Brasilien

Eine neue sozialistische Partei

Correio da Cidadania

Die GründerInnen der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) verdienen den Respekt der Nation. Es sind seriöse, mutige politische AktivistInnen, die es ablehnen, den Rechtsrutsch der Arbeiterpartei (PT) mitzumachen. Trotz des Respekts, den wir ihnen zollen, scheint uns, dass sie politisch die falsche Entscheidung getroffen haben.

Die Parteifrage in Zeiten der Lula-Regierung

Die kürzlich erfolgte Gründung einer neuen sozialistischen Partei in Brasilien – der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) – durch DissidentInnen der Arbeiterpartei (PT) und der Vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU) hat in der brasilianischen Linken eine heftige Diskussion über die Möglichkeiten und die Richtigkeit des Entscheids, erneut eine Partei aufzubauen, ausgelöst.

Wir veröffentlichen verschiedene Standpunkte dazu. Zuerst eine Reportage über die Gründungsversammlung der neuen Partei in Form eines Interviews mit unserer im Dezember letzten Jahres aus der PT ausgeschlossenen Genossin Heloísa Helena (vgl. Inprekorr 386/387, S. 3), Senatorin des Bundesstaates Alagoas und Mitglied der Tendenz Sozialistische Demokratie, die zur Zeit den Vorsitz der PSoL inne hat.
Die anderen drei Artikel kritisieren diesen Schritt aus verschiedenen Blickwinkeln. Der erste Artikel stammt von einem führenden Genossen der Strömung Linker Zusammenschluss in der PT, der zweite ist das Editorial einer von Linkskatholiken herausgegebenen Wochenzeitung und der dritte ein Beitrag aus der Monatszeitung der Tendenz Sozialistische Demokratie in der PT, in der die GenossInnen der Vierten Internationale organisiert sind. (inprecor)
 

Das offenkundige Abdriften der ideologischen Haltung der PT und die Nutzlosigkeit des Versuchs, angesichts der monolithischen Mehrheit, die sich rund um eine regelrechte politische Wahlmaschinerie etabliert hat, in den Parteistrukturen für eine Kurskorrektur zu kämpfen, reichen als Grund noch nicht aus, um in Brasilien eine neue sozialistische Partei zu gründen. Es gibt eine vorrangigere Aufgabe, die unter dem überstürzten Versuch leiden wird, die Partei zu legalisieren, um an den Wahlen teilnehmen zu können.

Bevor eine neue Partei lanciert wird, müssten die Ursachen für das Abdriften der PT genau analysiert werden. Diese Auseinandersetzung wird lang und schmerzhaft sein, die nicht nur die Bereitschaft zu einer intellektuellen Analyse, sondern auch den Willen zum Ausprobieren neuer politischer Aktionsformen voraussetzt, wenn man nicht Gefahr laufen will, dieselben Fehler zu reproduzieren, die die PT in die gegenwärtige Situation geführt haben. Es ist eine Sache, diese Fragen zu diskutieren, ohne unter dem Druck zu stehen, ein politisches Programm verfassen und Wahltermine einhalten zu müssen, die von Gegnern des Sozialismus festgelegt wurden. Eine andere Sache ist es, dies unter den Zwängen zu tun, die solche Termine mit sich bringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Beteiligung von SozialistInnen in den bürgerlichen Institutionen einen Widerspruch darstellt, der sich erst auflösen lässt, wenn der Sozialismus den Kapitalismus als Organisationsform für Wirtschaft und Gesellschaft abgelöst haben wird. Bis dorthin wird es für die Beteiligung von SozialistInnen an der institutionellen bürgerlichen Politik nur vorübergehende Teillösungen geben, die von den konkreten Umständen abhängen werden.

Die PT, die kurz nach dem Scheitern der Strategie des bewaffneten Kampfes gegründet wurde, hat eine Strategie des institutionellen Kampfs eingeschlagen, der auf zwei Stützen beruhte: der Wahlbeteiligung und dem direkten Druck der Massen, der sich oft am Rande der Legalität bewegte. Diese Strategie ist aus verschiedenen Gründen gescheitert. Seither hat sich die Ausgangslage, die dieser Strategie zugrunde lag, aufgrund der Veränderungen, die der Kapitalismus in Brasilien und in der Welt vollzogen hat, grundlegend geändert.

Unter diesen Umständen scheint es uns unvorsichtig, alles von vorne beginnen zu wollen, ohne zuvor in einer breiten nationalen Diskussion mit den betroffenen sozialen Kräften darüber zu diskutieren, wie dem brasilianischen Volk ein neuer sozialistischer Vorschlag vorgelegt werden kann.

Mit dieser Kritik wollen wir die PSoL nicht abschießen oder die solidarische Diskussion blockieren, die die SozialistInnen untereinander führen müssen, wenn sie sich gemeinsam der tiefen Krise stellen wollen, die das Land bedroht. Wir erkennen im Gegenteil die Reinheit der Motive der GründerInnen dieser Partei an, deren Ziel es ist, den Dialog zu eröffnen, um einen neuen Zusammenschluss zu bilden. Selbstverständlich stehen die Spalten des Correio gegenteiligen Meinungen offen.

Editorial der Wochenzeitung Correio da Cidadania Nr. 402 (19.–26. Juni 2004). Diese von Linkskatholiken herausgegebene Zeitschrift steht den radikalen sozialen Bewegungen in Brasilien sehr nahe.
Übernommen aus Inprecor América Latina, elektronische Publikation der Vierten Internationale für Lateinamerika und die Karibik <inprecor.americalatina@uol.com.br>.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 396/397 (November/Dezember 2004).