IV. Internationale

Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen

Am 11. November diesen Jahres wird unser Genosse Jakob Moneta 90 Jahre alt. Seit mehr als 55 Jahren Mitglied der IV. Internationale ist er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unsrer Bewegung. Die Redaktion wünscht ihm von dieser Stelle aus alles Gute und noch möglichst viele Jahre freudigen Schaffens, denn nichts ist ihm ganz offensichtlich so wichtig wie – mit der Feder bewaffnet – für die Sache der Unterdrückten zu streiten. Aus Anlass seines Geburtstages bringen wir einen Aufsatz, in dem er 1978 anlässlich einer Debatte über die „Gewaltfrage“ Grundsätzliches zur notwendigen politischen und militärischen „Bewaffnung“ der Ohnmächtigen ausführt und dabei ein sehr erhellendes Licht auf einige seiner Lebensabschnitte wirft.
Wir entnehmen den Aufsatz der Sammlung Jakob Moneta: Mehr Macht für die Ohnmächtigen. Reden und Aufsätze (isp-Verlag, 1991).

Jakob Moneta


1.


Blazowa liegt zwischen Krakau und Lemberg; westlich des Flusses San, der die Polen von den Ukrainern trennt. In Ostgalizien heißen sie Ruthenen. Als ich vier Jahre alt wurde, am 11. November 1918, ist die Republik Polen gegründet worden. Josef Pilsudski ließ sich zum provisorischen Staatsober­haupt ausrufen. Er war einmal Mitbegründer und Führer der polnischen Sozialistischen Partei gewesen. In Vilna gehörte er eine Zeitlang der glei­chen illegalen Gruppe an wie Leo Jogiches, Kampfgenosse von Rosa Luxemburg, der wie sie von der deutschen Konterrevolution ermordet wurde. 1926 kam Marschall Pilsudski durch einen Staatsstreich zur Macht und errichtete ein autoritäres Regime. Die Wiedervereinigung von Galizien, das unter österreichischer Verwaltung, und von Kongreß-Polen, das unter russischer Verwaltung stand, und von Preußisch-Polen, die Befreiung ihres Landes unter Pilsudski, feierten die Polen in meiner Geburtsstadt Blazowa – und nicht nur dort – mit einem Judenpogrom.

Dicht zusammengedrängt saßen Juden in einem Zimmer, Männer, Frauen und Kinder. Die Fenster hatten sie mit Matratzen verstellt, damit kein Licht nach außen drang. Bewaffnete drangen in den Raum, schleppten einzelne hinaus, verprügelten sie, tasteten sie roh nach Geld ab. Meine Mutter wurde hinausgezerrt. Mein Vater wollte ihr helfen. Er erhielt einen Kolbenschlag, der ihm das Trommelfell zerschlug. Ich sah, wie meine Mutter sich an den Türpfosten klammerte, hörte ihren Hilferuf: „Gewalt!“. Der Bewaff­nete, der sie mit Füßen trat, war ein polnischer Schulkamerad von ihr.

Der von polnischen Nationalisten genährte Judenhaß konnte sich nicht überall an Wehrlosen entladen. Dort, wo der „Bund“, die stärkste organi­sierte Kraft im jüdischen Proletariat seine bewaffneten Kampftruppen gebildet hatte, holten sich die Pogromisten meist blutige Köpfe. Gegenwehr leisteten nicht nur Juden, sondern auch klassenbewußte Arbeiter jeder Nationalität. Für sie war der Antisemitismus eine gefährliche Propaganda­waffe des Klassenfeindes. Man mußte ihn bekämpfen. Mit allen Mitteln.

Meinen Vater nannte man in Blazowa den „Deutschen“. Er war von Frankfurt am Main gekommen und hatte in dem kleinen galizischen Textilstädtchen seine Frau gefunden. Nach dem Pogrom erstattete er Anzeige gegen die Rädelsführer. Sie drohten ihm Rache an. Daraufhin kehrte er nach Deutschland zurück. So kam ich 1919 nach Köln. Mit fünf Jahren wurde ich eingeschult. Schon mit drei Jahren hatte man mir im „Cheder“, einer Art Religionsschule, das hebräische Alphabet beigebracht. In Köln ging ich vormittags zur Schule und nachmittags ins „Cheder“, wo die Bibel in hebräisch und später der Talmud in aramäisch gelehrt wurde. Die Lehrer waren meist verkrachte Händler. Einer hatte stets eine lange Hundepeitsche, mit der er jeden erwischte, der unbotmäßig war oder falsche Antworten gab.

Wenn wir aus dem Cheder herauskamen, stand uns dann meist der eigent­liche Kampf bevor. Draußen wurden wir bereits von einer jungen Bande erwartet, die sich mit HEP-HEP-Geschrei auf die Judenjungen stürzte. Wir mußten lernen, entweder schneller zu laufen als sie oder aber uns zu wehren. Aus dem Milieu der Cheder-Schüler gingen eine Reihe bekannter Amateurboxer hervor. Die Selbstverteidigung hatte zu ihrer sportlichen Ausbildung beigetragen.

HEP ist eine Abkürzung für „Hierosilima est perdita“ - Jerusalem ist verloren. Ich begann von diesem verlorenen Jerusalem zu träumen. Eine jüdische Legende sagt, daß immer um Mitternacht ein Schakal über den verwüsteten Platz in Jerusalem läuft, auf dem die Römer im Jahre 70 nach Christi Geburt den Tempel zerstörten. Wenn es gelingt, diesen Schakal zu fangen, dann ersteht das alte jüdische Reich in seiner ganzen Herrlichkeit wieder auf. Was lag näher als daß ich, fast 1900 Jahre nach der Tempelzer­störung, diesen Schakal fangen würde. Die praktische Vorbereitung begann ich mit meinem Eintritt in eine zionistische Jugendgruppe.

Aber noch lebten auch die Zionisten nicht in Palästina. Die deutsche Arbeiterbewegung, damals die mächtigste der kapitalistischen Welt, zog auch die zionistische jüdische Jugend in ihren Bann.

