Geschichte

Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs (Teil II)

Unser Genosse Rudolf Segall (1911–2006) verstarb am 19. März diesen Jahres. In der letzten Inprekorr brachten wir den ersten Teil dieses Interviews, das am 1. und 2. November 2001 sowie am 15. August 2002 geführt worden ist. Den hier folgenden zweiten Teil mussten wir aus Platzgründen stark kürzen.Rudi, wie wir ihn nannten, konnte als Zeitzeuge und Zeitgenosse auf den größten Teil des letzten Jahrhunderts zurückblicken. Der erste Teil des Interviews endete mit der Schilderung seiner Zeit in Palästina.

Ein Gespräch mit Rudolf Segall

 Ihr habt diese Spannungen oder Auseinandersetzungen zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung damals nicht problematisiert?

Doch sehr schnell. Ich glaube es fing 1936 oder 1937 an, dass sich dort Gruppen gebildet haben, die diese Frage außerordentlich scharf diskutiert haben. Nach einer relativ kurzen Zeit, hat sich im Kibbuz mit seinen vielleicht 100 Mitgliedern ein Kreis von sechs bis acht Leuten gebildet hat. Wir kamen zu der Überzeugung, dass diese Stellung zu den Arabern nur zu einem Unglück führen konnte. Da sich in dieser Gruppe Paul Ehrlich befand – er hat sich dort Meir genannt – haben wir sehr schnell Verbindung zu einer „trotzkistischen” Gruppe in Haifa bekommen. Wir waren von Haifa, so schätze ich, ungefähr 40 bis 50 km entfernt.

Diese Diskussion hat also dazu geführt, dass wir gesagt haben: Es kann so nicht weitergehen mit der Vertreibung von Arabern, um Juden in Palästina anzusiedeln, und mit dem Verbot für die Araber, dort überhaupt zu arbeiten. Die zionistischen Organisationen haben das Prinzip der jüdischen Arbeit vertreten, sowohl in den jüdischen Fabriken – dort gab es natürlich keine Araber – aber auch in den anderen Betrieben, vor allem in den öffentlichen. Dort durften nur Juden rein und keine Araber.

 Also eine Art Apartheid-Politik?

Ja. Wir haben also kräftig diskutiert und im Grunde genommen beschlossen, dass wir aus dem Kibbuz herausgehen und uns den „trotzkistischen” Gruppen in der Stadt anschließen werden…

Paul Ehrlich war übrigens einer der Ersten, die im Hashomer Hazair auf revolutionär-kommunistischer Basis aktiv gewesen sind. Er hat die „trotzkistische” Literatur gelesen. Er hat sich viel früher als Martin Monat damit beschäftigt. Die beiden sind neun Jahre zusammen in einer Klasse in der Schule gewesen. Das war eine uralte Freundschaft zwischen Martin Monat und Paul Ehrlich.

Paul Ehrlich hat also dort mit uns intensiv diskutiert, aber er hat selbst nicht aus dem Kibbuz gehen wollen. Er hat gesagt, er bejahe die Lebensform des Kibbuz, aber er sei nicht Zionist, und daraufhin haben sie ihm gesagt: Entweder – oder! Wer kein Zionist ist, kann nicht im Kibbuz leben, und da hat er sozusagen der revolutionären Organisation abgeschworen und ist im Kibbuz geblieben. Er ist meiner Meinung nach dadurch krank geworden und relativ jung in den 50er oder 60er Jahren im Kibbuz gestorben.

Als ich aus dem Kibbuz herausgegangen bin, habe ich das damit begründet, dass ich mich dort isoliert fühle und es mir dort nicht gefällt. Ich habe keine politischen Gründe dafür genannt...

 Als Vorsichtsmaßnahme?

Ja. Jakob Moneta ist hingegen für zwei Jahre von den Engländern interniert worden. Die haben sich gesagt, wenn einer Anti-Zionist ist, dann wird er wahrscheinlich auch andere „Schwächen” in der politischen Richtung haben. Jakob war im selben Kibbuz wie ich. Wir haben eine Zeit lang zusammen in einem Zimmer gewohnt.

In Haifa haben wir in unserer neuen Gruppe politisch gearbeitet. Der Leiter war Ali Fröhlich, ein meiner Meinung nach sehr begabter Mann. Das „Arbeiten” hat sich mehr oder weniger auf Diskussionen innerhalb der Gruppe beschränkt. Ich weiß, ich habe aber auch einmal eine Zelle der kommunistischen Partei besucht, um dort Kontakte zu knüpfen.

Unsere Gruppe hatte unter dem Einfluss von Ali Frölich im Gegensatz zu anderen folgenden Grundsatz gefasst: Wir sind hier im Exil in Palästina. Unsere Aufgabe ist es, sobald als möglich in unsere Heimatländer zurückzukehren und dort revolutionäre Arbeit zu leisten.

 Ali Frölich kam auch aus Deutschland?

Ja. Er kam auch aus Deutschland, war aber schon sehr lange im Lande gewesen, schon vor 1933 wahrscheinlich. In unserer Gruppe waren ein schweizer Genosse, ein österreichischer Genosse und deutsche Genossen.

 Wie nannte sich diese Gruppe?

Sie hatte keinen Namen, sie hatte sich einfach nach Ali Frölich genannt.

 Hat sie Publikationen herausgegeben?

Nein, wir haben nichts herausgegeben. Ali Frölich hat allerdings damals eine Ausarbeitung gemacht – seine Thesen. Ich habe sie einmal Pierre Broué geschickt.

