Krise und Linke

Europa – die Krise und die antikapitalistische Linke

Interview mit François Sabado

 Verglichen mit den Spitzenwerten, die das Wirtschaftswachstum 2006 erreicht hatte, ist das BIP im letzten Quartal 2008 um 1,7 % in den USA und um 1,9 % in der Eurozone zurückgegangen. Nach Schätzung der US-Notenbank wird 2009 das BIP in den USA um weitere 1,9–2,7 % schrumpfen und in der Eurozone um 2,2–3,2 %. Dies zeigt, wie schwer die weltweite kapitalistische Krise die EU bis ins Mark getroffen hat. Dennoch fällt die Reaktion der politisch Verantwortlichen in den USA und der EU recht unterschiedlich aus: Während Obama mehr als 5 % des BIP von 2009 als Konjunkturspritze verausgabt, gibt es auf europäischer Ebene kein richtiges Maßnahmenpaket zur Krisenbekämpfung. Auf Ebene der Einzelstaaten sind die Maßnahmen noch bescheidener und teilweise sogar widersprüchlich. Wie kommt es zu diesen Diskrepanzen?

Wenn man über die verschiedenen Szenarien der Krisenbekämpfung diskutieren will, muss man sich zunächst einmal mit dem Kern des Problems befassen. Die von dir genannten Zahlen zeugen von einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise sowohl in den USA als auch in Europa, wobei hier spezifische Besonderheiten gelten. Meines Erachtens wird die Wirkung des Obama-Plans auf die Wirtschaftskrise in den USA eher überschätzt. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman geht davon aus, dass die Konjunkturmaßnahmen das Ausmaß der Rezession allenfalls halbieren werden und somit die Entwicklung lediglich begrenzt, aber nicht umgekehrt werden kann.

Und in Europa sind die Konjunkturmaßnahmen – gelinde gesagt – noch mehr unterdimensioniert: 1,3 % des BIP in Großbritannien, 1 % in Frankreich, 0,8 % in Deutschland und 0,1 % in Italien. Bei dem 400 Milliarden schweren Pseudopaket, das für die europäische Konjunktur gefordert wird, werden kunterbunt Neuinvestitionen und längst beschlossene, lediglich vorgezogene Projekte, die mitunter bereits in den jeweiligen Budgets enthalten waren, miteinander vermengt. Die tatsächlich neu veranschlagten Ausgaben belaufen sich auf 200 Mrd. € – 1,5 % des europäischen BIP – wovon 20 Mrd. vom gesamteuropäischen Haushalt und 170 Mrd. von den Einzelbudgets der Staaten aufgebracht werden. Dieses arg beschränkte europäische Konjunkturpaket ist letztlich nichts als eine gesamteuropäisch verbrämte Addition mehr oder minder bereits von den Einzelstaaten beschlossener Konjunkturmaßnahmen. Die Krise fördert somit zu Tage, dass in ihrem Verlauf nationalstaatliche Elemente in der Wirtschaftspolitik über die gesamteuropäische Perspektive hinaus wieder stärker als zuvor ans Licht treten, was übrigens auch logisch ist, da die Instrumente zur Intervention nur auf das jeweilige Land bezogen sind.

Was die Krise für Europa so einzigartig macht, ist, dass die EU mit ihren Strukturen sogar noch krisenverschärfend wirkt. Den politischen Initiativen werden Grenzen gesetzt durch die Kombination aus mangelnder Demokratie und mangelnder wirtschaftlicher Integration. Durch das Dogma der „freien und unverfälschten Konkurrenz“ wird die Lage nur noch drastischer. Die mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon seit Ende der 80er Jahre geschaffenen Strukturen sind überfordert und die Kriterien des Stabilitätspaktes haben sich in Luft aufgelöst. Die Haushaltsdefizite liegen über der sakrosankten 3 %-Marke und die öffentliche Verschuldung galoppiert. Die Stützungsmaßnahmen für die Industrien der einzelnen Länder wie die Neuwagenprämie in Frankreich rangieren weit vor der Förderung der gesamteuropäischen Industrie. Areva schließt Verträge mit dem russischen Atomstromversorger und lässt dafür ein gemeinsames Projekt mit dem europäischen Partner Siemens sausen. Der Euro hält sich, aber die monetären Spannungen nehmen zu. Das britische Finanzsystem ist existentiell betroffen, und die baltischen Staaten sind paralysiert. Selbst Deutschland ist mit knapper Not letzten Dezember durch eine Anleihe bei den Banken über die Runden gekommen. Allerorts besteht erheblicher Kapitalbedarf, und Griechenland, Irland, Ukraine und Spanien stehen am Rande des Bankrotts. Rettungspläne werden erstellt für den Fall, dass sich die Krise verschlimmert. In dieser Situation fungiert der IWF als Notanker. Neben der Krise ist auch deren Bekämpfung zum Problem geworden, da im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert, als die Nationalstaaten im Gefolge der expandierenden kapitalistischen Märkte und einem ungeheurem Drang nach Demokratie, der von der aufkommenden Bourgeoisie gebremst und mitunter auch unterdrückt worden ist, entstanden, die Gründung der EU weder von einem gesamteuropäischen Kapitalismus noch von demokratischem Elan getragen wurde. Im Gegenteil, ein europäisches Kapital als solches ist nie entstanden, da die kapitalistische Globalisierung darüber hinweg gegangen ist und die bedeutendsten europäischen Unternehmen mit multinationalen Konzernen (MNK) verschmolzen sind, die meist von Kapital aus den USA oder den Schwellenländern dominiert wurden. Die herrschenden Klassen haben sich auf den vereinigten Markt in der globalisierten Welt gestürzt, um ihre Anteile zu sichern, anstatt Europa als wirtschaftliche, soziale und politische Einheit aufzubauen.

