Palästina

Die Lage der palästinensischen Bevölkerung nach dem Bruch der nationalen Einheit der politischen Elite

Ingrid Jaradat

Seit 2001 ist der im Oslo-Abkommen ausgehandelte Status der seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiete de facto ausgehebelt durch den Wiedereinmarsch der Israelis in die halbautonomen Palästinensergebiete, die Zerstörung der Infrastruktur der palästinensischen Autonomiebehörde und die nachfolgende Einsetzung eines zunehmend restriktiveren Militärregimes, das die Kolonisierung und Beschlagnahmung von Territorien weiter intensiviert. Sechs Jahre danach scheint nun auch das politische System, das den Kampf der PalästinenserInnen jahrzehntelang geprägt hat, diesen geänderten Realitäten anheim zu fallen. Nach dem Auseinanderbrechen der Koalitionsregierung zwischen Fatah und Hamas im Juni sind die von der Fatah geführte Autonomiebehörde und die PLO völlig diskreditiert und ohne Einfluss. Das politische System dieser palästinensischen Führungselite scheint irreparabel angeschlagen zu sein.

Aus Sicht der palästinensischen Bevölkerung sind die jüngsten Ereignisse im Gazastreifen tragisch: Weniger weil das ganze Ausmaß an Korruption und Unfähigkeit unter der traditionellen Führung zum Vorschein kommt, sondern weil es keine glaubwürdige politische Alternative gibt, die in der Lage wäre, Frieden und nationale Befreiung für die Bevölkerung sowie Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung für alle durchzusetzen.


Warum scheiterte die Regierung der Nationalen Einheit?


Obwohl eine große Mehrheit der palästinensischen und arabischen Bevölkerung das Mekka-Abkommen zunächst begrüßte, weil es die zutiefst irritierenden gewaltsamen Zusammenstöße zwischen den Fraktionen in den besetzten Gebieten vorerst beendete, wurde bereits im Februar deutlich, dass es nur ein brüchiger Pakt war, der in erster Linie den verschiedenen Interessen und Bedürfnissen der ansässigen politischen Eliten galt.

Hamas und der Muslimbrüderschaft, einer weltweit tätigen politisch-religiösen Bewegung der Sunniten, war am Zustandekommen dieses Abkommens sehr gelegen, denn ihr Plan, allmählich zu einem politischen Machtfaktor zu werden, war trotz des Wahlsiegs 2006 aufgrund der anhaltenden Isolierung durch die USA und Europa in eine Sackgasse geraten. Eine palästinensische Regierung der nationalen Einheit mit der Fatah erschien als einziger Ausweg aus dieser Lage. Diesen Standpunkt teilten sie mit den „gemäßigten“ arabischen Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem so genannten „arabischen Quartett“. Deren politisches Einflussstreben rührt aus dem Bedürfnis der Eliten dieser Länder nach ökonomischer und politischer Stabilität, die durch die US-Politik des „Divide et impera“, die israelisch-amerikanische Kriegshetze und den in der Folge wachsenden Einfluss schiitischer Ideologien aus dem Iran und den Reihen der Hisbollah in der Region bedroht wird.

Unter den nicht-konfessionellen palästinensischen PolitikerInnen war das Abkommen mit der Hamas allerdings umstritten. Die Mehrheit der kleineren Gruppierungen inklusive der palästinensischen Linken unterstützte die neue Einheitsregierung unter Haniyeh oder beteiligte sich daran, um das palästinensische politische System zu wahren und zu stabilisieren und bewaffnete Konflikte zu vermeiden. Bedeutende und einflussreiche Teile der Fatah setzten jedoch eher auf eine militärische Niederlage der Hamas mit Hilfe der USA, um ihre Kontrolle über die palästinensischen Behörden wiederherzustellen und eine grundlegende Reform der PLO durch Integration der Hamas zu vermeiden.