 Also ein Diskussionszirkel?

Ja. Eigentlich haben wir dort wenig Schriftliches produziert. Unsere Hauptarbeit war, sobald wir den Beschluss gefasst hatten, zu sehen, wie wir in das Land zurückkommen, aus dem wir hergekommen waren… Andererseits haben wir Deutschen gewusst, dass wir nicht in das „Dritte Reich” zurückkehren konnten, und für die Österreicher galt das gleiche. Und da wir ja im Kibbuz sowohl die Schriften von Trotzki gelesen haben als auch Unser Wort, die Exilzeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands, waren wir auch mit Trotzki zusammen der Auffassung, dass ein Krieg nicht unvermeidlich ist. Aber wenn er nicht zu verhindern ist, dann haben wir – auch wieder mit Trotzki – geglaubt, dass der Krieg mit der Revolution endet. Wir bereiteten uns also darauf vor, sobald als möglich wieder zurückzukehren und an der Revolution in Europa teilzunehmen.

 Wie hat sich damals Dein Alltagsleben gestaltet?

Nach dem Kibbuz habe ich in einem Krankenhaus gearbeitet. Das war relativ leicht ohne Ausbildung möglich. Ich habe dann aber während der Arbeit gelernt und konnte schließlich alle Spritzen geben. Da war man offensichtlich relativ großzügig… Es war ein jüdisches Krankenhaus in Haifa oben auf dem Berg. Ich habe dort ungefähr zwei oder drei Jahre gearbeitet. Das Ende meiner Tätigkeit wurde durch einen Streik verursacht. Es war der erste Streik in einem Krankenhaus, glaube ich, der in Palästina stattgefunden hat. Und er endete schlecht für uns. Wir wurden alle heraus geworfen, als der Streik zu Ende war.

 Um was ging es bei dem Streik?

Es ging einfach um bessere Bezahlung und einige Forderungen für die Bereitschaftsdienste.

Ich habe jedenfalls danach überlegt, wie ich nach Europa zurückkommen kann, und habe dann den Weg eingeschlagen, der mir am besten erschien. Ich habe versucht, mich in eine Gruppe zu integrieren, die bereits von den Zionisten ausgebildet wurde. Wir sollten bei Kriegsende nach Europa gehen, den überlebenden Juden helfen und natürlich die illegale Einwanderung nach Palästina fördern.

 Das war schon in den 40er Jahren...

Ja. Ich habe also mit dieser Gruppe angefangen zu arbeiten, und ich hatte das Glück, dass ich auf Chaim Hoffmann, einen aus Deutschland kommenden höheren Funktionär der zionistischen Bewegung gestoßen bin. Er hat mir geholfen, und durch diese Gruppe habe ich auch quasi Arbeit bekommen.

Meine erste und hauptsächliche Tätigkeit war in einem Lager von Einwanderern aus dem Osten – also mizrachischen [orientalischen] Juden. Sie kamen nach Palästina und wurden zuerst in Lager untergebracht. Sie befanden sich meistens in einem sehr schlechten Zustand und wurden dann sozusagen erst mal mit den Verhältnissen vertraut gemacht. Ich habe dort die Lagerleitung für ein Jahr oder länger übernommen.

Diese Gruppe hat auch zusammen trainiert. Ich weiß ganz genau, wir wurden halbmilitärisch mit viel Körperertüchtigung trainiert. Das war unsere Ausbildung.

Wir sind dann im Januar 1945, also vier Monate vor Ende des Krieges, bereits nach Ägypten losgezogen und zwar zur Fortsetzung unserer Ausbildung. In Ägypten sind wir drei oder vier Monate geblieben. Da habe ich übrigens Lastkraftwagen fahren gelernt.

Dann sind wir weiter gereist nach Griechenland und Jugoslawien. Dort hatten offensichtlich Juden die Verfolgung durch die Nazis überlebt...

 1938 ist die IV. Internationale gegründet worden und Du bist kurz danach eingetreten?

Ja. Bereits im Kibbuz war ich fest entschlossen einzutreten, aber es gab dort nur einen Diskussionszirkel, der beschlossen hatte, den Kibbuz zu verlassen und in der Stadt zu arbeiten.

Sobald ich in Haifa war, konnte ich 1939 formell der IV. Internationale beitreten. Die Gruppe um Ali Frölich hatte über die internationale Organisation Verbindung zu Genossen von uns, die als englische und amerikanische Seeleute auf Schiffen gearbeitet haben und weltweit in den einzelnen Häfen die Verbindung zu den versprengten Gruppen der Internationale aufgenommen haben. Das war offensichtlich gut organisiert.

Als ich nach Ägypten gekommen bin, habe ich die Adresse des leitenden Genossen in Kairo gehabt. Mit ihm habe ich mich unterhalten. Als er hörte, dass ich nach Griechenland fahren sollte, gab er mir die griechische Adresse einer Genossin, die er gut gekannt hatte. Nach Ende des Krieges bin ich also mit einem Lastwagen, der mir zugeteilt worden war, auf einem Frachter nach Piräus transportiert worden.