 Die einzelnen EU-Länder sind gegenwärtig nicht im gleichen Maß von der Krise betroffen: während sich in Irland und Spanien die Konkurse 2008 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt haben, beträgt in Gesamteuropa die Zunahme bloß 11 %; in Großbritannien, Spanien und Irland befinden sich die Verschuldung der Privathaushalte und die Immobilienkrise auf gleichem Niveau wie in den USA, was für Frankreich oder Italien keineswegs gilt; Ungarn und Litauen sind gerade noch am wirtschaftlichen Bankrott vorbei geschrammt – und auch nur mit Hilfe des IWF; die Regierungen in Riga und Budapest wurden durch Mobilisierungen gegen die von IWF und EU oktroyierte Austeritätspolitik gestürzt ... Werden diese Unterschiede Deines Erachtens weiter zunehmen oder wird die Krise mit zunehmender Schärfe eher dazu führen, dass ganz Europa in gleicher Weise davon betroffen ist?

Meines Erachtens werden die Unterschiede im Lauf der Krise weiter zunehmen. Die Wirtschaftsstrukturen in Europa sind gerade nach der EU-Erweiterung recht heterogen und die politischen Entscheidungen sind darauf ausgerichtet, die jeweiligen Interessen der herrschenden Klassen, d. h. der Kapitalisten, in den einzelnen Ländern Europas auf dem Weltmarkt und bei der internationalen Arbeitsteilung zu verteidigen. Die deutsche Wirtschaft beispielsweise versucht ihre Vormachtstellung im Ausrüstungssektor aufrecht zu erhalten und ist aufgrund der stärkeren Exportabhängigkeit vom gegenwärtigen Einbruch des Welthandels besonders betroffen. Aber wenn sie durchhält, wird sie beim wirtschaftlichen Wiederaufschwung umso bessere Ausgangsbedingungen haben, um ihre Sonderstellung auf internationaler Ebene aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite haben Länder wie Österreich, das sich besonders stark mit Investitionen und Krediten in den mitteleuropäischen Ländern engagiert hat, oder Spanien mit seinen hohen Kreditvergaben an die lateinamerikanischen Länder aufgrund ihrer unterschiedlichen Position auf dem Weltmarkt ganz andere Interessen. Insofern fallen die Reaktionen auf die Krise zwangsläufig auseinander und die jeweiligen Besonderheiten der Staaten nehmen weiter zu. Und die strukturelle Schwäche der europäischen Wirtschaft liegt genau in der Koordination dieser Divergenzen. Die politischen Entscheidungen und die Kriseninterventionen verlaufen entlang der nationalen Interessen und es gibt eben kein gesamteuropäisch koordiniertes Vorgehen auf dem Banken-, Industrie- und Sozialsektor.

 Die gemeinsame Währung hat anscheinend zunächst einmal das Währungssystem der wirtschaftlich kleinen Länder mit einem überproportionalen Bankensektor, der von der Krise besonders betroffen ist – wie Belgien, Luxemburg oder Irland – davor bewahrt, durch aggressive Spekulationsmaßnahmen in gleicher Weise wie Island zusammenzubrechen. Insofern drängen manche Länder wie Dänemark, Tschechien und gar Island in die Euro-Zone. Unterdessen sind die Stabilitätskriterien – wie du erwähnt hast – auseinandergebrochen, und in den meisten Ländern hat das Haushaltsdefizit die magischen 3 % überschritten oder werden es im Laufe des Jahres tun. David Mc Williams, irischer Wirtschaftswissenschaftler und vormaliger Chef der Schweizer Bank UBS, verstieg sich hinsichtlich der irischen Wirtschaft sogar zu der Behauptung: „Entweder müssen wir ein Schuldenmoratorium erklären oder aus dem Euro aussteigen. Und das gleiche könnte für Spanien, Italien oder Griechenland gelten.“ (The Daily Telegraph vom 19. Jan. 2009). Besteht die Gefahr, dass die Euro-Zone infolge der Krise zerfällt oder könnte der Euro im Gegenteil daraus gestärkt hervorgehen, als Reservewährung durch die Gründung einer Art europäischer Schatzkanzlei? Welchen Preis hätten hierbei die Arbeiter zu zahlen, wenn es nach dem Willen der Bourgeoisie geht?

Ich glaube nicht, dass die Eurozone auseinander zu fallen droht, da sie sich trotz alledem in der Krise bewährt hat. Das Problem wird vielmehr sein, die Zahlungsfähigkeit und Liquidität in der Krise aufrecht zu erhalten. Insofern werden auf dem G20-Treffen unter der Ägide des IWF internationale wirtschaftliche Vorkehrungen getroffen werden, die die betroffenen Länder vor dem Zusammenbruch bewahren sollen. Die politischen Konsequenzen hieraus liegen auf der Hand: Anheizung der Inflation – da Geld gedruckt werden muss – und Absenkung der Löhne, Sozialhaushalte und öffentlichen Dienste gemeinsam mit einer Verschärfung der Arbeitsbedingungen. Der Euro wird beibehalten werden, und Griechenland, Italien oder Spanien werden kaum aussteigen, weil dadurch zusätzlich zur Wirtschaftskrise noch eine enorme gesellschaftspolitische Krise hinzu käme, die nicht nur den Aufbau der EU, sondern die internationale Position dieser Länder beträfe. Aber um den Euro zu stabilisieren, der ja doch auf Europa eine integrative Wirkung gegenüber dem Dollar oder dem chinesischen Yuan ausübt, würde man die Lasten nach unten verteilen – sei es durch Inflation oder durch Austeritätspolitik bzgl. der Löhne, öffentlichen Dienste und Sozialhaushalte.

