Griechenland

Alexis, was hast du aus unserem Sieg gemacht?

Aus dem NEIN beim Referendum wird das JA in Brüssel

Andreas Sartzekis

„61,3 % der Bevölkerung stimmten für den Bruch mit dem System, 251 Parlamentarier hingegen für die Unterwerfung unter das System“ so titelte Prin, das Organ der NAR, die Teil von Antarsya und die größte Organisation der revolutionären Linken in Griechenland ist, am vergangenen Sonntag.

So lässt sich die gegenwärtige paradoxe Situation gut zusammenfassen, wobei inzwischen der von der übergroßen Parlamentsmehrheit (251 von 300 Abgeordneten) abgesegnete Entwurf für ein drittes Memorandum schon wieder durch die weitergehenden Forderungen der Aasgeier aus der Troika überholt worden ist. Während die europäischen Institutionen, aber auch die griechischen Parlamentsparteien alles dazu beigetragen haben, das Referendum vom 5. Juli vergessen zu lassen, müssen wir dessen Bedeutung voll erfassen, wenn wir das Gebot der Stunde verstehen wollen – eines Augenblicks, den Stathis Kouvelakis als tragisch erlebt, der aber sehr viel mehr an ein Kasperletheater erinnert, in dem den Gift spritzenden Schreiberlingen der bürgerlichen Presse die Rolle des Gendarmen zukommt.


War das Referendum für die Katz?


Dass Tsipras über das so außergewöhnliche Resultat der Volksabstimmung geflissentlich hinweggeht, lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten offen: Entweder war es Verrat und somit Ausdruck des konterrevolutionären Charakters von Syriza, oder eine erzwungene, aber unvermeidliche Anpassung an Umstände, die keinerlei Raum für die geringsten Reformschritte geboten haben. Derlei Debatten mögen üblich sein, aber jetzt geht es darum, nach vorne zu schauen und Initiativen zu ergreifen, die plausibel und vorantreibend sind, indem sie die Botschaft aufgreifen, die uns die Lohnabhängigen und das einfache Volk durch ihr Abstimmungsverhalten mit auf den Weg gegeben haben.

Zunächst müssen wir dabei die Frage beantworten, ob das politische Gespür von Tsipras für die Ausrufung des Referendums ausschlaggebend war. Unseres Erachtens nein: Eher war es ein Akt politischen Verzagens der Syriza-Führung, die erleben musste, dass sie bei der Troika – deren Spielregeln Tsipras akzeptiert hatte – gegen eine Wand lief, egal welche Vorschläge sie lieferte. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass schon das Wahlprogramm von Thessaloniki hinter das Parteiprogramm von Syriza zurückgefallen war und dass Syriza nach der Wahl noch einmal hinter dieses Minimalprogramm zurückgegangen ist und sich sog. „rote Linien“ (Renten, Arbeitsrecht) verordnet hat. Diese „roten Linien“ wurden anschließend immer weiter zurückgeschraubt, und zwar in dem Maß wie die europäische Bourgeoisie – aus politischen Gründen, wie Nobelpreisträger Stiglitz eindeutig nachwies – Druck machte und die griechische Regierung trotzdem an einer Einigung mit der Troika festhielt.

Mehr noch als die vollständige Anpassung an die Vorgaben des Kapitalismus, wie sie die Sozialdemokratie vollzogen hat, handelt es sich hier um die extreme Naivität einer reformistischen Partei, deren radikaler Minderheitsflügel keinen entscheidenden Einfluss auf die Orientierung der Partei hat. Statt auf eine europaweite Mobilisierung der Lohnabhängigen und der Jugend zu setzen, um so Druck auf die Troika auszuüben, hat die Syriza-Führung in bewährter reformistischer Manier ein Referendum aus dem Ärmel geschüttelt, um sich beide Optionen offen zu halten: Bei einem Sieg des JA wäre Tsipras wohl zugunsten der Rechten als Regierungschef zurückgetreten, um sich in der Opposition zu regenerieren; bei einem Sieg des NEIN wollte er sich bessere Verhandlungsbedingungen für die Auflagen der Troika verschaffen, wobei er zuvor schon die Pläne für ein drittes Memorandum in Brüssel vorgelegt hatte.