In Athen habe ich die Verbindung mit unserer Sektion aufgenommen, bin aber von dort relativ schnell weiter geschickt worden. Die zionistische Hilfsorganisation, für die ich arbeitete, war der UNRRA [United Nations Relief and Rehabilitation Association] unterstellt. Die UNRRA hat Gruppen ausgerüstet, die im ganzen Land die Gefängnisse wieder in einen ordentlichen Zustand zu versetzen hatten. Das war eine merkwürdige Angelegenheit. Ich bin nicht ganz sicher, was der wirkliche Sinn der Sache gewesen ist. Wir sind jedenfalls von Gefängnis zu Gefängnis gefahren. Wir haben zum Beispiel die Gefängnisse desinfiziert und haben dort die Gemäuer wieder „menschlich” gemacht.

Unter den Gefangenen befanden sich übrigens sehr viele Kommunisten. Das war ja nach dem Bürgerkrieg. Ich habe dort viel diskutieren können. Wir sind letztlich durch ganz Griechenland und wieder zurück nach Athen gefahren.

Dort habe ich dann gearbeitet und habe die Leute vom American Joint Committee kennen gelernt. Das war eine amerikanisch-jüdische Organisation, die ebenfalls Hilfe geleistet hat für die Juden in Griechenland. Es gelang mir, von der UNRRA zum American Joint zu wechseln und ein weiteres Jahr in Griechenland zu arbeiten. Das eröffnete mir die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukommen. Denn als Einzelner irgendwie in der Welt herumzureisen, das war damals so gut wie unmöglich – ohne Mittel vor allem.

Mit dem American Joint habe ich eine sehr interessante Arbeit gemacht. Ich bin von Gemeinde zu Gemeinde gefahren, also den Gemeinden, die zurückgekehrt gewesen sind. In Griechenland haben vor allem die Juden überlebt, die mit den Partisanen zusammen in den Bergen gekämpft hatten. Mit ihnen habe ich Verbindung aufgenommen und diskutiert.

Auch mit unsrer Sektion in Griechenland habe ich wieder Kontakt gehabt. Sie hat eine gedruckte Zeitschrift herausgegeben, die ich auch mitgenommen und dann verteilt habe. Das war damals in Griechenland möglich gewesen.

 Wie hast Du Dich verständigt?

Französisch. Das war interessant: Die Juden, die zurückgekehrt waren, konnten vor allen Dingen Französisch, und die Kommunisten, die in den Gefängnissen eingesperrt waren, die haben meistens Deutsch, Englisch oder Französisch zur Auswahl gehabt.

Ich habe übrigens ein Kinderdorf in den Bergen aufgebaut. Das ist eine Sache, die ich eigentlich gerne erzähle, und die Du sicher schon gehört hast. Wir sind also mit Lastwagen hingefahren und haben Lebensmittel für die Kinder gebracht. Gleichzeitig waren kommunistische Partisanen in den Bergen, die sich von der Partei in irgendeiner Weise getrennt hatten. Die griechische Armee hat sich mit ihnen Kämpfe geliefert. Ich weiß, dass wir einmal mit dem Lastwagen gefahren sind, während sie sich beschossen haben. Wir waren in der Mitte sozusagen [lacht], sind aber dennoch durchgekommen. Einmal haben uns die Partisanen gewissermaßen gefangen genommen. Mein griechischer Führer erklärte ihnen, dass wir ein Kinderlager aufbauen und sehr viel Lebensmittel liefern würden. Davon waren sie ganz begeistert. Ich nehme an, dass sie ihren Teil von den Lebensmitteln bekommen haben.

Ich war fast zwei Jahre in Griechenland, bis ich nach Frankreich melden konnte, ich fahre dann und dann ab und komme nach Paris.

 Paris war Sitz des Europäischen Sekretariats der IV. Internationale...

Ja. Mit dem Dampfer bin ich nach Frankreich gefahren. Das war 1947. In Paris habe ich Ernest [Mandel] kennen gelernt, ich habe Pablo [Michael Raptis] und Livio [Maitan] kennen gelernt. Sozusagen das Triumvirat, das damals dort verantwortlich war. Ernest war sogar für Deutschland zuständig. Das war natürlich außerordentlich günstig, insofern als ich dann gleich die Adresse von Schorsch [Georg Jungclas] bekommen habe.

In Paris habe ich in Unterhaltungen wahrscheinlich vor allem mit Ernest den Namen Martin Monat erwähnt. Es hat sich herausgestellt, dass Martin Monat („Monte”) absolut bekannt gewesen ist. Monte ist, das war das Erstaunliche für uns gewesen, ja niemals nach Palästina gekommen. Wir kamen 1935 dort an, haben aber nichts mehr von ihm gehört. Monte war sein Name im Hashomer Hazair. Er hatte übrigens einen Bruder namens Carlo, so dass es ein gutes Gespann gab („Monte Carlo”).

Monte war in Deutschland geblieben, ich erzähle das, weil das auf ihn ein bezeichnendes Licht wirft. Vermutlich 1936 oder 1937 hatte er große Schwierigkeiten mit den Behörden, weil die die religiöse Eheschließung seiner Eltern in Polen nicht anerkennen wollten. Man hat ihm die Staatsbürgerschaft entzogen und wollte ihn ausweisen. Monte konnte aber die polnische Staatsangehörigkeit erwerben, indem er nach Polen reiste und eine Sprachprüfung ablegte. Man sagt, und ich bezweifle es nicht, dass er ohne Vorkenntnisse in einem Monat so gut Polnisch gelernt hat, dass er die Prüfung bestanden hat. Danach muss er mit dem Hashomer Hazair Schwierigkeiten gehabt haben. Das habe ich aber alles erst später erfahren und eigentlich niemals genau herausbekommen, wie sich das abgespielt hat. Er hat sich zwar 1937 oder 1938 von dieser linkszionistischen Gruppierung getrennt, ist aber noch mit der Bewegung für die Einwanderung nach Palästina in Verbindung geblieben. Jedoch hat er es abgelehnt, ein Zertifikat für Palästina zu beantragen. Monte hat geschrieben, dass er keinem anderen dieses Zertifikat wegnehmen wolle.