 Durch die massiven Stützungen der Banken und die Bereitschaft der kapitalistischen Staaten , Hunderte von Milliarden dafür einzuschießen, haben sich die jahrzehntelang wiedergekäuten Argumente, dass sich der Staat die angeblich defizitären öffentlichen Dienste nicht leisten könne, binnen weniger Tage in Luft aufgelöst. Die spektakulären Staatsinterventionen zugunsten des Kapitals waren nicht zu übersehen. Dadurch hat die neoliberale Ideologie viel Kredit verloren und – mangels besserer Alternativen – wird der Keynesianismus wieder aus der Versenkung geholt und von mancher Seite so präsentiert, als könnte dadurch der „Sozialstaat“ wiederbelebt werden. Ist eine solche Wendung vorstellbar?

Keynes kommt wieder in Mode, wenigstens auf dem Papier. Die politische Praxis ist freilich anders. Gegenwärtig geht manches nicht mehr und anderes noch nicht. „Nicht mehr“ heißt, dass das neoliberale Modell in einer unübersehbaren Krise steckt und keine Regierung sich mehr darauf berufen kann, sondern allerorts Modelle propagiert werden, in denen staatliche Interventionen und sozialpolitische Maßnahmen kombiniert werden … Aber „noch nicht“ heißt, dass noch keine Alternative in Sicht ist, vielleicht weil die Krise noch immer unterschätzt wird.

Die Bourgeoisie in Europa neigt eher dazu, abzutauchen und auf das Ende der Krise zu hoffen und dabei – in Erwartung des Wiederaufschwungs – ihre gewohnten wirtschaftspolitischen Prinzipien hochzuhalten. Trotzdem ist unübersehbar, dass der Staat wieder mehr in die Wirtschaft eingreift – bei der Rettung der Banken oder durch Forcierung von Umstrukturierungs- und Konzentrationsprozessen in Industrie und Finanzwesen. Insofern gibt es einen Wandel gegenüber dem ultraliberalen Grundsatz à la Thatcher und Reagan von „immer weniger Staat“.

Dabei darf man nicht übersehen, dass die Privatisierungen und Deregulierungen vom Staat ausgingen und insofern der bürgerlich kapitalistische Staat sich neu aufgestellt hat. Dabei darf man Theorie und Praxis nicht durcheinander bringen: Es gab nie „weniger Staat“, sondern lediglich weniger staatliche Sozialpolitik und weniger Regulierung in Wirtschaft und Finanzwesen mit dem Ziel, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse neu aufzurollen. Der Staat ist nie als solcher verschwunden, und jetzt meldet er sich wieder zurück, um das System zu retten. Im Unterschied jedoch zum Wiederaufbau der Staaten nach dem 2. Weltkrieg wird dabei nicht der „Sozialstaat“ wieder aufgebaut und werden nicht öffentliche Dienste, soziale Absicherung und Kaufkraft nach dem klassischen keynesianischen Muster gefördert. Insofern ergibt auch die ganze Diskussion über Keynesianismus wenig Sinn.

Wenn man unter Keynesianismus die Wirtschaftspolitik versteht, die in den USA Mitte der 30er Jahre oder im Nachkriegseuropa betrieben wurde, erkennt man, dass die gegenwärtigen Maßnahmen davon entfernt sind. Ein weiteres und viel zitiertes Beispiel sind die Steuerparadiese und das G20-Treffen. Statt einer schwarzen Liste gibt es jetzt eine graue, die die kooperationsbereiten Staaten umfasst, aber die Steuerparadiese werden nicht abgeschafft. Dabei wäre dies eine einfache Maßnahme. Man bräuchte bloß die Banken zu schließen, die in den Steueroasen angesiedelt sind, was die Staaten auf administrativem Weg kurzum verfügen könnten. Dies geschieht aber nicht, weil die Steueroasen integraler Bestandteil der Finanzkreisläufe der MNK sind. Ein gutes Beispiel sind die jüngsten Ermittlungen gegen die drei französischen Konzerne Michelin, Elf-Total und Adidas, die einen Gutteil ihrer Gelder in diesen Steueroasen angelegt haben. Und ein Angriff auf diese Steueroasen bedeutet zugleich einen Eingriff in die Politik der MNK, die ihr Kapital dorthin schleusen, um gezielte Steuervorteile zu erlangen. Darin zeigt sich konkret die gegenseitige Verflechtung zwischen Industrie- und Finanzkapital. Dies ist auch der Grund, weshalb man nicht gegen den Finanzkapitalismus vorgehen kann, ohne zugleich die Grundlagen der MNK und des kapitalistischen Systems, d. h. das Streben nach maximalem Profit anzutasten. Darin liegen auch die Grenzen der ganzen wirtschaftspolitischen „Reform“vorhaben, die Verhältnissen gegenüber stehen, wie sie der Kapitalismus in den vergangenen 30 Jahren neu geschaffen hat.