Was dann allerdings für alle Welt einschließlich der revolutionären Linken – obschon sie mit entscheidend für ein NEIN mobilisiert hatte – überraschend kam, war der klare Ausgang des Referendums und der darin ausgedrückte Wille gegen ein weiteres Sparprogramm – ein JA zu Europa, aber nicht dem der Aasgeier und Oligarchen, sondern dem der Lohnabhängigen, der Jugend und der Solidarität. Dies mag zwar so nicht explizit formuliert worden sein, aber es war das erste Mal in der Geschichte Europas, dass eine solche Forderung derart massiv aufscheint und neben dieser Massenmobilisierung die Befürworter des JA zum Europa der Privilegierten in der Versenkung verschwinden, obwohl sie die breite Unterstützung der Medien genossen haben.

Insofern war die Position der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) beschämend, die dazu aufgerufen hatte, ungültige Stimmzettel abzugeben, und deren Vorsitzender Koutsoumbas seine Rede am Wahlabend ausdrücklich auch an die Befürworter des JA gerichtet hat.

Und will man das Wahlverhalten der AnhängerInnen der „Goldenen Morgenröte“ werten, so hat diese zwar zu einem NEIN aufgerufen – ohne dafür im Geringsten zu mobilisieren, wie die sämtlich linksgerichteten Parolen an den Häuserwänden zeigen –, die Meinungsumfragen am Tag der Abstimmung zeigten aber: 60 % der Gefolgschaft der „Goldenen Morgenröte“ haben mit JA gestimmt. Auch darin kommt die Polarisierung dieser Kampagne: „Klasse gegen Klasse“ zum Ausdruck.

Am Abend des 5. Juli war bereits frühzeitig klar, dass das NEIN gewinnen würde, und nach zwei Stunden gar, dass es einen wahren Erdrutsch zugunsten der einfachen Bevölkerung gegeben hat, die spontan in Massen auf den Syntagma zusammenströmte. Tsipras jedoch brauchte fünf Stunden, um eine Erklärung abzugeben, was zeigt, dass die Syriza-Führung eher verwirrt als – wie das sonstige Land – überrascht war. Und während die Rechte Schiffbruch erlitten und Samaras umgehend zurückgetreten war, die privaten Medien sich blamiert hatten und in den Arbeitervierteln „das Ende der Sparpolitik“ gefeiert wurde, kam die Rede von Tsipras wie eine kalte Dusche daher: Statt zur Fortsetzung der Massenmobilisierung aufzurufen, auch um den Ruf nach sozialer Gerechtigkeit bis zur Troika vordringen zu lassen, hat Tsipras diesen ungeheuren Sieg förmlich zunichte gemacht, indem er zur nationalen Einigung aufrief und die Vorsitzenden der anderen Parteien zu einem gemeinsamen Gespräch am Folgetag einlud, um sich über gemeinsame Forderungen, d. h. ein neues Memorandum, zu verständigen.


Welche Folgen hat dieser Verrat am Wählerwillen?


Man tut sich schwer, nicht von einem Verrat zu sprechen, so wie damals, 2013, als die GymnasiallehrerInnen in unbefristeten Streik getreten waren und auch die Abiturprüfung bestreiken wollten und die Gewerkschaftsführung ihnen in den Rücken fiel. Hierbei hatte sich die Mehrheit aus Pasok, Rechten und Syriza innerhalb der Gewerkschaft durchgesetzt und lediglich der von Antarsya dominierte linke Flügel für die Fortsetzung des Streiks und somit die Respektierung des Mitgliederwillens ausgesprochen. Die KKE im Übrigen von vornhinein gegen diesen Streik.