Stattdessen ist er 1938 illegal über die Grenze nach Belgien gegangen und hat dort sehr schnell mit den revolutionären Kommunisten Kontakt bekommen. Er ist dann bald in die Leitung der Organisation gewählt worden. Monte hat in Belgien auch die großen Streiks am Anfang des Krieges gegen die deutsche Besatzung mit organisiert.

Von der IV. Internationale ist er dann bekanntlich nach Frankreich geschickt worden, um dort die Verbindungen zu deutschen Soldaten zu betreuen. In Brest gab es eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten, die mit unserer Bewegung sympathisierte. Gemeinsam mit Paul Thalmann hat er in Paris ab 1943 die illegale Zeitung Arbeiter und Soldat veröffentlicht. Die letzten Nummern wurden sogar gedruckt [also nicht mehr auf Matrizen abgezogen]. Im Juli 1944 ist er von der Gestapo verhaftet und dann erschossen worden. Es gibt ja diese Geschichte, dass man ihn zwar noch im Krankenhaus besuchen, ihn aber nicht retten konnte.

Ja, das hab ich alles 1947 in Paris gehört, und das alles war für mich eine ungeheure Überraschung. Im Grunde genommen sind wir unabhängig voneinander den gleichen Weg zur Bewegung gegangen. Ja, das war Martin Monat…

Da ich mit dem American Joint von Griechenland nach Frankreich gefahren war, um weiter nach Deutschland zu reisen und dort in einem Lager für „displaced persons” zu arbeiten, kam ich also 1947 nach München und konnte in Bayreuth den Kontakt mit Schorsch herstellen.

Die Sektion in Deutschland bestand im Wesentlichen aus Schorsch, Inge und der Hamburger Gruppe… Ich kann mich an wenige andere in diese Zeit in Deutschland erinnern. Da war natürlich Helmut Fleischer, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war, und dann Schorsch sozusagen in die Hände gefallen war. Ihn habe ich selbstverständlich damals gut gekannt. Später ist auch Wolf Salus aus Prag gekommen. Er hatte das KZ überlebt. Aus Palästina waren die Rothschilds gekommen… Offensichtlich gab es auch eine Frankfurter Gruppe.

Wir haben Unser Weg herausgegeben, die erste Nummer erschien im Juli 1947, einen Monat nachdem ich gekommen bin. Inge hat sie getippt, sehr brav, und der Schorsch hat die Texte geschrieben.

Von München bin ich über Hof nach Eschwege versetzt worden, und dann bin ich nach Frankfurt am Main gekommen. Nachdem die Arbeit des American Joint praktisch aufgehört hatte, habe ich in Frankfurt bei einem Ingenieurbüro als Dolmetscher für die Amerikaner gearbeitet. 1952 habe ich durch Philipp Bless eine Stelle als Bezirkssekretär bei der IG Chemie in Frankfurt vermittelt bekommen. Ich bin in dieser Funktion 22 Jahre tätig gewesen.

 Festgefroren...

Festgefroren sozusagen. Ja, ich habe versucht, mich zwischendurch zu verändern, war aber als „Trotzkist” von einem Stalinisten beim Hauptvorstand denunziert worden.

Ich möchte noch einmal auf die Sektion zurückkommen und die Zusammenarbeit mit Schorsch. Da spielt die Biographie natürlich eine Rolle. Ich habe Inge 1947 bei Schorsch kennen gelernt. 1949 hat sich Inge in mich verliebt, und ich habe gesagt: Um Gottes Willen! In einer Organisation mit Schorsch und alledem, und wie sie sich das vorstelle. Da hat sie geantwortet, sie sei im Grunde genommen schon von Schorsch getrennt.

Nun gut, [lacht] Inge war sicher ein sehr attraktives Mädchen, und als sie sich in mich verliebt hat, habe ich selbstverständlich nicht Nein gesagt. Das hat sich aber in einem gewissen Sinne sehr stark auf meine politische Arbeit ausgewirkt. Nachdem dies für Schorsch – man kann es menschlich begreifen – eine unerhörte persönliche Enttäuschung gewesen ist, war eine politische Zusammenarbeit zwischen uns außerordentlich schwierig. Sie war eigentlich praktisch fast unmöglich, da Schorsch für lange Jahre die Organisation war. Wenn er nichts getan und angeleiert hätte, wäre – da die anderen fast alle neue Mitglieder waren – nichts oder nur sehr wenig passiert. Schorsch war ja auch immer „freigestellt”, das heißt er war der Berufsrevolutionär par excellence sozusagen. Diese Situation hat sich auf meine politische Arbeit ungeheuer ausgewirkt, das kann ich schon sagen, und ich war zwar Mitglied der Redaktion der Zeitschrift und auch des ZK für ewig und drei Tage, aber es war eine sehr unglückliche Sache...

Ich bin in die Organisation in Palästina eingetreten mit der festen Aussicht, dass – sobald ich in Deutschland bin – ich mit revolutionären Ereignissen konfrontiert werde. Im Grunde genommen habe ich aber niemals die Bewegung im Wortsinne erleben können. Es hat immer die Massenberührung gefehlt, von Masseneinfluss ganz zu schweigen...