Neun Millionen Stimmen hatte die fast eine Million Mitglieder starke SPD in den Reichstagswahlen 1924 erhalten und zog mit 152 Abgeordneten ins Parlament ein. Die KPD eroberte 54 Sitze, die NSDAP – die Nazis – nur 12. In Preußen hatten die Sozialdemokraten mit 229 von 450 Sitzen die absolute Mehrheit errungen. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) hatte 4,7 Millionen Mitglieder, der Arbeiter-Turn- und Sportbund 770 000, der Arbeiter-Radfahrbund „Solidarität“ 220 000. Es gab einen Arbeiter-­Athletenbund, einen Schachbund, Samariterbund und sogar einen Schüt­zenbund. Die Arbeiterbewegung schuf eine Gegengesellschaft im kapitali­stischen Staat.

Als der Sozialdemokrat Hermann Müller die neue Reichsregierung bildete, erklärte sein Innenminister Karl Severing, die neue Regierung habe die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen. Ferien von Regierungskrisen, Pro­grammentwürfen und Richtlinienberatung. In den Ferien würde man vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik leisten.

Der Abglanz von all dem fiel auch auf uns, die lernende, die lesende, die arbeitende jüdische Jugend. Wir wurden meist Sozialisten. Nicht immer durch Karl Marx, obwohl uns die wuchtige Sprache des Kommunistischen Manifestes mitriß. Leonhard Franks Der Mensch ist gut weckte unseren Haß gegen den Krieg. Hitler ließ ihn dieses Buches wegen ausbürgern. Upton Sinclairs Der Sumpf schärfte unser soziales Gewissen. Sein Boston, wo er den Justizmord an Sacco und Vanzetti schildert, und Henri Barbusses Tatsachen wühlten uns auf gegen die Klassenjustiz.

Im Jahre 1929 setzte die hereinbrechende Wirtschaftskrise der „praktischen Arbeit zum Aufbau der Republik“ durch die Sozialdemokraten ein rasches Ende. Die Zahl der Erwerbslosen erreichte zwei Millionen, ein Jahr später drei Millionen. Bis 1933 sollte sie auf sechs Millionen steigen. Dazu kamen Millionen Kurzarbeiter. Die Landwirte erzielten für ihre Produkte in der Krise geringere Preise. Das Handwerk und die freien Berufe gerieten in den Strudel der Krise. Bestechungsskandale erschütterten zudem die politische Glaubwürdigkeit der SPD. In den Reichstagswahlen vom September 1930 verloren die Sozialdemokraten dennoch nur eine halbe Million Stimmen; die Stimmenzahl der KPD stieg sogar von 3 ¼ auf 4 ½ Millionen. Entschei­dend aber war, daß die Nazis von 800 000 auf 6,5 Millionen anstiegen und 107 Mandate eroberten. Von vier Millionen Neuwählern waren drei Millio­nen zu Hitler gegangen, 2 ½ Millionen hatte er von anderen Rechtsparteien gewonnen.

Die wachsende politische Unruhe in der SPD wurde mit Disziplinierungs­maßnahmen und Ausschlüssen beantwortet. Im Oktober 1931 gründeten die ausgeschlossenen Reichstags-Abgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Ihre Jugendorganisation, der „Sozialistische Jugendverband“ (SJV), zog einen großen Teil der sozial­demokratischen Jugend herüber. Ich trat zusammen mit anderen Mitglie­dern der zionistisch-sozialistischen Jugend in den SJV ein und setzte so meinen Fuß auf die Straße, die mich zum Internationalismus führte.

Zum ersten Mal kam ich in Verbindung mit jungen, idealistischen, kampfentschlossenen, revolutionären deutschen Jugendlichen. Dies genau in dem Augenblick, wo der Sieg der Nazis die deutsche Bourgeoisie vor dem Sozialismus retten sollte.

Auf den Straßen Kölns kam es fast täglich zu blutigen Zusammenstößen. Von Motorrädern aus schossen Nazis in eine Gruppe diskutierender Arbei­ter. Saalschlachten wurden ausgetragen. In der Elsässerstraße, einer roten Hochburg von Köln, warfen Frauen ihre Mistkübel aus den Fenstern auf Nazidemonstranten. Auf dem Weg vom Gymnasium nach Hause geriet ich stets in diskutierende Gruppen von Arbeitern. Ich erinnere mich an die feurige Rede eines neugebackenen Nazi, der seine Zuhörer davon überzeu­gen wollte, daß Kriege nötig sind, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

Die Antwort, einfach und klar, erhielt er in reinstem Kölsch: „Dann häng dich doch op. Dann is doch als ein winniger do.“ (Dann häng dich doch auf, dann ist doch bereits einer weniger da.)

Am 20. Juli 1932 setzte die Reichsregierung von Papen per Notverordnung die sozialdemokratische preußische Regierung ab. Sie begründete das mit der Notwendigkeit, selbst für Ruhe, Ordnung und Sicherheit sorgen zu müssen, weil die Sozialdemokraten die von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen in Preußen nicht im notwendigen Umfange be­kämpften.

Dieser kalte Staatsstreich der Reichsregierung brach der Republik das Rückgrat. Er verlief „programmäßig und ohne Zwischenfälle“. So von Papen in: Der Wahrheit eine Gasse (München 1952, S.218). Um 10 Uhr morgens, am 20. Juli 1932, hatte der sozialdemokratische preußische Innen­minister Karl Severing noch erklärt, er werde „nur der Gewalt weichen“. Um 20 Uhr abends erschien die Gewalt in Gestalt eines Polizeipräsidenten nebst zwei Polizeioffizieren, und er wich. Später sagte er, er habe Blutver­gießen vermeiden wollen.

Hätte er es doch damals nicht vermieden! Dann wären uns Millionen in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, Gefolterte, Erschlagene, Verga­ste, im Zweiten Weltkrieg Gefallene vielleicht doch noch erspart geblieben. Evelyn Anderson jedenfalls schreibt über die ruhmlose Kapitulation der stärksten Festung der Sozialdemokratie: „In allen deutschen Städten stan­den Formationen des Reichsbanners und der Eisernen Front bereit, putzten ihre Gewehre und warteten auf den Befehl zur Tat“ (Hammer oder Amboß, Nürnberg 1948, S.206). Henning Duderstadt sagt noch bestimmter: „Wir fieberten, wir warteten auf das Signal zum Kampf! Generalstreik! Jeder bewaffnet sich, wo er kann. Sieg oder Tod!“ (Vom Reichsbanner zum Hakenkreuz. Wie es kommen mußte. Ein Bekenntnis, Stuttgart 1933, S. 31 f.).