Die eigentlichen Entscheidungen wurden jedoch andernorts getroffen. Der Beschluss des Nahost-Quartetts aus USA, EU, Russland und UNO, die wirtschaftlichen und diplomatischen Sanktionen auch gegenüber der neuen Einheitsregierung aufrecht zu erhalten, traf weltweit auf Unverständnis und bewog auch den UN-Sondergesandten Alvaro De Soto zum Rücktritt. Gleichzeitig wurden die Hoffnungen der PalästinenserInnen zerstört und mit ihnen der Zusammenhalt des zerbrechlichen Regierungsbündnisses. Angesichts der ständigen rücksichtlosen Einmischung der USA unter Präsident Bush und seinen Militärberatern gab schließlich auch Mahmud Abbas, Präsident der Autonomiebehörden und der PLO, seine Zurückhaltung auf und gab jenen Kräften in der Fatah, die eine militärische Konfrontation mit der Hamas suchten, grünes Licht.


Die Hintergründe der Ereignisse im Gazastreifen


Retrospektiv sind sich zahlreiche Beobachter darin einig, dass Hamas gar nicht vorhatte, die Macht im Gazastreifen auf eine derartige Weise im Juni an sich zu reißen. Die Entwicklung lief ihr eher aus dem Ruder. Eigentlich ging es ihr darum, in den unter ägyptischer Schirmherrschaft geführten Verhandlungen über die Reform der palästinensischen Sicherheitskräfte ihren Einfluss auszubauen. Zugleich verfügte sie jedoch über die Schlagkraft, den Fatah-Einheiten unter Muhammad Dahlan eine militärische Niederlage vor Ort zuzufügen, zumal diese im Verbund mit den US-Militärberatern die Errungenschaften der Hamas in eben diesen Verhandlungen zunichte machen wollten. Die schmähliche Flucht der US-gesteuerten Fatah-Corona aus Gaza mit Hilfe der Israelis und die rasche Niederlage der hochgerüsteten, US-trainierten, aber unmotivierten militärischen Einheiten der Autonomiebehörde und der Fatah hinterließen ein Vakuum, in dem der militärische Sieg der Hamas quasi ungewollt zufiel. Hamas droht durch den Zusammenbruch der Einheitsregierung nun die Möglichkeit zu verlieren, der Autonomiebehörde ihre Form aufzuprägen, womit sie ihren bei den Wahlen gewonnenen Einfluss und ihre Legitimität ausbauen wollten.

In den Augen von Hamas war der Sieg im Juni Ergebnis „eines Kriegs gegen die Clique von Verrätern in der Fatah“, während letztere darin „Meuterei“ oder einen „Staatsstreich“ sehen. Beide Parteien werfen einander die Verantwortung für das Scheitern der nationalen Einheit vor und keiner will zurück zu den vormaligen Verhältnissen. Einerseits plädiert Hamas für eine Lösung der Krise durch die Wiederherstellung des nationalen Dialogs und der Einheit auf der Basis des Mekka-Abkommens und will ausharren, bis die humanitäre Krise im Gazastreifen Israel und die westlichen und arabischen Staaten zwingt, zu kooperieren und Hamas damit als politische Kraft anzuerkennen. Andererseits bemühen sich die meisten Fatah-Politiker einschließlich Abbas, das Ausland und Geberländer von einer Zusammenarbeit mit Hamas abzubringen, setzen voll und ganz auf das Bündnis mit Israel und den USA und plädieren aus Ausweg aus der Krise für vorgezogene Wahlen in den besetzten Gebieten.

Beide Parteien berufen sich hierbei auf das Grundgesetz der Autonomiebehörde: Hamas auf die Wahlergebnisse von 2006, Fatah auf die Vollmachten von Präsident Abbas, der ohne Zustimmung des Parlaments den Notstand ausrufen und eine Notstandsregierung ernennen kann. Allerdings sind sich unabhängige Beobachter und Rechtsgelehrte einschließlich maßgeblicher Autoren des Grundgesetzes einig, dass die vormalige Notstandsregierung unter der Fatah und die jetzige provisorische Regierung unter Premier Salam Fayyad samt ihren Dekreten illegal sind und gegen das Grundgesetz verstoßen.