 Da hat Dir der Vers aus dem „Cyrano von Bergerac“ wieder geholfen?

Ja [lacht]. Es gab immer bestimmte Probleme, wo ich sagen könnte, was ich getan habe, und wie ich dazu gestanden habe… Ich habe die VSP [Vereinigte Sozialistische Partei] durchaus bejaht. Als später die Entscheidung zwischen VSP und RSB anstand, war es für mich klar, dass es nur der RSB sein konnte. Ich glaube die Leute vom RSB haben sich vielleicht etwas gewundert, dass ich dahin tendiert habe. Ich weiß es nicht.

 Nein.

Nein? Na ja gut. Es waren ja nicht sehr viele von meiner Generation mehr da.

 Aber was war der Grund für Deine Entscheidung?

Ich bin vielleicht etwas orthodoxer gewesen als andere. Ich muss auch sagen – es ist eigentlich irgendwie merkwürdig – dass ich nach dem Tod von Inge [1996] wieder in einem sehr viel größeren Maß aktiv geworden bin. Ich bin der Meinung, dass neben den schon geschilderten Schwierigkeiten möglicherweise ein besonders enges persönliches Verhältnis es einem schwer macht, in einer Organisation zu arbeiten…

 Was hat das Aufkommen der APO, der außerparlamentarischen Opposition, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre für Dich bedeutet?

Das war ein richtiger Schock für die Organisation, für mich auch. Aber es waren ja keine Massen, die zu uns gekommen sind. Es hat sich sehr schnell differenziert. Ich war da noch eine Zeitlang in der Leitung gewesen, und da hat, glaube ich, Winfried Wolf empört gefragt, was ich da eigentlich noch tue. Und da ich diese Frage nicht ganz für unrichtig gehalten habe bin ich aus der Leitung herausgegangen... [lacht].

 Rudi, Du bist jetzt über 90 Jahre alt. Was bedeutet es für Dich heute, Sozialist zu sein – nach mehr als 60 Jahren in der IV. Internationale? Hat sich da etwas verändert, sind das noch die gleichen Motive, noch die gleichen Träume, noch die gleichen Vorstellungen?

Als ich in Palästina in der Gruppe angefangen habe, war für mich von Beginn an klar, dass mein Sozialismus bedeutet, die Revolution weiter zu tragen beziehungsweise nach dem Rückschlag in der Sowjetunion wieder zu dem zu machen, was den ursprünglichen Gedanken entsprach.

Mit dieser Auffassung bin ich auch nach Europa gegangen, und dann selbstverständlich kam die Realität. Sie zeigte, dass eine Reihe von Prognosen Trotzkis sich nicht bewahrheitet hatte. Der Stalinismus war nicht gestürzt worden, die Revolution in Europa hatte nicht gesiegt, die Lage hatte sich also vollständig verändert. Durch den Niedergang der Arbeiterbewegung und letztendlich auch durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, hat sich die Situation wieder grundlegend geändert. Aber alles das hat nichts an meiner Grundauffassung erschüttert, dass nur eine andere Gesellschaft überhaupt eine Gesellschaft ist, in der ich leben möchte, und in der die Menschheit nur leben kann.

Diese geschichtlichen Veränderungen muss man absolut als real akzeptieren, aber das Grundlegende, die Zurückführung der menschlichen Geschichte auf die Klassenkämpfe und die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus, ist geblieben.

 Bist Du nach wie vor davon überzeugt, dass ein strategisches Organisationskonzept – der gleichzeitige Aufbau nationaler revolutionärer Organisationen und einer revolutionären Internationale – wie es mindestens seit 1938 vertreten wird, heute noch aktuell ist?

Ich glaube, das ist das einzige Konzept, das, wenn überhaupt, zu irgendeinem Ziele führen kann. Wir sind ja umso mehr darin bestärkt, als wir sehen, dass die so genannten traditionellen Arbeiterorganisationen wie Gewerkschaften und parlamentarische Parteien immer mehr fast überall dem Gegenteil von dem entsprechen, was sie ursprünglich sein wollten. Das heißt, sollte aus verschiedenen Gründen wirklich eine globale Bewegung, eine große Bewegung, entstehen, die ernsthaft daran denkt, etwas zu ändern, so wird sie dazu nur in der Lage sein, wenn sie über eine demokratische Verbindung zu einer Partei, einer internationalen Partei verfügt. Aus sich heraus werden Massenbewegungen heute wohl kaum in der Lage sein, etwas Derartiges zustande zu bringen. Ganz abgesehen davon, dass ohne eine intensive Kenntnis der Geschichte und der Schwierigkeiten, die nach 1917 in der Sowjetunion entstanden sind, auch eine Machtübernahme durch eine unstrukturierte Bewegung kaum weiterführen kann und sogar zu größten Gefahren führen könnte. Das ist der Grund, warum ich die Internationale und die Partei in ihrer Struktur, ich würde sagen, als „Leninsche Partei” [von 1917], für absolut aktuell und notwendig halte.

 Was sind die wesentlichen Fragen, die im Vergleich zu der Zeit, in der Du Dich der IV. Internationale angeschlossen hast, also Ende der 30er Jahre, neu dazugekommen sind?