Bereits damals kam die Furcht bei Syriza zum Vorschein, sich außerhalb der Institutionen zu befinden. Das ist heute nicht anders, bloß mit ungleich ernsteren Konsequenzen, sofern der eingeschlagene Kurs nicht durch Mobilisierungen umgedreht wird. Bereits jetzt stehen – abgesehen von den Aasgeiern in Brüssel – wenigstens drei Gewinner fest. Erstens die KKE, deren Führung durch das Referendumsergebnis desavouiert worden war und die nun nach dem Motto „Wir haben’s ja gleich gesagt“ wieder Oberwasser bekommt, statt wegen ihrer Wahlempfehlung unter Druck seitens der Basis zu geraten. Statt einer möglichen Zusammenarbeit von unten zeigte sich bereits bei der Demonstration am 10. Juli gegen den Parlamentsbeschluss, dass die PAME wieder breit und auf äußerst sektiererischer Grundlage mobilisieren kann.

Zweiter möglicher Gewinner sind die Nazis, die darauf hoffen können, dass die Desillusionierung nationalistischen Tendenzen Vorschub leisten könnte. Die Prozesse gegen deren Parteiführer wurden übrigens verschoben und diese auf freien Fuß gesetzt. Seither nehmen auch wieder rassistische Übergriffe zu …

Der dritte Gewinner sind die reaktionären Parteien, die sich am Abend des 5. Juli nicht mehr sonderlich viel erträumen konnten. Jetzt hört man sie in einer Weise tönen, als stellten sie die Regierung. Und die europäischen Granden behandeln sie auch so und laden diese Hohlköpfe ein … soweit ihr Respekt vor der Souveränität des Volkes!

Der große Verlierer dabei sind natürlich das griechische Volk und besonders die ArbeiterInnen und die Jugend. Memorandumspolitik à la Tsipras heißt Rentenkürzung, Rücknahme der angekündigten bescheidenen Anhebung des Mindestlohns, Privatisierungen und damit Entlassungen, „Abspecken“ des öffentlichen Dienstes etc. Also das diametrale Gegenteil dessen, was in der Abstimmung am 5. Juli zum Ausdruck gekommen ist, und aller schönen Hoffnungen, die seit den riesigen Kundgebungen am 3. Juli aufgekeimt waren. Ganz zu schweigen von dem, was passiert, wenn die Mobilisierungen gegen die Sparpolitik nicht zunehmen – dann sinkt der Mut und stattdessen könnten nationalistische Tendenzen aufkommen, was den Nazis Auftrieb verschafft und die Hoffnung auf einen Aufschwung der radikalen Linken in Griechenland und auch in Europa auf Dauer zerschlagen könnte, ohne dass revolutionäre Strömungen davon profitieren könnten. Genau deswegen brauchen wir jetzt breiteste Mobilisierungen im ganzen Land und auch in ganz Europa.


Gegen Sparpolitik – europaweit!


Die Parlamentsabstimmung am vergangenen Freitag hat gezeigt, wie weit sich dieses Parlament vom Willen des Volkes entfernt hat: Die alten Regierungsparteien haben zugestimmt, ebenso wie ihr neuer Partner Potami und ANEL, der Koalitionspartner von Syriza. Die KKE hat wie die Goldene Morgenröte mit Nein gestimmt. Interessant ist, wie die Syriza-Abgeordneten gestimmt haben: Zwei Neinstimmen von Mitgliedern der DEA, acht Enthaltungen, darunter die Minister der Linken Plattform Lafazanis und Stratoulis, die Parlamentsvorsitzende Konstantopoulou und die ehemalige ERT-Reporterin Kyritsis, sowie sieben Nichtteilnahmen. Unter den Ja-Stimmen waren 15 Abgeordnete der Linken Plattform, unter dem irrigen Vorwand, die Regierung nicht stürzen zu wollen. Alles in allem zeigt dies nur wenig Protest seitens der Syriza-Abgeordneten angesichts dieser Verfälschung des Wählerwillens.