Zuletzt darf man bei all diesen Debatten um Keynes nicht übersehen, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Regierungen niemals durch theoretische Erörterungen und ideologische Auseinandersetzungen zustande gekommen sind, sondern politische Änderungen immer Ausdruck neuer Kräfteverhältnisse sind. Zudem fand das klassische keynesianische Konjunkturprogramm in einer Zeit statt, in der durch den Krieg Werte und Warenproduktion in verheerendem Umfang vernichtet worden waren und ein Wiederaufbau anstand, der obendrein noch auf der Rüstungsindustrie basierte.

 Robert Brenner hat in einem kürzlich erschienenem Interview [1] behauptet, dass durch die ganzen politischen Maßnahmen zur Dämpfung der kapitalistischen Krise, die seit dem 2. Weltkrieg getroffen wurden – ob keynesianisch wie in den Jahren 1950–1970, oder auf Grundlage von Verschuldung und Finanzspekulationen wie seither – verhindert worden sei, dass die Überkapazitäten in der industriellen Produktion durch die Krise „bereinigt“ worden wären. Dadurch hätte auch die Rentabilität der Investitionen in der verarbeitenden Industrie nicht wieder ansteigen können, was zum Fall der Profitrate führte. Insofern hätte jedwede kapitalistische Lösung, d. h. Wiederanstieg der Profitrate, notwendigerweise eine solche „Bereinigung“ der Überkapazitäten in der Produktion zum Inhalt, was einhergeht mit einer umfassenden Vernichtung der unrentabelsten Industrien, massiver Arbeitslosigkeit und erheblicher Absenkung der Arbeitskosten, d. h. der direkten und indirekten Lohnbestandteile. Damit wäre man weit von einem „Sozialstaat“ entfernt. Aber um der Arbeiterklasse eine solche Niederlage zuzufügen, müsste sich das Kapital – und namentlich das europäische – auf autoritäre Eingriffe des Staates stützen können, wie du bereits erwähnt hast. Sind deines Erachtens die demokratischen Errungenschaften gefährdet?

Zunächst zu der Einschätzung von Robert Brenner. Wenn man von Überkapazitäten spricht, muss man dazusagen, wo man sie verortet. Meint man die imperialistischen Metropolen, ist diese These zutreffend. Dabei darf man jedoch nicht außer Acht lassen, dass mit der Restauration des Kapitalismus in Russland, Mittel- und Osteuropa und v. a. China ein politischer Wandel von historischen Ausmaßen eingetreten ist. Kann man daher – mit Blick auf die gesamte Weltwirtschaft einschließlich der Schwellenländer in Lateinamerika und Indien mit den dort entstandenen Märkten und Öffnungen dem Kapitalismus gegenüber – wirklich von Überkapazitäten sprechen? Eine weitere Frage wirft China auf: Kann der Weltkapitalismus nicht mit Hilfe der dortigen kapitalistischen Dynamik der Krise zwar nicht entkommen, sie aber wenigstens dämpfen und eingrenzen? Natürlich sind diese Wirtschaftsräume nicht voneinander entkoppelt – wie wir bereits erlebt haben – und die Krise in den imperialistischen Zentren hat aufgrund der dortigen Exportabhängigkeit zur Folge, dass die Wachstumsrate in den Schwellenländern einschließlich China gefallen ist. Dennoch blieb dies in Grenzen, da gerade China noch immer beträchtliche Wachstumsraten verzeichnet und die Binnennachfrage angekurbelt wird. Fraglich ist nur, ob dies ausreicht, die Wirtschaft wieder anzukurbeln oder wenigstens die Krise zu dämpfen.

Natürlich geht die gegenwärtige Krise mit einer umfassenden Vernichtung von Werten einher, wie man bspw. am Automobilsektor einschließlich der Zulieferindustrie etc. erkennt. Aber auch in anderen Branchen wie Immobilien und Dienstleistungen … werden Überkapazitäten massiv abgebaut. Damit einher gehen Angriffe auf die sozialen Standards, um die Krisenlasten abzuwälzen. Folgen sind Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen, die in vielen Ländern gerade den öffentlichen Dienst betreffen. Beim jetzigen Ausmaß der Krise ist die Bourgeoisie noch bestrebt, Schäden durch wirtschaftliche Rettungsmaßnahmen zu begrenzen, indem sie die Banken subventioniert oder Kurzarbeit fördert etc. Wenn sich die Krise hingegen verschärft – und davon ist auszugehen – werden die sozialen Angriffe sehr viel stärker ausfallen, was mit entsprechend autoritären Maßnahmen einher gehen wird. Daneben erleben wir in etlichen Ländern einen Anstieg rechtsradikaler, fremdenfeindlicher und reaktionärer Strömungen, die solche Zwangsmaßnahmen zweifellos befürworten. Wenn es also zu solch einer Konfrontationspolitik kommen wird, werden autoritäre Maßnahmen unvermeidbar sein.