Ich glaube eine der entscheidenden Fragen war für uns das Problem der politischen Revolution. Vielleicht haben wir zu spät darauf reagiert, dass die politische Revolution sehr unwahrscheinlich geworden war – spätestens nach den polnischen Ereignissen [1980/81]. Ich glaube, dass das letztlich einer der entscheidenden Punkte ist, der sich entgegen unserer ersten Prognose nicht bewahrheitet hat, und der auch in dem Sinne nach dem Zusammenbruch der bürokratischen Diktatur in der Sowjetunion keine Rolle mehr gespielt hat.

 Siehst Du noch andere Fragen, die völlig neu aufgetreten sind?

Ich halte die Frage der Entwicklung der Kommunikation natürlich für eine Tatsache, die auch im revolutionären Sinne von großer Bedeutung ist. Ich bin der Auffassung, dass ein Teil dessen, was sich früher wahrscheinlich „auf der Barrikade” abgespielt hat, sich heute auf einem ganz anderen Gebiete im Kampf, in den Auseinandersetzungen, in den Möglichkeiten darstellt. Da halte ich die Entwicklung der Technik, dieses Teils der Technik, für ganz entscheidend für unsere zukünftige Perspektive.

 Du meinst damit die Entwicklung von Computervernetzung, Internet und so weiter?

Die Computervernetzung, die Verletzlichkeit des Kapitalismus auch auf diesem Gebiete, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Grunde genommen von internationalen Parteien – alles das hat sich doch wahrscheinlich kolossal geändert.

 Du hast für Dich und Deine Generation drei unerwartete große Brüche genannt, das Ende des 2. Weltkrieges ohne Revolution in Europa, die Stabilisierung des Kapitalismus danach und der Zusammenbruch der stalinistischen Diktaturen. Du bist nur am Rande auf 1968 eingegangen. Das war ja für eine bestimmte Generation der Bezugspunkt und der Wendepunkt in ihrem Leben gewesen. War das für Dich schon zu weit entfernt oder hatte es nie eine große Rolle gespielt?

Das ist interessant. Ich hatte mich eigentlich auch öfters gefragt, warum ich diesen Bezug nicht habe. Ich habe natürlich eine Menge damals mitbekommen, aber diese 68er Zeit hat für mich niemals eine solche bedeutende Rolle gespielt. Warum eigentlich? Es mag auch mit dem Umbruch der Organisation zusammengehangen haben, dass man sich nicht zu sehr in diese Fragen hinein vertieft hat. Vielleicht war es auch das nicht vorhandene Verhältnis zu denen, die in dieser Zeit eine wichtige Rolle gespielt haben. [Rudi] Dutschke und [Hans-Jürgen] Krahl waren mir natürlich Begriffe, aber persönlich habe ich sie nicht kennen gelernt, obwohl sie uns politisch zeitweise nahe gestanden sind und eine wichtige Rolle gespielt haben,

 Was ist der rote Faden gewesen in Deinem bewussten politischen Leben? Was hat Dir geholfen, trotz aller Brüche nicht die Orientierung zu verlieren, sondern Dich immer wieder neu auf eine bestimmte Entwicklung einzulassen?

Na, das Entscheidende war selbstverständlich meine Auffassung als revolutionärer Marxist, dass von dieser Einstellung aus alles gesehen werden muss und dass ich trotz all dieser Brüche das Berufsleben eigentlich immer für relativ nebensächlich gehalten habe. Ich habe im Laufe der Zeiten in sehr vielen Berufen gearbeitet. Ich habe im Hafen gearbeitet, ich habe in Plantagen gearbeitet, und ich habe weiß der Teufel was alles gemacht. Und ich habe im Grunde genommen, wenn man das so nennen will, auch – wissenschaftlich ist übertrieben – doch nachgeforscht und Spuren gesammelt. Das berufliche Leben war also immer relativ gleichgültig. Ich hab es glaube ich immer unter dem Blickwinkel gesehen, inwieweit es mich nicht in meinem politischen Leben behindert, respektive wieweit es nicht sogar eine Bereicherung und eine Ergänzung davon ist.

Beruflich habe ich also das getan, was sich zuerst angeboten hat. Ich habe niemals vom Beruf aus mein Leben geplant, aber ich habe wie gesagt ein Zeitlang versucht, das Berufliche mit dem Politischen in dem Sinne zu verbinden, in dem ich mir eine Arbeit auswähle, die mich in einen Kreis hineinbringt, den ich möglicherweise politisch beeinflussen kann. Als das dann nicht der Fall gewesen ist, habe ich den Beruf als solchen genommen, habe das getan, was notwendig ist, und habe ansonsten das politische Engagement als die Hauptaufgabe und das Wichtigere gesehen.

Ich habe übrigens niemals in einem großen Betrieb gelebt oder gearbeitet. Der Kibbuz war eine übersehbare Einheit von 50–100 Leuten, die man gut gekannt hat. Ich kann rückblickend sagen, ich habe niemals so gelebt und gearbeitet, wie ich es mir im Grunde genommen eine Zeitlang vorgestellt habe, das heißt in einer engeren Verbindung mit größeren Massen. In der Zeit, als ich in der SPD gearbeitet habe, habe ich mir auch nur die kleine Gruppe herausgesucht, und in der SPD habe ich nie versucht, auf einem Parteitag oder dergleichen etwas Besonderes zu spielen.

 Wie hast Du so einen Widerspruch ausgehalten?

