Geschichte

Zum Gedenken an Hersch Mendel

Micha [Jakob Taut]

Für mich kam der Tod von Hersch Mendel am 22. Juli nicht überraschend. Er war seit langem krank, und das Schicksal dieses entwurzelten, physisch und moralisch gebrochenen alten Mannes war bereits entschieden. Und dennoch habe ich, als ich von seinem Tod erfuhr, das Gefühl gehabt, dass die letzten Verbindungen mit der alten Garde gekappt wurden, die in Russland die Oktoberrevolution gemacht, die die Polnische Kommunistische Partei gegründet und dann ohne Zugeständnisse den revolutionären Marxismus-Leninismus gegen das Monstrum Stalinismus verteidigt hat.

Ich habe Hersch Mendel vor ungefähr zehn Jahren kennen gelernt, als er mich in Haifa aufsuchte, um mir die Grüße von Freunden aus Europa zu überbringen. Bei der ersten Unterhaltung spürte ich die Größe dieses Mannes, dessen Leben der revolutionären Aktion gewidmet war, und auf der anderen Seite den Abgrund, den es zwischen uns gab: Hersch Mendel war von einem der grausamsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit besiegt worden – dem Massaker an sechs Millionen Juden, einfach weil sie Juden waren.

Als ich ihn kurz nach seinem Besuch in seinem Zimmer in einer Art Altersheim in Tel-Aviv sah, schenkte er mir ein Exemplar seines Buchs Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs [1] und schrieb auf die erste Seite eine bewegende persönliche Widmung. Ich sagte, dies entspreche nicht so ganz der Wahrheit, wir hätten in Bezug auf unsere Ansichten zur Vergangenheit sicherlich viel gemeinsam, was aber die gegenwärtige internationale Lage betrifft und insbesondere Israel und die jüdische Frage, läge offenkundig eine Welt zwischen uns. Er antwortete mir: „Du lebst heute, mich hat das, was geschehen ist, gebrochen.“

Von dieser Zeit an haben wir uns wiederholt getroffen. Im Laufe der ersten Jahre habe ich versucht, ihn für unsere neue Bewegung, die (antizionistische und internationalistische) „Organisation der Israelischen Sozialisten“, zu gewinnen und ihn dazu zu bewegen, dass er in unserer Zeitschrift Matzpen schreibt. Ich habe danach davon abgesehen, denn ich habe die Vergeblichkeit meiner Bemühungen eingesehen. Aber ich wollte wissen, wie es kommt, dass dieser Kommunist, dieser unnachgiebige internationalistische Revolutionär, der die revolutionäre Theorie über Jahrzehnte hinweg in die Praxis umgesetzt hat, sich so sehr dem Zionismus annähern konnte, ohne sich einen Zionisten zu nennen.

Ich habe sein Buch gelesen, das auf Jiddisch geschrieben ist. Das Vorwort stammt von Isaac Deutscher, der in den zwanziger Jahren ein politischer Schüler von Hersch Mendel war. In diesem Vorwort spricht Isaac Deutscher mit großer Begeisterung von seinem früheren Lehrer, setzt sich jedoch kritisch von dessen jüngeren pro-zionistischen Thesen ab. Bei den Gesprächen zwischen Hersch Mendel und mir hat dieser Punkt eine große Rolle gespielt. Und er nahm es Isaac Deutscher stets übel, dass er seine Vergangenheit verleugne, mit seinem ermordeten Volk „gebrochen“ habe und stattdessen gelehrte Bücher und Artikel für die ganze Welt schreibe. Kurz vor seinem Tod [im August 1967] lud Isaac Deutscher nach England ein. Er fuhr hin und blieb einige Monate dort. Ich weiß nicht, worüber sie diskutiert haben. Ich weiß auch nicht, ob es zu einer Aussöhnung zwischen ihnen gekommen ist. Es war mir nicht mehr möglich, mit Hersch hierüber zu sprechen.

Es wurde für mich jedoch offenkundig, dass diese großartige Persönlichkeit zusammengebrochen war – ein Zusammenbruch, der weit über ein individuelles Schicksal hinausreicht.

Hersch Mendel wuchs in einem zuerst vom Zarismus und dann von der polnischen Reaktion unterdrückten jüdischen Milieu auf. Diese Verhältnisse machten ihn zu einem Revolutionär, der die Barbarei bekämpfte, und zu einem internationalistischen Kommunisten, dessen Ideen weit über den engen Gesichtspunkt der märtyrisierten Juden in Osteuropa hinaus reichten. Er war sich dessen gewahr, dass nur der auf Weltebene verwirklichte Sozialismus auch die jüdische Frage lösen kann. Die jüdische Arbeiterklasse von Warschau oder Lodz und die Masse der kleinen jüdischen Handwerker in Polen, in Weißrussland und in der Ukraine war Hersch Mendels Hintergrund. Und der wurde von der Nazibarbarei physisch vollständig zerstört, und damit auch Hersch Mendels Familie und alle seine Freunde.

      
Mehr dazu
Pierre Frank: Hersch Mendel, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
Jakob Moneta: Jakob Taut (1913-2001), Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001)
Interview mit Rudi Segall: Palästina als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge, Inprekorr Nr. 347 (September 2000)
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000)
 

Mit seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinem Wissen konnte Isaac Deutscher ein Aktionsfeld finden, das von diesem vernichteten Hintergrund unabhängig war. Hersch Mendel, der Kämpfer, konnte es trotz seines Internationalismus nicht mehr. Er suchte in Israel wieder zu finden, was er verloren hatte, und fand es nicht. Der Zionismus war seinem revolutionären internationalistischen Denken und seiner Mentalität fremd. Aber auch seiner früheren Denkweise konnte er nicht mehr treu bleiben, denn die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte und in der sie sich entfalten konnte, existiert nicht mehr.

Hersch Mendel, einer der letzten Überlebenden einer heroischen Periode des revolutionären sozialistischen Denkens und Handelns, ist isoliert gestorben, in einer Umgebung, die ihm fremd war. Die internationalistische kommunistische Bewegung trägt ihm gegenüber eine Schuld. Sein Denkmal, das Buch Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, ist es wert, in andere Sprachen übersetzt zu werden [2], denn sein Inhalt ist, trotz einiger zionistischer Floskeln, nicht nur ein Meisterwerk persönlicher Memoiren, sondern ein bedeutender Beitrag zur Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung.

Quelle: quatrième internationale (Paris, 26. Jg., Nr. 34, November 1968)
Übersetzung: Friedrich Dorn



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[1] Mendel, Hersch [i. e. Sztokfisz, Herschel Mendel]: Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, [2. dt. Ausg.], aus dem Jiddischen übersetzt von Nele Löw-Beer u. Jakob Moneta, mit einer Einleitung von Isaac Deutscher u. einem Nachwort von Jakob Moneta, Köln: Neuer ISP Verlag, 2004, ISBN 3-89900-112-5.

[2] Nach der 1959 erschienenen jiddischen Originalausgabe erschien 1973/74 in Tel-Aviv eine zweiteilige Übersetzung ins Hebräische, 1979 die deutschsprachige Erstausgabe, 1982 eine Übersetzung ins Französische und 1989 eine Übersetzung ins Englische (Anm. d. Übers.).