 Die Maßnahmen der kapitalistischen Institutionen zielen darauf, die Arbeiter für die Krise zahlen zu lassen. Du hast bereits erwähnt, dass in etlichen Ländern die Einkommen im öffentlichen Dienst gesenkt werden – in Irland bspw. um 7 %, in Litauen um 15 % und in Ungarn hat die Regierung im Zuge der Umstrukturierung beschlossen, das 13. Monatsgehalt entfallen zu lassen. Der Chef der EZB, Jean-Claude Trichet, hat die europäischen Regierungen Anfang März aufgefordert, „weitere energische Schritte zur Haushaltskonsolidierung durchzuführen, besonders in Hinblick auf die Löhne im öffentlichen Dienst“. Auch wenn die Regierungen in Ungarn und Litauen wegen der Proteste gegen diese Maßnahmen zurücktreten musste und auch Irland Schauplatz starker Proteste war – am 21. Februar demonstrierten bspw. 120 000 Menschen – werden die beschlossenen Maßnahmen aufrecht erhalten. Wie werden sich die Arbeiter gegen diese Angriffe wehren können?

Diese Maßnahmen sind recht heftige Angriffe, wie sie in dieser Form andere Länder wie Frankreich noch nicht erreicht haben. Die soziale und politische Lage in Europa ist recht unterschiedlich.

Wenn man die Krise von 1929 zum Vergleich nimmt, besteht eine Korrelation zwischen dem Ausmaß der Krise und den sozialen Auseinandersetzungen damals. Es gab Konfrontationen zwischen revolutionären und konterrevolutionären Bestrebungen, zwischen den durch die russische Revolution losgetretenen revolutionären Bewegungen und den konterrevolutionären Bewegungen, die den Aufstieg des Faschismus und Nazismus begleiteten. Da sich die gegenwärtige Krise nur langsam verschärft und im Unterschied zu 1929 kein allgemeiner Zusammenbruch erfolgt, sondern die Krise mit erheblichem sozialem und ökonomischem Aufwand abgefedert wird, fallen auch die Reaktionen entsprechend langsam aus, sowohl was die Angriffe des Kapitals als auch die soziale Gegenwehr betrifft. Verglichen mit den 30er Jahren, wo es zu abrupten Schwenks und sehr harten und geballten Auseinandersetzungen gekommen ist, verlaufen die Dinge momentan entspannter und mit zeitlichem Abstand. Daraus ergibt sich ein widersprüchlicheres Bild, wo in bestimmten Bereichen bereits Angst und Unruhe grassieren, die Arbeiter aber noch nicht demoralisiert sind oder mit dem Rücken an der Wand stehen. Bislang hat die Arbeiterklasse in diesen ersten Monaten der Krise noch in keinem Land eine entscheidende Niederlage erlitten. Es gibt im Gegenteil soziale Gegenwehr, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß. In einigen Ländern erleben wir soziale und politische Polarisierungen, in denen auf der einen Seite Proteste und Kämpfe aufflammen, auf der anderen Seite aber reaktionäre, fremdenfeindliche und rassistische Strömungen aufkommen. Dies ist der Fall in Großbritannien, wo mitunter Streiks unter dem Vorzeichen „Britische Arbeitsplätze für britische Arbeiter!“ geführt werden; oder in Italien, wo mit Berlusconi eine autoritäre Regierung ganz besonderer Art am Ruder ist, die ihren Rückhalt in der erstarkten Lega Nord und fremdenfeindlichen und nationalistischen Strömungen hat. In manchen Ländern kann es zu einem Aufstieg faschistischer oder parafaschistischer Organisationen kommen. Zwischen Wirtschaftskrise und Klassenkampf und Radikalisierung gibt es keinen mechanischen Zusammenhang. Die Dinge liegen komplizierter.

Bisher gab es in einigen Ländern heftige Streiks und Aktionstage, in Griechenland explosionsartige Jugendrevolten Ende 2008, in Portugal und Italien umfangreiche Mobilisierungen Anfang des Jahres und in Frankreich etliche Aktionstage mit z. T. breiter Resonanz. In Frankreich herrscht eine spezifische Situation, was Radikalität und gesellschaftliche Breite angeht. Dies beruht auf einem hohen Protestpotential unter den französischen Arbeitern, die sich auf ein zwar angefleddertes aber noch intaktes soziales Sicherungssystem und etliche institutionelle und organisatorische Errungenschaften der Arbeiterbewegung stützen können, die Träger dieser Proteste sind.

Die Schlüsselfrage liegt darin, wie man Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose und Jugendliche zu Millionen auf der Basis der dringlichsten Forderungen: „Verteidigung der Arbeitsplätze, Verbot von Entlassungen, Sicherung der Löhne und öffentlichen Dienste“ vereinigen kann, um die jetzigen Regierungen in diesen Fragen so unter Druck zu setzen, dass solche Sofortmaßnahmen durchsetzbar sind. Auf alle Fälle ist ein Zusammenschluss auf Grundlage eines sozialen, demokratischen und auch ökologischen Dringlichkeitsprogramms angesichts der Krise der erste Schritt, da diese Probleme miteinander verknüpft sind.

 Wie reagiert die Sozialdemokratie?