Schwerer wiegt jedoch, dass Rechtsgelehrte wie Al-Kassem zudem die Meinung vertreten, dass es aus der gegenwärtigen Krise des politischen Systems der Autonomiebehörde keinen verfassungsrechtlichen Ausweg gäbe, weil „die so genannten Demokratien der Welt mit einem beispiellos erdrückenden Embargo (reagierten), um das palästinensische Volk dafür zu bestrafen, dass es von dem demokratischen Recht auf einen Regierungswechsel Gebrauch machte. ... Kein Verfassungsrechtler würde Vorkehrungen für solch eine Situation treffen, wenn er die Ausarbeitung eines Grundgesetzes im Auge hat, das auf demokratischen Prinzipien und Gesetzlichkeit beruht.“ Das gleiche gilt für eine andere bisher einmalige Maßnahme: die Lähmung des palästinensischen Parlaments durch Israel, da die Mehrheit der gewählten Hamas-Abgeordneten verhaftet wurde und dadurch die Parlamentsarbeit behindert ist. Da eine verfassungskonforme Lösung auf der Basis demokratischer Wahlen nicht in Aussicht ist, entbehren auch vorzeitige Wahlen, die von Seiten des Präsidenten und der provisorischen Fatah-Regierung favorisiert und durch die PLO abgesegnet werden, jedweder Legitimität und wirken eher spaltend, statt die nationale Einheit wieder herzustellen.


Gewinner und Verlierer


Israel geht auch aus dieser Runde als Gewinner hervor. Bestärkt durch die unerschütterliche Unterstützung der US-Administration und Präsident Bushs Rede vom 16. Juni, weigert sich Israel, die militärische Belagerung des Westjordanlandes zu lockern und die „politische Perspektive“ auf Friedensverhandlungen zu eröffnen, die dem palästinensischen Volk ein Minimum an Rechten und Bedürfnissen zugestehen könnten. Hauptverliererin dieser Entwicklung ist die Fatah, da das politische System, das sie über Jahrzehnte geführt hat, diskreditiert ist und einschließlich des Oslo-Abkommens als tragender Säule unwiderruflich angeschlagen scheint.

Mögen die Grundlagen der korrupten und überholten palästinensischen Führung weggebrochen sein, indem das Oslo-Abkommen durch die erbarmungslose Realität des der Apartheid ähnlichen israelischen Kolonialregimes ersetzt wurde und weitere militärische Interventionen seitens Israels und der USA zu erwarten sind – den Hauptpreis dafür zahlt allemal das palästinensische Volk. Nachdem es lange von jeder ernsthaften Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen war, tritt die überwältigende Mehrheit der PalästinenserInnen auch weiterhin für nationale Einheit und Verständigung zwischen seinen Führern ein, hat aber keine wirkliche Eingriffsmöglichkeit zur Hand. Einerseits kommt das zwar oft kritisierte, aber vertraute Führungssystem abhanden, andererseits ist noch keine Alternative in Sicht, die zur politischen Beteiligung und Wahrung der individuellen und kollektiven Rechte der PalästinenserInnen taugt. Der gegenwärtigen israelisch-amerikanischen Strategie des divide et impera und der gewaltsamen militärischen Befriedung der Region kommt dieser führungslose Zustand des palästinensischen Volkes entgegen. Wenn es gelingt, eine breite Solidaritätsbewegung unter den Völkern der Welt herzustellen, die die Verantwortung Israels in dem Konflikt betont, Unterstützung mit klaren Richtlinien leistet und eine weltweite Kampagne für Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegenüber Israel aufbaut, dann wird dies auch den PalästinenserInnen Mut und Kraft geben, sich wieder eine authentische Führung und Strategie zu verschaffen für ihren Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit.

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 430/431 (September/Oktober 2007).