Der „Befehl zur Tat“, das „Signal zum Kampf“, sie blieben aus.

Die Stationen der schrittweisen Kapitulation vor den Nazis bis zur tiefsten Erniedrigung in den Schreiben des Führers des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor Leipart, vom 21. und 29. März 1933 an den Führer des Deutschen Reiches Adolf Hitler waren schändlich. Im Namen des Bundesvorstandes erklärte Leipart, der ADGB müsse seine sozialen Aufgaben erfüllen, „gleichviel welcher Art das Staatsregime ist“. Im Reichstag stimmten am 17. Mai 1933 die sozialdemokratischen Abge­ordneten Hitlers „Friedensresolution“ zu, weil – wie sie sagten – dies eine Bejahung einer friedlichen deutschen Außenpolitik und nicht ein Vertrau­ensvotum für Hitler sei. In Wirklichkeit hofften sie, durch ihren offenen Verrat an der sozialistischen Idee, ihre Organisation zu retten und gnädigst in die „deutsche Volksgemeinschaft“ aufgenommen zu werden. All das grub sich tief in die Herzen und Köpfe derer ein, die mit Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager oder Emigration bezahlen mußten, daß ihre Führer der Gewalt der Mächtigen kampflos gewichen waren.

Erst als ich den Fackelzug der bewaffneten SA durch die kommunistische Hochburg Kölns, die Thieboldsgasse, marschieren sah, vorbei an den haßerfüllten, stummen, durch ihre Führung wehrlos gemachten Proletariern und ihren vor ohnmächtiger Wut weinenden Frauen, wußte ich: es ist vorbei. Wir wurden geschlagen, ohne auch nur einen Versuch zur Gegen­wehr. Wir wurden ausgeliefert.

Allen, die hinterher den „Massen“ die Schuld für ihr eigenes Versagen aufbürden wollten, muß man in Erinnerung rufen: In den letzten einiger­maßen freien Betriebsratswahlen, die von den Nazis im April 1933 durchge­führt wurden, weil die Nazis selbst daran glaubten, sie hätten in den Betrieben an Boden gewonnen, erhielten die Freien Gewerkschaften 73,4 Prozent der Mandate und die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisa­tion (NSBO) 11,7 Prozent. Die Basis zum Widerstand war da. Aber die Führung war desertiert.


2.


Sieben Monate nach meinem Abitur, am 2. November 1933, kam ich in Palästina im Hafen von Haifa an. Es war der Jahrestag der 1917 vom britischen Außenminister Balfour abgegebenen Erklärung, die den Juden im arabischen Palästina eine „nationale Heimstätte“ zusicherte. Die Araber streikten an diesem Tag. Sie protestierten gegen die Balfour-Deklaration. Wir wurden nach Jaffa verfrachtet, wo ich mit einem halben englischen Pfund in der Tasche landete. Mein Ziel war ein Kibbuz.

Würde man mich fragen, woher meine unverrückbare Zuversicht stammt, daß Menschen Habsucht, Jagd nach Geld, Konkurrenzneid, Selbstsucht, Unterwürfigkeit – jene ihnen zum großen Teil vom Kapitalismus mühsam anerzogenen „menschlichen“ Eigenschaften – ablegen können; würde man mich fragen, wo die tiefste Wurzel meines Glaubens daran liegt, daß Menschen ohne jeden äußeren Zwang als Gleiche und Freie im Kollektiv ihr Leben selbst gestalten können, ich würde antworten: Das hat mir meine Erfahrung in der Praxis des damaligen Kibbuz bewiesen.

Isaac Deutscher schreibt in seinen Essais sur je problème juif (Payot 1969, S.126 f.), ihm sei in einem Kibbuz, „dessen Mitglieder allen Grund haben, stolz zu sein auf ihre (gesellschaftliche) Moral und die sich dessen sehr wohl bewußt sind“, folgendes passiert: Der diplomatische Vertreter der Sowjet­union besuchte mit seinem Stab Kibbuzim, um sie mit den Kolchosen vergleichen zu können. Nachdem er die moderne Molkerei, die Schule, die Bibliothek und vieles andere gesehen hatte, erkundigte er sich nach dem Gefängnis. „Das gibt es hier nicht“, erhielt er zur Antwort. „Das ist unmöglich“, stieß der Diplomat hervor. „Was zum Teufel fangt Ihr mit Euren Verbrechern oder Missetätern an?“ Man bemühte sich vergeblich, ihm zu erklären, daß es noch kein so schweres Verbrechen gegeben habe, das eine Gefängnisstrafe gerechtfertigt hätte. Schließlich wähle man die Mitglieder des Kibbuz sorgfältig aus. Es seien Menschen mit einer hohen sozialistischen Moral. Man könne Mitglieder, deren Verhalten nicht gebil­ligt wird, auch ausschließen. Dem sowjetischen Diplomaten wollte es jedoch nicht in den Kopf hinein, daß eine Gemeinschaft von Hunderten Menschen ohne Gefangene auskommen kann. Er glaubte, man wolle ihm „potemkinsche Dörfer“ vorführen.

Aber welcher Anhänger unserer „sozialen Marktwirtschaft“ würde glau­ben, daß der „Leistungswillen“ in den Kibbuzim, in denen heute mehr als 100 000 Menschen leben, durch die egalitäre Befriedigung der Lebensbe­dürfnisse, ohne jegliche Geldentlohnung für die Arbeit, nicht beeinträchtigt wird? Wer von ihnen würde glauben, daß ein Genosse aus dem Kibbuz Parlamentsabgeordneter oder Diplomat sein kann und zu Hause als Trakto­rist oder Helfer in der Küche arbeitet, wenn er hierzu eingeteilt wird? Wer von ihnen würde begreifen, daß eine selbstverwaltete Gesellschaft ohne Vorgesetzte, ohne Polizei, mit frei gewählten, jederzeit absetzbaren Ausschüssen unter schwierigsten Bedingungen eine gewaltige Aufbauleistung vollbringen kann, wie die Kibbuzniks es taten?