Die gesamte Politik in Europa steht momentan unter dem Vorzeichen der Krise. Dies wird die Lage der Linken und der Arbeiterbewegung – möglicherweise einschneidend – verändern. Die Sozialdemokratie hingegen wird weiterhin neoliberale Politik betreiben. In der Regel haben die sozialdemokratischen Spitzenpolitiker und die Gewerkschaftsspitzen innerhalb des EGB die Rettungsmaßnahmen für die Banken unterstützt und sie allenfalls für unzureichend erklärt sowie Gegenleistungen gefordert. Im Allgemeinen beriefen sie sich dabei auf Versatzstücke des Keynesianismus – gerade wenn sie die Oppositionsbänke drücken – um sie dann aber ihrem neoliberalen Politikverständnis unterzuordnen. Daneben gibt es aber auch Leute wie Antony Giddens, den Theoretiker des von Tony Blair goutierten „Dritten Wegs“, die die keynesianischen Prinzipien ablehnen, da sie durch die kapitalistische Globalisierung hinfällig geworden seien. Es kann also vorkommen, dass sich die Sozialdemokraten scheinbar mehr nach links bewegen, um angesichts der Krise weiter obenauf zu sein und zu überdauern. In ihren eigentlichen Positionen jedoch, wie sie im SPE-Manifest zusammengefasst sind, unterstützen sie weiterhin den europäischen Einigungsprozess, so wie er in den vergangenen Jahrzehnten konzipiert und in den europäischen Verträgen, namentlich dem von Lissabon, kodifiziert wurde.

In ihrem Konjunkturprogramm, das vom dänischen SPE-Vorsitzenden Rasmussen vorgestellt wurde, bleiben sie unverbindlich. Zusammengefasst lautet dies etwa so: „Mehr Investitionen; Unterstützung der Beschäftigungslage; Beachtung der sozialen Kosten der Krise; Solidarität mit denen, die in Schwierigkeiten stecken; Regulierung des Finanzsektors“. Dabei bewegen sie sich aber im Rahmen dessen, was die europäischen Staatschefs auf ihren Spitzentreffen seit Sommer 2008 beraten haben, und sie begeben sich damit in eine Sackgasse, was öffentliche Dienste, europäischen Mindestlohn, Angleichung der sozialen Rechte und Maßnahmen gegen Arbeitsplatzabbau anlangt. Ein gerne übersehenes Beispiel ist die Forderung der französischen PS nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 3 %, was netto 30 € im Monat entspricht. Zum Vergleich haben die Lohnabhängigen in Guadeloupe und Martinique 200 € erstreikt. Der faktische Unterschied zwischen den europäischen sozialdemokratischen Parteien und den Vorgaben aus Brüssel liegt darin, dass sie deren Unterdimensionierung und zeitliche Abfolge kritisieren, nicht aber Zweck und Ziel. Ihr momentanes Leitbild ist praktisch das Konjunkturpaket von Obama. Ihre Politik besteht darin, die europäischen Regierungen zur Unterstützung der IWF-Positionen bewegen zu wollen. Die Spitzen des EGB folgen in dieser Hinsicht der europäischen Sozialdemokratie und kritisieren die Konjunkturpakete als unterfinanziert und unterdimensioniert. Konjunkturprogramme, die nicht das Bankenwesen in einen einheitlichen öffentlichen Dienst unter Kontrolle der Bevölkerung überführen, die Privatisierungen nicht zurücknehmen, den öffentlichen Dienst nicht wieder ausbauen, die bestehenden Verträge und somit die ganze dort beschlossene Politik nicht grundlegend in Frage stellen wollen und die andererseits die Verteilung der Reichtümer sowie das Missverhältnis zwischen Löhnen und Profiten hinnehmen und nicht die Eigentumsverhältnisse grundlegend in Frage stellen wollen – solche Konjunkturprogramme können vorübergehend die Lage verbessern und einem Teil der Betroffenen helfen, aber sie werden nicht die Krise beheben und nicht deren Auswirkung auf die wichtigsten europäischen Länder.

 Woher kommt diese Anpassung der Sozialdemokratie, sogar wenn sie sich in der Opposition befindet?

Dass die SPE keine Alternative darstellt zur Politik der europäischen Regierungen, der EU-Kommission und der EU, ist auf einen strukturellen und historischen Wandel der Sozialdemokratie zurückzuführen. Seit zwanzig oder dreißig Jahren erleben wir eine ganz ausgeprägte Einbindung der Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Apparate auf gewerkschaftlicher und politischer Ebene an die seit 30 Jahren bestehende Form des Kapitalismus in Europa. Die sozialdemokratischen Spitzen haben sich sehr weit in die obersten Etagen und Eliten des Staates, der Finanz und der Wirtschaft integriert. Durch den Wandel der klassischen Sozialdemokratie zum Sozialliberalismus (im hiesigen Sprachraum eher Neoliberalismus) sind diese Führer empfänglicher für Politik und Präferenzen der herrschenden Klassen und deren Eliten als für die Interessen der Gewerkschaftsbürokratie und sogar der Bürokratien in den klassischen Sozialeinrichtungen, wie sie es noch in den Nachkriegsjahren bis in die 60er Jahre hinein waren. Der Schwerpunkt des sozialdemokratischen Apparats hat sich ganz einfach verschoben. Ihre Konzepte zeugen noch nicht einmal mehr von klassischem Keynesianismus, lediglich von ein paar keynesianischen Einsprengseln und Versatzstücken im Rahmen eines grundsätzlich neoliberalen Politikverständnisses. Zugrunde liegt also eine sozio-ökonomische Abhängigkeit dieser Apparate in Parteien und Gewerkschaften von der Form des Kapitalismus, der die europäische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geprägt hat.