Es war wahrscheinlich eine Einsicht in das, was möglich war, und niemals eigentlich ein Aufbäumen gegen Dinge, die in diesem Sinne beinahe von Natur gegeben waren. Ich habe da keinen Widerspruch zu meinem Traum von früher gesehen, dass man mit seiner revolutionären Arbeit in die Massen wirkt, und zu den Notwendigkeiten, die sich aus der historischen Situation ergeben haben. Ich weiß nicht wie es ausgesehen hätte, wenn ich in einem Großbetrieb gearbeitet hätte. Das wäre möglicherweise eine interessante Frage geworden.

Aber ich habe sogar innerhalb der Organisation den Teil gewählt oder bekommen, der sich vor allen Dingen mit dem Nachforschen und unter Umständen mit Unterhaltungen mit ein, zwei, drei Leuten beschäftigt hat, und nicht den Bereich, wo es sich um größere Gruppen von Menschen gehandelt hat.

 Trotzki hat in den 20er Jahren geschrieben, in einer Phase wo er sehr an den Rand gedrängt worden war, dass es nicht nur die Politik gibt. Gab es für Dich nur die Politik, die Organisation und das literarische Arbeiten?

Also die literarische Arbeit war für mich niemals ein Punkt. Selbst geschrieben habe ich in meinem ganzen Leben sehr wenig, weil ich den Eindruck gehabt habe, dass die anderen sehr viel besser schreiben als ich. Ich habe immer geglaubt und bin davon auch heute noch fest überzeugt, dass auf theoretischem Gebiet andere sehr viel eher etwas zustande bringen können als ich selbst. Ich wäre durch meine eigenen Beiträge kaum befriedigt worden, wenn ich sie mir hinterher angesehen hätte. Deshalb ist die Arbeit auf diesem Gebiete unbedeutend geblieben. Ich habe mich also niemals auf theoretisches Gebiet begeben. Das ist an sich vielleicht merkwürdig, aber das ist so.

Die Artikel, die ich für die Sozialistische Politik geschrieben habe, das waren Berichte über Streiks, an denen ich teilgenommen habe – im Chemiebereich – und ähnliche Dinge mehr aus den Bewegungen oder aus den Gewerkschaften…

Wichtig für mich war allerdings meine Tätigkeit für den isp-Verlag und die Herausgabe der Trotzki-Schriften gemeinsam mit Helmut Dahmer.

 Du bist Angehöriger einer Generation, die mit politischen Niederlagen, verheerenden Niederlagen, groß geworden ist. Die schlimmste war sicherlich die Übergabe der Macht an die Nazis und dann die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges mit all den Verbrechen, die in dessen Gefolge zu registrieren waren. Hat Dir das diese besondere Ausdauer gegeben, über Jahrzehnte hinweg an politischen Zielen, die zum Teil scheinbar immer weiter weg getrieben worden sind, festzuhalten?

Ich weiß nicht, vielleicht habe ich das zu einfach gesehen. Ich habe mich einmal festgelegt, nach einer ganzen Periode mit dem Faschismus als tiefen Einschnitt in das Studium und meine Zukunftspläne. Die Idee, dass man nur auf dem revolutionären Wege weiterkommt, hat mich grundlegend geprägt. Ich habe seitdem niemals irgendwie eine Schwankung gehabt.

Dabei war es mir gleichgültig, ob ich mit der Organisation in jeder Sache mitgehen konnte oder das Gleiche wie alle anderen gefühlt habe. Aber ich glaubte mir sicher zu sein. Das ist auch heute eigentlich nicht anders, wenn ich das noch hinzufügen darf… Aber ich bin der Meinung, etwas zu tun, was einem vernünftig erscheint und dann nur geringe Erfolge zu haben, ist auf jeden Fall viel besser als nichts zu tun [lacht].

 Was sind Deine Hoffnungen, Deine Erwartungen für die nächste Zeit?

Ich glaube, wir können nur hoffen, dass es unserer nationalen und internationalen Organisation weiter gelingt, mit den bewusstesten Teilen der Arbeiterschaft in engere Berührung zu kommen. Wir sollten versuchen, eine noch bessere Organisation zu schaffen, und gleichzeitig in einem gewissen Sinne darauf zu warten, dass sich im Weltmaßstabe oder in entscheidenden Regionen eine Bewegung entsteht, auf die wir dann in einem größeren Maße einwirken können. Ich meine, es gibt genügend Beispiele dafür, dass so etwas möglich ist. Ich weiß nicht, ob man 1905 in Russland von einer großen Arbeiterbewegung sprechen konnte. Trotzdem war erkennbar, wie das Einwirken einer Handvoll von Menschen enorme Möglichkeiten und die „Erfindung“ des Rätesystems mit sich gebracht hat. Ich stelle mir vor, dass sich solche Möglichkeiten an irgendwelchen historischen Punkten auftun müssen.

 Also die Zukunft ist nicht determiniert, sie ist offen, wir haben Möglichkeiten und Du bist optimistisch, dass wir diese Möglichkeiten auch nutzen können und einen Teil zum geschichtlichen Fortschritt beitragen können?

Ja, ja. Optimistisch ist ein gutes Stichwort. Wir haben lange Zeit Ernest [Mandel] außerordentlich geliebt. Sein Optimismus war an sich für uns eine der wesentlichen Triebfedern. Ich weiß nicht, ob wir in vielen Punkten zu optimistisch gewesen sind, aber die Grundhaltung, dass man nicht anders an die Realität herangehen darf, das ist etwas, was ich auch von ihm und auch einer Menge anderer Menschen in der Bewegung gelernt habe, und was, wie ich glaube, auch richtig ist. Zweifelsohne ist Trotzki als revolutionärer Praktiker und Theoretiker für mich nach wie vor ein Bezugspunkt, der mich bewegt und wo ich durch ein intensives Studium immer neue Seiten entdecken kann.