Wer würde glauben, daß die Gemeinschaftserziehung der Kinder – sie sind nur wenige Stunden am Tag mit den Eltern zusammen – dazu führt, daß „die Kinder Kameraden sind, nicht Konkurrenten“, daß „die Hilfsbereit­schaft bei diesen Kindern viel stärker ausgeprägt ist als das Streben nach Herrschaft. Da keine Eltern da sind, um deren Gunst man (im Kinderhaus) buhlen könnte, und da das Wetteifern allgemein nicht geschätzt wird, verhalten sich die Kinder wie Geschwister; die Starken üben einen gewissen Einfluß aus, aber sie wenden ihn auch im Interesse der Gruppe an“ (Bruno Bettelheim, Die Kinder der Zukunft, dtv 888, S.90).

Ich habe die Geburtswehen, die gesellschaftlichen Experimente, die großar­tigen Versuche zur Herstellung neuartiger Beziehungen zwischen Mann und Frau, zur Eingliederung von Alten und körperlich Behinderten, das Leben in Zelten, durch die nachts Schakale liefen, wie die Legende es vom Tempelplatz erzählte, das Leben in Baracken, Malariaanfälle, die oft un­menschlichen Arbeitsbedingungen in den Orangenplantagen, in denen wir Lohnarbeiter waren, ehe der Kibbuz Siedlungsland erhielt, fünfeinhalb Jahre lang nicht etwa nur „ertragen“. Mir war bewußt, an einem großen Abenteuer mitzuwirken, das einmal zur Schaffung des sozialistischen Men­schen führen wird.

Viele Jahre später ging ich mit der siebenjährigen Nurith aus dem Kibbuz Dalia durch die Altstadt von Jerusalem. Sie sah zum ersten Mal Bettler. Ich versuchte zu erklären, was das ist, gab ihr ein paar Münzen, damit sie eine gute Tat vollbringen konnte. Sie legte in die erste, in die zweite, in die dritte Hand, die sich ihr entgegenstreckte, eine Münze, dann trat sie entschlossen auf einen Bettler zu, gab ihm das ganze Geld und sagte: „Da, nimm das und teil es mit deinen Genossen!“ In diesem Augenblick wußte ich, daß die gesellschaftliche Erziehung des neuen Menschen in Kibuzzim, in Kommu­nen, den neuen Menschen hervorbringen wird.

Ich trat aus dem Kibbuz nicht aus. Ich wurde ausgeschlossen. 1936 war ein arabischer Aufstand ausgebrochen. Wir zogen Stacheldraht um den Teil, der als Wohnfläche diente, schafften einen Scheinwerfer an, der nachts über das Lager kreiste, bauten aus Holz und Steinen Schanzen mit Schießschar­ten. Noch kurze Zeit zuvor hatte der als Nachtwächter eingeteilte Genosse zu unser aller Schutz nur einen Knüppel erhalten. Das war die einzige Waffe, die wir hatten. Sie war der Grundstock zu der heute so mächtigen israelischen Armee. Jetzt wurden illegale, geheime Waffenarsenale unter den Zeltstangen gut versteckt eingebaut. Sie waren leicht erreichbar. Die „Hagana“ – die zionistische „Selbstschutzorganisation“ – begann uns aus­zubilden: Revolver, Handgranaten, Gewehre, Maschinenpistolen. Aber wer war der Feind?

Das Dorf Karkur, wo unser Kibbuz damals war, lag an der Grenze des jüdischen Siedlungsgebietes. Als ich 1933 nach Palästina kam, lebten 175 000 Juden unter 1,5 Millionen Arabern. Der „Haschomer Hazair“, die linkssozialistische, stark stalinistisch beeinflußte Kibbuzbewegung, wollte, daß sich die arabischen zusammen mit den jüdischen Arbeitern in einer gemeinsamen Klassenorganisation, der „Histadruth“ (Gewerkschaft) zu­sammenschließen. Der „Haschomer Hazair“, dem auch mein Kibbuz ange­hörte, erwartete, daß eines Tages ein „binationaler“ arabisch-jüdischer Staat in Palästina entstehen wird. Beides wurde von der sozialdemokratischen Mehrheit in der Histadruth, der Mapai, abgelehnt.

Wenn man in einem solch armen Land wie in Palästina einen jüdischen Staat mit einer jüdischen Arbeiterklasse und nicht nur eine weiße Siedlerherren­schicht wie in Südafrika schaffen wollte, konnte dies nur auf Kosten der arabischen Bevölkerung gehen. Darum wurde propagiert: „Kauft die Pro­dukte des Landes.“ Das waren die jüdischen Produkte, die teurer waren als die arabischen. „Erobert die Arbeit“ sagte man uns, also: ersetzt die billige, unorganisierte arabische Arbeit durch teure, organisierte jüdische (wobei man gleichzeitig die Histadruth, die Gewerkschaftsorganisation, für die Araber versperrte!). „Erobert den Boden“ hieß die dritte Losung. Man kaufte von den reichen arabischen Effendis, den Großgrundbesitzern, den Boden mit Hilfe des jüdischen Nationalfonds, der ihn ausschließlich an jüdische Siedler verpachtete. Die armen arabischen Fellachen, die meist Pächter waren, wurden mit Geld abgefunden, mit dem sie wenig anfangen konnten.

Die Haltung der Mapai war durchaus schlüssig. Man mußte bereits inner­halb des arabischen Palästina einen geschlossenen jüdischen Wirtschaftssek­tor schaffen und diesen immer mehr ausweiten, wenn man eines Tages einen jüdischen Staat haben wollte. Unterstützung hierfür kam von zwei Seiten:

vom britischen Imperialismus, der trotz aller Schwankungen stets auf der Seite der Zionisten blieb, und von den amerikanischen Juden, die Geld spendeten.

Daß dieser Plan aber überhaupt Erfolg haben konnte, verdanken die Araber Hitler. Er hatte die sich auflösenden, in voller Assimilation befindlichen deutschen Juden zunächst ins Ghetto und später in die Todes- und Ver­nichtungslager geschickt. Für sie, aber auch für die nichtzionistische jüdi­sche Arbeiterklasse in Osteuropa, wurde Palästina zum einzigen Schlupfloch, weil die so humanen demokratischen imperialistischen Staaten, gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise, sich weigerten, jüdische Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen.