Dies soll nicht heißen, dass die Sozialdemokraten klassisch bürgerliche Parteien werden, auch wenn die Dynamik in manchen Ländern dazu geführt hat. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht mit Italien, wo sich die KP zunächst zu Ablegern der II. Internationale und dann zur Demokratischen Partei entwickelt hat. Dieser Drift muss schon recht stark sein, wenn es bereits zu organischen Zusammenschlüssen zwischen der gebeutelten Sozialdemokratie und dem Zentrum kommt. Durch die Krise tritt dieser strukturelle Wandel der Sozialdemokratie noch stärker hervor. Eigentlich hätte man davon ausgehen können, dass sie sich gegen den Neoliberalismus durch eine Hinwendung zum klassischen Keynesianismus abgrenzt. Tatsächlich sind die Spielräume aber recht eng und Linkswendungen sehr überschaubar. Wenn sich die Situation ändert, mag hie und da ein politischer Schwenk vorstellbar sein, da immerhin ein historischer Bezug zur Sozialdemokratie vorhanden ist – etwa in Frankreich oder den skandinavischen Ländern mit sozialdemokratischer Tradition. Insofern haben wir es nicht mit klassisch bürgerlichen Parteien zu tun.

 Könnten die Parteien links der Sozialdemokratie, etwa die Europäische Linke (EL), als Alternative zur Sozialdemokratie fungieren?

In Frankreich werfen die KP und die Linkspartei der PS vor, ein doppeltes Spiel zu treiben: einerseits gegen Sarkozy zu polemisieren, andererseits den neoliberalen Aufbau Europas zu verteidigen. Genau diesen Vorwurf müssen sich auch die diversen KPen und Linksparteien gefallen lassen. Denn einerseits geben sie sich wortradikal in Bezug auf Lohnfragen oder Entlassungen in profitablen Unternehmen – eine Forderung, die sie von uns übernommen haben – andererseits schielt ihre Politik noch immer auf die Sozialdemokratie, mit der sie in Institutionen und bei Wahlen politisch kooperieren. Darin liegt das Kernproblem aller linksreformistischen Parteien in Europa, dass sie zwar radikale Forderungen erheben, ihr politischer Alltag jedoch ihrer Verankerung in den parlamentarischen oder paraparlamentarischen Institutionen untergeordnet ist und durch sie bestimmt wird. Und um in diese Institutionen zu gelangen und gewählt zu werden, gehen sie Bündnisse ein, die sie zur Aufgabe oder Aushöhlung ihrer radikalen Forderungen zwingen. Also während der Wahlkampagne halten sie diese noch hoch, und wenn es zur Sache geht und sie gemeinsam mit der Sozialdemokratie die Tagespolitik gestalten, passen sie sich politisch an ihre Verbündeten an. Durch ihren Elektoralismus und ihre Bündnisstrategie ist ihr soziales Transformationspotential historisch und politisch begrenzt. Gewisse Spielräume mag es geben, solange diese Parteien nicht direkt oder indirekt an der Regierung beteiligt sind. Aber selbst dann stehen sie oft genug mit den Sozialdemokraten gemeinsam auf regionaler oder kommunaler Verwaltungsebene in der Verantwortung, um den Umbauprozess in den wichtigsten europäischen Staaten zu betreiben.

 Die EAL hat auf ihrer Versammlung in Strasbourg am Vorabend der Anti-Nato-Demo einen Katalog sozialer und demokratischer Sofortforderungen verabschiedet. Worin liegen die taktischen und strategischen Hauptunterschiede zwischen der EAL und der EL?

Zunächst muss man festhalten, dass sich auf dieser Versammlung in Strasbourg etwas Wichtiges ereignet hat, das Ausfluss eines tiefer greifenden Prozesses ist: Das Zusammentreffen der Krise, der sozialen Proteste und der Rechtsentwicklung der sozialdemokratischen Parteien eröffnet Spielräume für alle Kräfte der radikalen Linken im weiteren Sinn. In diesem Kontext entsteht eine politische Auseinandersetzung zwischen den konsequent antikapitalistischen Kräften und denjenigen, die bekanntermaßen hin- und hergerissen sind zwischen eigenem kämpferischem Anspruch und politischer Unterordnung unter die Sozialdemokratie. Die Gretchenfrage ist doch heute in Europa, wie man zur Änderung der Gesellschaft und zur Regierungs- und Machtfrage steht. Tritt man für eine Alternative oder lediglich für einen Regierungswechsel ein? Die EL, die i. W. aus den KPen besteht, steht für einen Regierungswechsel und Koalitionsvereinbarungen mit der Sozialdemokratie. Die antikapitalistischen Kräfte haben eine unabhängige Position. Das bedeutet nicht, dass wir eine Regierungsverantwortung für alle Zeit ablehnen – im Gegenteil! Wir wollen die Verhältnisse ändern und dass sich unsere Ideen durchsetzen und Macht erlangen. Aber dies setzt soziale, ökonomische und verfassungsmäßige Umwälzungen voraus und bedeutet neue Arbeiterregierungen auf der Grundlage neuer Institutionen, wie sie durch einen Prozess autonomer Organisierung und außergewöhnlicher Mobilisierungen von Bevölkerung und Lohnabhängigen im Zuge der sozialen Krisen entstehen. Wir wollen nicht in eine Regierung, die letztlich nur die kapitalistischen und neoliberalen Verhältnisse verwaltet und ausbalanciert. In dieser Schlüsselfrage liegen bspw. die Unterschiede zwischen der NPA und Die Linke, die jeweils die wichtigsten Organisationen dieser verschiedenen politischen Linien in Europa sind. Die Linke ist aus zwei Elementen entstanden: der Radikalisierung von Teilen der Sozialdemokratie, der Gewerkschaftsbewegung und der Jugend in Westdeutschland einerseits und der Umwandlung der ehemaligen Staatspartei in Ostdeutschland in eine linksreformistische Formation. Besonders in Ostdeutschland wiegt die Tradition der Staatspartei sehr schwer, was heute dazu führt, dass Die Linke gemeinsam mit der SPD in Berlin die Landesregierung stellt. Darin zeigt sich eine fundamentale programmatische und strategische Orientierung, deren Politikverständnis sich darauf reduziert, den Sozialstaat wieder herstellen zu wollen – die sog. soziale Marktwirtschaft, bloß sozial ausgewogener. Wir wollen etwas anderes: die Arbeiterbewegung wieder aufbauen und soziale Bewegungen schaffen, um mit dem Kapitalismus zu brechen. Dies bedeutet heute, sich darauf zu verständigen, dass in Europa etwas grundlegend Neues entstehen muss, das unabhängig von den alten Führungen der traditionellen Linken ist, die in das klassische Spiel der Institutionen eingebunden sind.