 Welches politische Ereignis hat den größten Einfluss auf Dich gehabt?

Die entscheidenden Ereignisse waren diejenigen, die sich im Kibbuz in Palästina abgespielt haben. Das heißt, die Erkenntnis daraus, was unser Sein an diesem Platz war. Die Auseinandersetzung mit den Arabern, die dort stattgefunden hat, war das entscheidende Ereignis in meinem Leben. Dieser Widerspruch, der einem zum Denken gebracht hat und dann wirklich die politische Festlegung bedingt hat…

Ich habe während des Krieges bei einem Bauern gearbeitet, der aus Russland kam. Eines Abends im Jahr 1940 hat er mir erzählt, dass Trotzki ermordet worden sei. Daran erinnere ich mich sehr genau. Das war ein ungeheurer Einschnitt.

 In welcher Form?

Es lässt sich nicht so genau sagen...

 Es war ein Schock?

Ein Schock und eine Aufforderung, dass man noch mehr machen muss, als vielleicht zu warten, wie sich die Dinge entwickeln. Es war eine stärkere Verpflichtung, sich selbst zu engagieren.

 Du hast die deutsche Sektion in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen seit der Nachkriegszeit kennen gelernt, wo siehst Du die Unterschiede, die Fortschritte und die Rückschritte, wenn Du die heutige Sektion vergleichst, mit dem was Du im Laufe der Jahrzehnte gesehen hast?

Wenn ich mit 1947 anfange, da waren wir tatsächlich nur zehn oder zwölf Genossinnen und Genossen, die sich zu uns gerechnet haben. Da waren zwei oder drei, die gewissermaßen überwintert haben. Da waren Schorsch, der zurückgekommen war, und einige andere, die damals gleich hinzugekommen sind. Von diesem Stadium sind wir bis zur GIM [Gruppe Internationale Marxisten], das wird der bisherige Höhepunkt gewesen sein, zahlenmäßig und auch vom Grad der Aktivitäten angewachsen...

Zu Beginn hat uns immer noch die Vorstellung begleitet, dass es mindestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen radikalen Aufschwung geben muss... Wir haben damals die historischen Veränderungen nicht so genau überschauen können. Wir haben damals [1947 ff.] noch nicht verstehen können, das bald darauf eine Konjunktur beginnen würde, die nicht fünf oder sieben, sondern 25 Jahre oder länger dauern wird.

Das hat selbstverständlich seine Auswirkungen gehabt, ganz abgesehen davon, dass die Entwicklung der Arbeiterbewegung und damit auch der politische Niedergang der Gewerkschaftsbürokratien eine ungeheure Rückwirkung auf alle damaligen Klassenbewegungen gehabt hat. Hinzu kam der Verlust der in den 20er Jahren entstandenen Klassen- und Klassenkampfvorstellungen.

      
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Rudi Segall: Inge Segall (1924-1996), Inprekorr Nr. 292 (Februar 1996)
Kurt Sørensen: Der erste dänische Trotzkist – der Deutsche Schorsch [Georg Jungclas], Inprekorr Nr. 245 (März 1992)
 

In diesem Sinne kann man nur sagen, dass wir heutzutage vielleicht wieder ein paar neue Dinge sehen, die uns hoffen lassen. Die Frage, dass die Unzufriedenheit in den unterdrückten Ländern und darüber hinaus wächst. Aber alles das gibt uns natürlich nicht die absolute Gewissheit neuer Aufschwünge des Klassenkampfs und eine sichere Perspektive für die revolutionäre Bewegung.

Ich glaube, das Beste ist, dass wir uns trotz all dieser Schwierigkeiten klar machen, es gibt ja gar keinen alternativen Weg. Wie könnten wir auch sagen, dass wir zwar revolutionär sind, aber nicht mehr weiter arbeiten? Das ist ja völlig unmöglich, und das ist das, was wir versuchen sollten, den Menschen beizubringen. Es wird wahrscheinlich gerade bei den Jüngeren sehr schwierig sein, sie auf längere Zeit trotz dieser äußerst unbefriedigenden Situation zu motivieren. Denn gelebt haben die IV. Internationale und überhaupt revolutionäre Bewegungen dadurch, dass sich Bewegungen, größerer Streiks und irgendwelche Arten von Aufständen entwickelt haben...

 Dass die Realität unsere Perspektive bestätigt hat...

Ja, aber diese Bestätigung ist natürlich im Augenblick außerordentlich schwierig als Vorstellung zu erhalten...

 Aber besser als noch vor ein paar Jahren....

Ich glaube, dass es besser möglich ist als vor ein paar Jahren, obwohl sich natürlich vieles auch seitdem nicht zum Besseren entwickelt hat. Ich meine zum Beispiel die Stellung Amerikas in der Welt, seine Allmächtigkeit und seine ungeheure Möglichkeit der Einwirkung. Die hat es schon lange gegeben, aber in dieser brutalen und in einem gewissen Sinne abschreckenden Form hat es sie doch wohl noch nicht gegeben. Möglicherweise ist es ein Zeichen, dass sich die Entwicklung einem Höhepunkt oder Umschlagspunkt nähert...

Es kann so nicht bleiben. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Ich meine, gerade diese Klimasache ist etwas, was die Menschen doch irgendwie zum Denken zwingen wird...

Aufgezeichnet und bearbeitet von Wolfgang Alles



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Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006).