Eines Tages, als ich im Kibbuz hinter unserer holzverkleideten steinernen Schanze auf Wache stand, sah ich Flugzeuge, die wie Raubvögel immer wieder auf einen kahlen Berg niederstießen. Dann folgten Maschinenge­wehrgarben, die mit einzelnen Schüssen beantwortet wurden. Einige Stun­den später kamen britische Soldaten zu uns und erzählten, sie hätten eine arabische „Bande“ – etwa 60 Menschen – wie Hasen abgeschossen. Die Briten bewunderten den Mut dieser Männer, die versuchten, mit ihren Gewehren die britischen Flugzeuge zu treffen und die sich, wenn man sie verwundet gefangen nehmen wollte, noch mit ihren „Djabries“, den arabi­schen Krummdolchen, auf die Soldaten stürzten.

(Dieser Tage las ich im Stern, Nr.4/78, der GSG-Kommandeur Wegener habe sich in Mogadischu überrascht gezeigt über „die heftige Gegenwehr der Palästinenser“. Er habe geglaubt, daß Araber nicht sehr mutig seien. Jetzt kämpften sie wie Japaner auch in aussichtsloser Position weiter. Wegener: „Das war neu und erschreckend. Die Leute hatten eine riesige Energie und einen fanatischen Haß.“

Niemand fragt danach, ob die Wurzel dieses Hasses nicht in der unterdrückten Freiheitsliebe dieses Volkes liegt, sowie in dem unbändigen Zorn darüber, dreißig Jahre lang in Lagern zu vegetieren.)

Einige von uns im Kibbuz begannen damals Fragen zu stellen über unsere „Feinde“. Wir kamen zu dem Ergebnis: diesen Menschen geschieht un­recht. Wir, die wir selber Opfer Hitlers sind, verüben an ihnen Unrecht. Wenn wir es ernst meinen mit unserem Internationalismus, müssen wir einen Weg suchen zu diesen arabischen Massen.

Wir wollten den Kibbuz nicht verlassen, der unsere Heimat, unsere Lebensform, unsere Familie war. Bald aber mußten wir begreifen, daß, wer nicht mehr Zionist ist, nicht im Kibbuz leben darf, der trotz seiner fortschrittli­chen gesellschaftlichen Experimente die Speerspitze des Zionismus bildet. Standen nicht auch die katholischen Klöster im Mittelalter, diese wunderba­ren Kommunen, die alle damaligen Schätze der menschlichen Kultur aufbe­wahrten und mehrten, im Dienste der feudalistischen Kirche, die eine der furchtbarsten Unterdrückungsmächte war, gegen die sich Reformation und Bauernaufstände richteten?

Wenige Monate nachdem wir den Kibbuz verlassen hatten, zwei Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurden drei von uns Ausgeschlosse­nen verhaftet und interniert. Administrativ, ohne jedes Gerichtsverfahren, erhielten wir 12 Monate zudiktiert, die beliebig verlängert werden konnten. Wir kamen zum ersten Mal mit dem britischen Imperialismus in Berüh­rung, der jüdische Nichtzionisten als Gefahr ansah.

Im Polizeigefängnis von Haifa wurden etwa 30 Häftlinge so eng in einem Raum zusammengepfercht, daß man sich nicht einmal beim Schlafen aus­strecken konnte. Wir lagen nachts auf dünnen Matten, die von Gefangenen aus Lumpen geflochten waren; tagsüber saßen wir auf dem Zementboden zusammen mit Kriminellen, mit Menschen, die offene Tbc, Geschlechtskrankheiten, die Krätze oder Läuse hatten. Hier gab es zwischen Juden und Arabern keine Unterschiede mehr, ebensowenig wie zwischen Politischen und Kriminellen. In der Zelle gab es weder Tisch noch Stuhl. In der Ecke stand ein offener Pißkübel.

Einige Tage darauf wurden wir in die Festung Akko eingeliefert. Eine Nacht lang war ich dort mit Mitgliedern einer arabischen „Bande“ zusam­men, die wir heute Partisanen oder Freischärler nennen würden. Ihre Moral, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie diskutierten, ihr Kampfwille – einige von ihnen waren zum Tode verurteilt und wurden hingerich­tet – hinterließen einen tiefen Eindruck auf mich.

Tags darauf wurden wir von einem Aufseher instruiert, wir würden nun ärztlich untersucht und müßten Fragen mit „Yes Sir“ beantworten. Wir standen in einer langen Reihe, wurden einem britischen Militärarzt vorge­führt, der fragte: „Everything alright?“ Wir antworteten: „Yes Sir“. Die medizinische Inspektion war beendet.

Nachdem 12 Monate meiner Internierung abgelaufen waren, wurde die Haft automatisch für weitere 12 Monate erneuert. Mit uns zusammen – wir waren inzwischen nach Sarafand überführt worden und kamen später nach Masra – war ein Sekretär der Palästinensischen Kommunistischen Partei, Meir Slonim, interniert seit sechs Jahren, ohne Prozeß, ohne Urteil.

Eines Tages wurde eine Gruppe jüdischer Strafgefangener – 43 Mann – in das benachbarte Lager eingeliefert. Sie waren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie britischen Soldaten mit voller Bewaffnung in die Arme gelaufen waren. Ihr Anführer hieß Moshe Dayan [1]. Natürlich wurden sie lange vor Ablauf ihrer Strafe entlassen.

Unter uns Häftlingen übten wir Solidarität, und da wir als Internierte das Recht hatten, Geld zu erhalten und zusätzliche Nahrungsmittel zu kaufen, schmuggelten wir einen Teil davon in das Lager der Strafgefangenen, in dem auch Mosche Dayan saß, mit dem ich über den Zaun hinweg fruchtlose Diskussionen führte. Zusammen interniert mit uns waren auch die bedeu­tendsten Führer der rechtsradikalen zionistischen Terroristen, wie Abra­ham Stern, Abrascha Zehner und David Razill, Vorläufer Begins als Führer des „Irgun“.

Die Linken im Lager organisierten gemeinsam mit den arabischen Häftlin­gen, die zu hunderten interniert waren, einen Hungerstreik, um endlich ein ordentliches Gerichtsverfahren zu bekommen. Wir wurden zwangsernährt und erhielten nach sieben Tagen das Versprechen, daß wir vor eine Kom­mission gestellt würden, die unsere Fälle überprüfen werde.

In den zweieinviertel Jahren, die ich interniert war, habe ich nicht nur Sprachen gelernt, eine Art Lageruniversität mitorganisiert, sondern auch erfahren, was die drei Buchstaben CID (Criminal Investigation Depart­ment) bedeuten, die ich vor meiner Verhaftung gar nicht kannte. Sie bedeuteten, daß Häftlingen Holzstäbchen unter die Fingernägel getrieben wurden, daß man Feuer unter ihren Fußsohlen anzündete, daß sie an den Händen aufgehängt wurden, bis sie vor Schmerz brüllten; und all das, um Aussagen von ihnen zu erpressen. Ich lernte, daß der demokratische Imperialismus im Kampf für die Erhaltung seines Imperiums manchmal nicht weniger zimperlich ist als der Faschismus, der auszieht, ein neues Imperium zu erobern.

Drei Monate nach dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion kam ich endlich vor eine britische Untersuchungskommission. Sir Hartley Shaw­cross, ein in Gießen geborener englischer Jurist, der 1945 Labour-Abgeord­neter, dann Kronanwalt und später Hauptankläger für Großbritannien vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg war, führte den Vorsitz. Er wollte wissen, was eigentlich gegen mich vorliege, und war ebenso wie mein Anwalt, der bedeutende jüdische Arabist Goitein, über die „Beweise“, die von der Polizei geliefert wurden, überrascht, ja empört. Shawcross verfügte meine Freilassung.

In den zweieinviertel Jahren meiner Internierung hatte nur ein Vetter von mir es gewagt, mich ein einziges Mal zu besuchen. Jeder, der um die entsprechende Erlaubnis bat, wurde von der CID darauf aufmerksam gemacht, welchem Risiko er sich damit aussetzt.

Nach meiner Entlassung stand ich dennoch lange unter Polizeiaufsicht, was mich nicht daran hinderte, nun zum ersten Mal wirklich mit arabischen Linken Verbindung aufzunehmen, unter denen ich Freunde gewann. Wäh­rend des Krieges kamen wir über sympathisierende marxistische Soldaten mit der ägyptischen Literaturzeitschrift Megalla Gedidah (Neue Zeitung) in Kontakt. Wir traten in eine politische Diskussion mit den Redakteuren ein, von denen 1947 einige an der ersten großen Massenstreikbewegung ägyptischer Arbeiter Anteil hatten.

Als das Kriegsende kam, bereitete ich mich auf die Rückkehr nach Deutsch­land vor. Einige meiner Freunde waren in die Armee, zur Marine oder zur UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gegan­gen und setzten sich in Europa ab. Eine internationalistische politische Arbeit in Palästina schien mehr und mehr aussichtslos. Die terroristischen Attentate des rechtsextremen Irgun Zwai leumi (Nationale Militärorganisa­tion) – einer ihrer Führer war der jetzige Ministerpräsident Israels, Mena­chem Begin –; die Anschläge der Stern-Organisation, das britische Hauptquartier in Jerusalem, das King David Hotel, wurde in die Luft gejagt, wobei fast 100 Menschen umkamen; der Terror vor den Raffinerien von Haifa, wo in der Schlange der dort nach einem Tag Arbeit anstehenden arabischen Fellachen eine Bombe explodierte, die mehr als 40 Menschen zerriß; schließlich der blutige Pogrom gegen das arabische Dorf Dir Yassin, in dem auch Frauen und Kinder ermordet wurden, und viele andere Attentate ließen eine friedliche Lösung immer weniger zu. Als ich sah, wie meist orientalische Juden aus arabischen Dörfern bei Jerusalem fortschleppten, was nicht niet- und nagelfest war, oder armselige Behausungen niederrissen, erinnerte ich mich wieder an den Pogrom der Polen. Nur: Hier wurden Juden zu Pogromisten.

1947 beschlossen die Vereinten Nationen – die USA gemeinsam mit der Sowjetunion – die Zweiteilung Palästinas. Die Araber beantworteten dies mit einem Generalstreik. Tagtäglich explodierten nun arabische oder jüdi­sche Bomben, wurden Menschen ermordet. Wenn man sich morgens verabschiedete und zur Arbeit ging, sagte man sarkastisch: „Auf Wiederse­hen in der Abendzeitung“. Dort wurden die Bilder der Ermordeten veröf­fentlicht.

Anfang 1948 kam ich mit einem Touristenvisum und einem Paß des britischen Mandatsgebiets Palästina in Frankreich an. Von dieser Zeit an durchlebte ich zuerst in Frankreich, dann in Belgien das Schicksal eines Emigranten, dessen Mandatspaß seine Gültigkeit verlor und der stets im Clinch mit den Polizeibehörden lag, die ihn ausweisen wollten. Denn die britische Regierung hatte beschlossen, ihre Truppen aus dem Mandatsgebiet Palästina am 14.5.1948 zurückzuziehen. Am gleichen Tag wurde der Staat Israel ausgerufen. Die Truppen der arabischen Staaten, die versuchten, die Entstehung des Staates zu verhindern, wurden geschlagen. In Panik flohen Hunderttausende Araber in die Nachbarstaaten. Sie gingen in die Diaspora wie die Juden 1900 Jahre vor ihnen.

1933 war ich als Jude in das arabische Palästina gekommen. Als ich 1948 das Land verließ, waren die Araber zu Juden geworden. Ich kehrte im Novem­ber 1948 als überzeugter Internationalist nach Deutschland zurück. In der falschen Hoffnung, die Geschichte würde dort weitergehen, wo sie nach der Revolution von 1918 unterbrochen worden war.


3.


Mag sein, daß es wirklich Menschen gibt, die niemals schwanken. Die Heiligen der katholischen Kirche etwa, oder die Bolschewiken aus der Retorte der stalinistischen Geschichtsfälscher. Aber die Entwicklung des Nachkriegseuropa, vor allem die enttäuschte Hoffnung auf das Verschwin­den der blutigen Herrschaft Stalins nach dem Krieg und des Sieges der sozialistischen Demokratie in Europa und in der Sowjetunion machten mir schwer zu schaffen.

Drei Monate vor dem Tod Stalins veröffentlichte ich eine kleine Schrift: Aufstieg und Niedergang des Stalinismus - Kommentar zum kurzen Lehr­gang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bol­schewiki). Unter den Linken in der Bundesrepublik, aber vor allem unter Kommunisten in der DDR, wo die Tradition der marxistischen Analyse durch den Faschismus und den Stalinismus angeschlagen war, löste diese Schrift Diskussionen aus.

Ein Kapitel darin trägt die Überschrift: „Revolutionärer und bürokratischer Terror“. Es beginnt mit der Feststellung, daß, wie immer man subjektiv den Terror, die Gewaltanwendung in der Geschichte verabscheuen mag, sich nicht leugnen lasse, daß die Gewalt zuweilen eine Hebamme der Geschichte gewesen ist.

„Angefangen von der puritanischen englischen Revolution bis zu den amerikanischen Befrei­ungskriegen gegen die Engländer, dem Kampf um die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten Amerikas oder der Französischen Revolution hat die Gewaltanwendung eine Rolle gespielt. Gewalt wird in der gleichen Weise vom Chirurgen angewandt, der einen Patienten mit einem Skalpell behandelt, und vom Mörder, der sein Opfer mit einem Dolch tötet. Man kommt also um die Frage nicht herum, wer zu welchem Zweck Gewalt anwendet. Wie unterscheidet man jedoch die revolutionäre von der reaktionären Gewalt? Wie kann man feststellen, ob Gewalt­anwendung dem Fortschritt dient oder den Fortschritt behindert?“

Ich zitierte, was Mark Twain, einer der aufrichtigsten amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, ein wahrhafter Verfechter der amerikani­schen Demokratie, über die Schreckensherrschaft der Französischen Revo­lution in seinem Buch Ein Yankee am Hofe von König Artus schrieb:

„Es gab zwei Schreckensherrschaften, wenn wir uns daran erinnern und es erwägen würden. Die eine verübte Mord in heißer Leidenschaft, die andere hatte tausend Jahre gedauert. Die eine verhängte Tod über zehntausend Personen, die andere über hundert Millionen, aber unser Schaudern gilt nur dem ,Schrecken des kleineren Terrors, des momentanen Terrors sozusagen: Was aber ist der Schrecken eines raschen Todes durch das Beil, verglichen mit dem lebenslangen Sterben durch Hunger, Kälte, Schimpf, Grausamkeit und an gebrochenem Herzen?. . . Trotz allem scheinheiligen Gewinsel vom Gegenteil hat noch kein Volk der Welt jemals durch gütliches Zureden und moralische Uberredung seine Freiheit erlangt, da es ein unabänderliches Gesetz ist, daß jede Revolution, die Erfolg haben will, mit Blutvergießen beginnen muß, wenn auch nachher vielleicht etwas anderes genügt.“

Wie aber sah es mit der Schreckensherrschaft der russischen Revolution aus? Ich schrieb:

„Man kann ohne jede Übertreibung feststellen, daß die vom Stalinismus angewandten Mittel den von ihm selbst angegebenen Zweck beständig verfehlen. Die Sowjet-Demokratie hatte sich als hinreichend erwiesen, die herrschenden Klassen selbst zu vernichten. Aber um die Überbleibsel (der herrschenden Klassen) in der Wirtschaft und im zurückgebliebenen Bewußtsein der Menschen zu bekämpfen, braucht Stalin angeblich den gewaltigen Machtappa­rat seiner Geheimpolizei! In Wirklichkeit ist es so, daß das Aufleben der Ideologie der geschlagenen antileninistischen Gruppen die immer wieder aufflackernde Idee des echten Marxismus und Leninismus ist, der eben nie ausstirbt, weil er von der Sowjetwirklichkeit selbst tausendfach immer neu hervorgebracht wird: jene tiefe Sehnsucht der Massen zur Wiederbelebung der Demokratie in der Sowjetunion und das Drängen zur Beseitigung jener stalinistischen Kaste, die, ohne im wissenschaftlichen Sinne eine besitzende Klasse zu sein, zehnfach die Laster aller besitzenden Klassen enthält.

Der stalinistische Terror, angeblich ein Mittel, die Klassenherrschaft zu beseitigen, ist in Wahrheit ein Mittel, das dieses Ziel beständig verfehlen muß, und insofern eben kein Mittel, das den Zweck heiligt, sondern ihn schändet...

Der bürokratische Terror ist im Gegensatz zum revolutionären hinterhältig, inquisitorisch und unehrlich. Er wendet sich mit größter Niedertracht gerade gegen jene, die sich weigern, in diesem Regime der Unterdrückung eine klassenlose sozialistische Gesellschaft zu sehen. Die Wahrheit ist der größte Feind der Bürokratie, aber sie kann auf die Dauer nicht mit terroristischen Methoden ausgerottet werden. Sie wird auch die stalinistische Geheimpolizei überleben.“

Das hat sie getan. Der 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Arbeiteraufstände in den Satellitenstaaten, jetzt die Charta 77, das Buch von Bahro, der Protest der 14 polnischen Kommunisten, die Entwicklung der Eurokommunisten bei all ihren Mängeln – all das bezeugt, daß ich mich nicht in allem geirrt habe, als ich drei Monate vor Stalins Tod den Niedergang des Stalinismus kommen sah. Dennoch, meine optimisti­sche Zeitrechnung, meinen Optimismus in bezug auf die Entwicklung der Linken in den sozialdemokratischen Parteien muß ich revidieren. Die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens reicht eben nicht aus, um historische Prozesse an ihr zu messen, obwohl sich der Gang der Geschichte erheblich beschleunigt hat. Das macht uns ungeduldig.

Was für den stalinistischen Terror gilt, trifft abgewandelt auch auf den individuellen Terror zu. Auch er verfehlt beständig den selbst angegebenen Zweck. Er führt nicht zur „Vernichtung des Klassenfeindes“, sondern hilft seine Herrschaft zu stabilisieren. Er fördert nicht das zurückgebliebene Bewußtsein der Massen, sondern er verwirrt es. Der individuelle Terrorist macht sich selbst zum Helden der Geschichte, anstatt die Klasse der Arbeitenden über ihre historische Aufgabe aufzuklären, sie ihr bewußt zu machen, damit sie selbst wieder als Held auf die Bühne der Geschichte tritt.

Noch zweimal wurde ich nach der Auseinandersetzung mit dem Stalinis­mus mit dem Problem der Gewalt konfrontiert. Das eine Mal – ich war damals Sozialreferent im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik in Paris – als der Aufstand in Algerien ausbrach. Mir war, nach allem, was ich von den Terrormaßnahmen, den Folterungen, den Razzien, den Bombar­dierungen in Algerien wußte, unbegreiflich, daß die „Front de Libération Nationale“ und das algerische Volk all dem standhielten und nicht zusam­menbrachen; daß die Algerische Befreiungsfront, die seit 1954 pausenlos einem gnadenlosen Terror ausgesetzt war, nicht aufgab. In einem Pariser Cafe stellte ich diese Frage der jungen, algerischen Schriftstellerin Assja Djebar. Sie antwortete: „Wenn ein algerischer Fellache für den FLN rekrutiert wird, erhält er zum ersten Mal in seinem Leben ein paar Schuhe und ein Gewehr. Damit wird er zum ersten Mal zu einem Menschen. Das Selbstbewußtsein, das er hierdurch gewinnt, das Gefühl, daß er für die Befreiung seines Volkes kämpft, jetzt kämpfen kann, läßt ihn alles ertragen bis zum Sieg.“

Viele Jahre später kam dieser Sieg, wenn auch wiederum nicht so, wie ihn viele erhofft und erwartet hatten: als Sieg des Sozialismus in Algerien. Aber dennoch: Algerien wurde frei.

Das zweite Mal trat mir die Gewalt in Chile entgegen, als ich zwei Monate nach dem Militärputsch für die Gewerkschaftszeitung Metall nach Chile ging. Ich fragte chilenische Gewerkschafter, ob man der Regierung Allende vorwerfen könne, sie habe die Verfassung verletzt, wie das damals ein großer Teil der bürgerlichen Presse in der Bundesrepublik behauptete. Sie antworteten:

„Wenn die Regierung Allende zugrunde gegangen ist, so höchstens darum, weil sie sich allzu sehr an die Verfassung gehalten hat. Wir, die Gewerk­schaften, wollten rechtzeitig der Sabotage der Unternehmer und dem Boykott der von ihnen aufgehetzten Lastwagenbesitzer und Ärzte entge­gentreten. Wir forderten, den Kampf gegen die Terroristen von >Patria e Libertad< aufzunehmen. Aber die Regierung Allende ließ im Parlament ein Gesetz verabschieden, das die Suche nach Waffen erleichterte. Gefun­den wurden seltsamerweise nur die spärlichen Waffen, die Arbeiter zu ihrem eigenen Schutz in den Betrieben hatten, während die Rechtsextremi­sten bis an die Zähne bewaffnet blieben. Als der Putsch der Junta begann, befahl man uns, die Betriebe zu besetzen. Wir haben es getan. In der Hoffnung, daß die christlich-demokratische Partei von Eduardo Frei uns gegen die putschenden Generäle ebenso unterstützen würde, wie wir ihn unterstützt hatten, als er an der Regierung war und General Viaux gegen ihn putschte. Aber er hat geglaubt, die Junta werde ihm nach ihrem Putsch die politische Macht überreichen. Sie denkt nicht daran. Wir aber waren in den Betrieben ohne Waffen, ohne Schutz, ohne die Möglichkeit, uns zu vertei­digen.

Es war falsch, daß die Regierung Allende die Armee in die Politik hineinge­zogen hat, daß sie immer weiter zurückwich. Sie hätte mehr Vertrauen zu uns, zu den Gewerkschaften, zu den in den Betrieben Beschäftigten haben müssen, die bereit waren zu kämpfen, die aber mit leeren Händen nicht kämpfen konnten...

Mancher von uns denkt heute: Hätte die Unidad Popular doch den Mut gehabt, zwei Dutzend Generäle und drei Dutzend Spekulanten so zu behandeln, wie man heute mit Tausenden von uns umgeht, dann hätte uns das viele Opfer und Qualen erspart.“

Ich fühlte mich wieder wie im Jahr 1933. Die politisch und militärisch unbewaffnete Gerechtigkeit hatte ihren Kampf gegen die waffenstarrende Ungerechtigkeit verloren.


4.


Aber aus welchen Quellen speist sich trotz aller Niederlagen meine Zuver­sicht in den Sieg des Sozialismus, den wir wollen? Die Befreiung Algeriens, Vietnams ist nur ein Teil der Antwort. Ein anderer Teil liegt in der Hoffnung, die jene vernichtete, in Gaskammern erstickte jüdische Arbeiter­klasse Osteuropas bis zum letzten Atemzug, bis in ihrem Todesgesang aufrecht erhalten hat.

Die Hymne des „Bund“ hatte in seltsam geheimnisvoller Weise einiges davon vorweggenommen, vorausgeahnt. In freier Übersetzung beginnt sie:

„Vielleicht bau ich in der Luft nur meine Schlösser.
Vielleicht ist mein Gott überhaupt nicht da.
Im Traum wirds leichter mir, im Traum wird es mir besser.
Im Traum ist der Himmel blau und völlig klar.“

Wer nicht im KZ ermordet, nicht in den Gaskammern umgebracht wurde, wer nicht in imperialistischen Kriegen gefallen ist, hat kein Recht dazu, den Kampf für den Sozialismus aufzugeben.

Lenin, der größte revolutionäre Realist war es, der sagte: „Der Mensch muß träumen können.“

Im Frühjahr 1978



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 396/397 (November/Dezember 2004).


[1] Moshe Dayan war später einer der einflussreichsten Militärs und Politiker bei der (militärischen) Durchsetzung des Staates Israel. Er war Mitglied der Mapai und der Haganah, später der Rafi („Arbeiterliste“) und ab ihrer Gründung 1968 der „Israelischen Arbeitspartei“; von 1953–58 Generalstabschef, leitete den Sinaifeldzug; 1959–64 Landwirtschaftsminister, 1968–74 Verteidigungsminister, 1977–79 Außenminister. Anmerkung der Redaktion.