich deiner Meinung nach durch den voll entwickelten Krieg geändert?

Die Probleme der Arbeiter*innenklasse in der Ukraine haben sich verschärft, weil die Arbeiter*innen jetzt an der Front stehen. Es ist mehr Blut geflossen. Wenn ich mit denjenigen spreche, die an der Front kämpfen, stelle ich fest, dass die Menschen nur schwarz-weiß denken. Die Beziehungen in den Militäreinheiten verlaufen parallel zur Kapitalisierung der Gesellschaft. Ganz gleich, was sie behaupten: Die Armee ist in Schichten geteilt. Und das berührt einen Nerv. In meiner kleinen Gewerkschaft kämpfen 200 Leute, und weitere 300 sind Verwandte von Gewerkschaftsmitgliedern. Deshalb drehen sich alle Gespräche in den Familien um den Krieg, die Front, die Soldaten und die Auswirkungen auf das Leben aller.

In Krywyj Rih gab es bereits mehrere Proteste gegen die Verhältnisse in den Militäreinheiten, und es ist klar: Sie ähneln den Protesten gegen die Verhältnisse in den Bergwerken. Etwas Ähnliches geschah in Krywyj Rih am Vorabend des 1. Mai. Etwa tausend Frauen hatten sich versammelt, um herauszufinden, wie es ihren Ehemännern ging. Wir sprechen von den Stahlarbeitern, die jetzt im Krieg sind. Sie beschwerten sich über Korruption, Inkompetenz einiger Beamter und über Diebstahl. Es gab Fragen zur ungerechten Behandlung der einfachen Soldaten (Arbeiter, die zu Soldaten wurden) durch Offiziere (Topmanager). So wurden die Probleme der ukrainischen Zivilgesellschaft in der Armee übernommen.

Wir befinden uns jetzt seit über einem Jahr im Krieg. Zu Beginn der groß angelegten Invasion befanden wir uns in einem Schockzustand, aber jetzt sind wir in der Lage zu analysieren, was in der Armee vor sich geht, und wir müssen es analysieren. Ich möchte euch ein Beispiel geben. Als Aktivist erhielt ich einen Anruf zu folgendem Problem: Der Familie wurde mitgeteilt, dass ihr Mann getötet wurde und seine Leiche in der grauen Zone liegt. Da es aber unmöglich ist, die Leiche zu bergen, wurden die Zahlungen an die Familie eingestellt. Keine Leiche, kein Geld. Das ist Kapitalismus. Ein anderer Fall: Der Kommandant und die gesamte Einheit wurden getötet. Es gibt niemanden, der die Tatsache des Todes bestätigt. Könnt ihr euch die Situation vorstellen, in der sich die Familien befinden? Der soziale Kampf, so sehr sie auch versuchen, ihn zu verbergen, hat sich auf die Streitkräfte der Ukraine verlagert. Dort geschehen die gleichen Dinge, nur dass sie jetzt mit Blut vermischt sind.

      
Mehr dazu
Fred Leplat: Keine Streubomben - auch nicht für die Ukraine, die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023)
Büro der IV. Internationale: Für das Recht der Ukrainer*innen, über ihre Zukunft zu entscheiden!. Vollständiger Rückzug der russischen Truppen!. Stoppt den Krieg!, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023) (nur online). Auch bei intersoz.org
Gewerkschaftliche Solidarität. Humanitäre Hilfe für ukrainische Gewerkschaften, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023) (nur online)
Internationale Sozialistische Organisation: Unterstützt die demokratische Linke in der Ukraine!. Solidarität mit Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung), die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
 
 Ist deiner Meinung nach das Verbot von linken Symbolen und Namen ein großes Problem für die linke Bewegung in der Ukraine? Siehst du das als ein Hindernis für die weitere Entwicklung der Arbeiter*innenbewegung und der Linken?

Saakaschwili bekämpfte einst die Gewerkschaften in Georgien. [1] Nur die stärksten überlebten diese Repression. Jetzt sind die Gewerkschaften dort wieder voll funktionsfähig, Georgien ist zu einem der dynamischen Zentren der Gewerkschaftsbewegung geworden. Ich denke also, dass das Verbot von Symbolen letztlich den Rechten schadet.

Ich habe mit den Rechten gesprochen – man kann sie sogar als Faschisten bezeichnen – und sie haben mir gesagt: „Symoneko, Moroz und Co. sind keine Kommunisten. Die wirklichen Kommunisten seid ihr und die Soziale Bewegung“. Sie wissen also Bescheid, und egal, wie wir uns bezeichnen, werden wir für sie immer noch Kommunisten sein.

Das Verbot der Symbole zeigt nur, dass die Machthaber Angst vor uns haben. In Wirklichkeit ändert es nichts. Dieses oder jenes Symbol – wo ist der Unterschied? Es gibt eine Geschichte über einen Zollbeamten, der fragte, ob die Sterne auf Converse-Schuhen und Karlsberg-Bier kommunistisch sind (lacht). Die Leute, die linke Symbole verbieten, glauben, dass Rosa Luxemburg und Karl Marx russische Faschisten sind. Warum also überhaupt über sie reden?

Jurij Samoil ist Mitglied der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in Krywyj Rih und unterstützt seit Jahren den Kampf der Kolleg*innen im Bergbau und in der Metallindustrie. Im Frühjahr traf er Gewerkschaftsaktivist*innen in mehreren europäischen Ländern. (Das ist die Erklärung für den Titel „Von Lissabon nach Krywyj Rih“)
Übers.: Jakob S.
Quelle:Спільне/Commons



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Unter der Regierung Saakaschwili fand eine beispiellose Deregulierung statt. Kontrollorgane wie die Arbeits-, Gesundheits- und Lebensmittelinspektion wurden abgeschafft. So wurde Georgien zum einzigen Land unter den 183 Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation, das keine funktionierende Arbeitsaufsichtsbehörde hat. Der Staat war somit nicht in der Lage, die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter*innen in den Betrieben zu überwachen. Gewerkschafter*innen wurden verfolgt. Georgien lag auf Rang 6 der Länder mit den schlechtesten Arbeitsgesetzen.