      
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Was an Strasbourg so wichtig war, ist, dass die gesamte nennenswerte antikapitalistische Linke Europas vertreten war, abgesehen von linksoppositionellen Strömungen aus Deutschland, das durch die beiden revolutionären Organisationen RSB und ISL vertreten war, nicht aber durch die wesentlichen linken Strömungen aus DIE LINKE und der außerparlamentarischen Linken. Alle anderen aber waren da: der portugiesische Linksblock, die polnische PPP, Syriza und Entarsia aus Griechenland, SWP und SP aus Großbritannien, die Sozialistische Partei aus Schweden und eine Reihe weiterer Organisationen. Somit konnte ein Aktionsprogramm auf den Weg gebracht werden, das soziale, demokratische und ökologische Sofortmaßnahmen umfasst, und v. a. konnte eine gegenüber der Sozialdemokratie unabhängige politische Perspektive gewiesen werden. Zwar gibt es innerhalb der EAL auch Kräfte, die zugleich in der EL sind – aus Gründen, die in ihrer eigenen Geschichte oder in der ihres Landes liegen, mitunter auch durch politische Entscheidungen, über die man diskutieren sollte, begründet sind, aber insgesamt vertreten alle in Strasbourg repräsentierten Kräfte eine Orientierung, die gegen jedwede Regierungsbeteiligung mit sozialliberalen und sozialdemokratischen Kräften gerichtet ist. Es ist von großer Bedeutung, dass eine solche Gruppierung in Europa besteht. Jetzt geht es darum, wie man weiter verfährt, sowohl in der Praxis – in Strasbourg beteiligten wir uns gemeinsam an einer Demonstration und diskutierten weitere gemeinsame Initiativen – als auch im Diskussionsprozess, wobei hier die Krise ein Schwerpunkt sein sollte, worüber es sich regelmäßig auszutauschen gilt, um die gegenseitigen Standpunkte zu prüfen. Es gab zwei wichtige Debatten: über internationale Politik in Bezug auf die Nato und Militärfragen und über die Wirtschaftslage und das Vorgehen der einzelnen Organisationen in dieser Krise. Weiterhin sehr wichtig sind die unterschiedlichen Erfahrungen in den einzelnen Ländern, was sich in der Formulierung der Forderungen, den politischen Verhältnissen jedes Landes und in den praktischen Erfahrungen aus diesen Kämpfen niederschlägt. Daraus ergeben sich wertvolle wechselseitige Anregungen. Und erstmals scheint mir eine Ebene erreicht, auf der man den gegenwärtigen Stand der Beziehungen praktisch testen kann, nämlich bei den Europawahlen, wo es eine recht weit gediehene Kooperation gibt. Die NPA bspw. wird mit Olivier Besancenot in Portugal gemeinsam mit dem Linksblock und in Spanien mit der Antikapitalistischen Linken, die erstmals kandidiert und dafür 18 000 Unterschriften gesammelt hat, Veranstaltungen durchführen. Weiterhin mit der PPP in Polen, den belgischen Genossen, die mit einer Liste im französischsprachigen Teil antreten, wie auch mit der SP, die in Schweden eine Liste aufgestellt hat. Es gibt noch weitere gemeinsame Initiativen, auf denen die NPA vertreten sein wird: in Großbritannien, Griechenland und der Schweiz – auch über die Wahlen hinaus und daher eine verstärkte Kooperation zwischen verschiedenen Organisationen. Wir sind noch nicht dabei, eine Antikapitalistische Partei Europas aufzubauen und sogar noch weit davon entfernt, da die einzelnen Organisationen ihren eigenen Stellenwert, eine spezifische Geschichte und Aktivität haben. Aber wir orientieren uns auf die Schaffung eines antikapitalistischen Pols in Europa mit eigenem Profil, eigenen Initiativen und eigenen Kommunikationsstrukturen. Und dies ist etwas wirklich Neues in der gegenwärtigen politischen Lage in Europa.

Paris, 4. Mai 2009
Das Interview führte Jan Malewski für die französischsprachige Inprecor.
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009).


[1] Inprekorr Nr. 452/453 (Juli/August 2009)