      
Weitere Artikel zum Thema
Ligue Communiste Révolutionnaire / Socialistische Arbeiderspartij (Belgien): Die Machtprobe in Griechenland und
die Dringlichkeit einer linken Strategiedebatte
, Inprekorr Nr. 5/2015 (September/Oktober 2015) (nur online)
Solidarität mit den politischen Gefangenen vom 15. Juli
Gegen die Polizeigewalt
, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Léon Crémieux: Tsipras beugt sich der Arroganz der Troika, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Cédric Durand: Der griechische Scheideweg, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Erklärung der Vierten Internationale: Der Sieg des „Nein“ kündigt entscheidende Schlachten gegen die Troika an, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Socialist Resistance: Tsipras ruft Referendum wegen griechischer Schuldenkrise aus, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Vierte Internationale: Nein zum Diktat der Troika, Solidarität mit dem griechischen Volk, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Erklärung der OKDE-Spartakos: Nein zu einem Abkommen mit der EU – keine weiteren Verhandlungen!, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Stathis Kouvelakis: Alle gemeinsam für ein Nein! und einen vollständigen Bruch, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
Jean-Philippe Divès: Die Schlinge zieht sich zu …, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015)
Henri Wilno: Die Wurzeln der Krise in Griechenland, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015)
Sotiris Martalis: Keine Zugeständnisse an die Verfechter der Austerität, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015)
 

Und wieder lautet die Rechtfertigung wie stets, wenn Versprechen gebrochen wurden: Am Ende der Verhandlungen wird zwar ein faules Abkommen stehen, aber danach können wir endlich regieren, was wir in den letzten fünf Monaten nicht konnten … Zwar liegt in den Umfragen Syriza noch immer vor den Rechten, aber das eigentliche Problem lautet anders: Auch wenn Syriza an der Regierung bleibt – was angesichts des dezidierten Willens der EU-Granden keineswegs ausgemacht ist – dann, mit welcher Politik? Zumal die Forderungen Frankreichs und Deutschlands darauf abzielen, die Souveränität Griechenlands unverhüllt infrage zu stellen.

Es geht also um enorm viel und die europäische Linke hat eine enorme Verantwortung, die nur durch entschlossenes und einiges Vorgehen gestemmt werden kann. Und in Griechenland müssen die bereits jetzt schon enormen Mobilisierungen noch zulegen. Am Freitag waren es Tausende nach einem Aufruf von Antarsya, den Anarcho-Syndikalisten, der PAME (der KKE nahestehende Gewerkschaftsströmung) und der Linken von Syriza; am Sonntag hatten Antarsya und die Basisgewerkschaften aufgerufen …

Wir müssen auf dem NEIN des Referendums aufbauen und alle linken Strömungen zusammenbringen und vor allem alle, die nicht darin organisiert sind. Zugleich müssen wir an alle linken Parteien, ob an der Regierung oder nicht, appellieren, gemeinsam eine Politik zu betreiben, die die Austerität beendet. In dieser Hinsicht hat Manolis Glezos bereits ein leuchtendes Beispiel geliefert und der alte Kommunist Bitsakis äußerte die Hoffnung, dass sich Hunderttausende in den Städten Griechenlands auf die Straßen gehen.

Der Bruch mit der Sparpolitik muss mehr denn je im Zentrum der Forderungen stehen, und zwar europaweit. Nur so können wir ein gemeinsames Europa anpeilen, das auf solidarischer Wirtschaftspolitik basiert und nicht auf dem Streben nach Profit für die deutschen und französischen Banken und die Steuerparadiese mitten in Europa.

Athen, den 13. Juli
Der Autor ist Mitglied der Leitung von OKDE-Spartakos, der griechischen Sektion der IV. Internationale, die Teil von Antarsya ist, des Bündnisses der radikalen Linken.
Übersetzung aus dem Französischen: MiWe



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz