EU

Ein Europa der imperialistischen Geldsäcke?

Das Verfassungsprojekt erhebt das neoliberale Dogma in den Rang eines Grundgesetzes und fordert die Arbeitenden und die europäischen Völker heraus.

G. Buster

Der europäische Konvent hat nach Beendigung seiner Arbeiten den europäischen Regierungschefs, die sich zu ihrem Gipfel in Thessaloniki getroffen hatten, seinen Entwurf für eine europäische Verfassung übergeben. Trotz aller Inszenierung bei jenem Treffen zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa, das wegen des Irak-Krieges gespalten war, sollen die Diskussionen auf der nächsten Konferenz der Regierungschefs weitergehen, zu der Berlusconi für Anfang Oktober nach Rom eingeladen hat.

Wie im Zeitraum 1989-1991 befindet sich die EU wieder einmal an einem Scheideweg. Damals hatte der Zusammenbruch der „Volksdemokratien“ Osteuropas und der UdSSR, der erste Golf-Krieg und der Krieg auf dem Balkan die herrschenden Klassen Europas dazu geführt, mit dem Maastrichter Vertrag, der Wirtschafts- und Währungsunion und der Aussicht auf eine Erweiterung der Union nach Osten einen qualitativen Schritt voranzukommen. Heute drängen sie die Attentate vom 11. September, der zweite Golfkrieg, die Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz im Rahmen einer doppelten Rezession und die Auswirkungen der Erweiterung dazu, einen neuen Schritt in der Errichtung eines supranationalen Staatsapparates, der in der Lage ist, die Interessen der europäischen Bourgeoisien zu artikulieren und zu verteidigen, zu machen.

Um den Herausforderungen auf wirtschaftlichem, militärischen und diplomatischen Gebiet gewachsen zu sein, muss die EU wesentliche Funktionen eines Staates übernehmen, zumindest soweit sie der Konkurrenz durch die USA und Japan ausgesetzt ist, und sich mit einer Legitimität und einer Unterstützung durch die Bevölkerung versehen, die bislang fast nicht vorhanden sind. Hieraus ergibt sich das Bedürfnis nach einer europäischen Verfassung. In den liberalen Demokratien ist die Verfassung das grundlegende Gesetzesdokument, welches die Legitimität des Staates gegenüber den BürgerInnen begründet. Sie setzt die Existenz eines gesellschaftlichen Paktes für das Gemeinwohl voraus, in dessen Namen der Staat die vom Volk verliehene Souveränität im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Grenzen ausübt. Jenseits dieses Mythos stößt man auf die Machtverteilung zwischen den herrschenden Klassen, die mittels der legislativen, exekutiven und judikativen Institutionen ihre Interessen verteidigen. Das Kostüm der Verfassung – die politische Gleichheit der BürgerInnen – versteckt die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten des kapitalistischen Marktes. Um diese Fiktion aufrecht erhalten zu können, ist der Staat von der Zivilgesellschaft getrennt und stellt sich auf dem Sockel der Verfassung über sie.

Schon die Tatsache, dass jenes grundlegende juristische Dokument der neuen Legitimität der Union als Verfassung hingestellt wird – und nicht als diplomatischer Vertrag zwischen den Regierungen – bezeugt die politischen Ambitionen der herrschenden Klassen, auf der Grundlage der EU ein machtvolles Europa zu schaffen, wie auch den verstärkten Legitimitätsdruck zu seiner Unterstützung. Aber auch diesmal können Wortspiele die wahre Natur jenes Dokumentes nicht verdecken, welches keineswegs aus dem souveränen Willen der Völker entstanden ist, sondern aus einer Entscheidung der Regierungen der EU.

In reinster liberal-konservativer Tradition wird die Konferenz der Regierungschefs auf der Grundlage eines Entwurfs, der von einem Komitee ausgearbeitet wurde, an dem ParlamentarierInnen der Mitgliedsstaaten und des EU-Parlaments, direkte VertreterInnen der Regierungen und der Kommission beteiligt waren, die trotz des wohlklingenden Namens „Konvent“ über keinerlei Mandat der Völker verfügten, ihre Arbeit vollführen. Selbst wenn die Verfassung in der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten einem Referendum unterworfen wird (das aber nur in Dänemark und Irland vorgeschrieben ist), so wird sie eine über ein Regierungsabkommen aufoktroyierte Charta sein, in der der Staat (in diesem Fall die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten) die Interessen seiner Untergebenen interpretiert und ihnen einige Rechte zubilligt, wobei er sein eigenes Aktionsfeld großzügig absteckt.


DIE URSPRÜNGE DER DISKUSSION UM EINE EUROPÄISCHE VERFASSUNG


Die föderalistischen politischen Anwandlungen der Gründungsväter der europäischen Gemeinschaften wie Schuman, Monnet, Spaak, de Gasperi usw. wurden schnell den politischen Realitäten des Kalten Krieges untergeordnet und machten bei der europäischen Einigung nach dem zweiten Weltkrieg rasch der sogenannten „Gemeinschaftsmethode“ Platz. Dabei handelte es sich um eine funktionale und graduelle Art und Weise, gemeinsame institutionelle Antworten zu finden, als es darum ging, die Märkte zu regulieren, weil die Expansion der Produktivkräfte die bestehenden Grenzen im Nachkriegseuropa überschritt. Diese Situation hielt bei einigen Fortschritten (vor allem in der Zeit der von Delors geführten Kommission) bis zum Maastrichter Vertrag an. Aber die Ausweitung der Union auf 25 Mitgliedsstaaten, die Einführung des Euro und die Notwendigkeit, in der neuen internationalen Lage seit Ende der neunziger Jahre eine militärische Kapazität aufzubauen, hat den europäischen Gipfel in Nizza im Dezember 2000 dazu gebracht, über die Aufteilung der Aufgaben im Rahmen der Gemeinschaftseinrichtungen zwischen den Mitgliedsstaaten zu diskutieren und die Debatte über die Zukunft der Union zu eröffnen.

In den Augen der europäischen Bourgeoise konnten die politischen Umstände damals nicht ungünstiger sein. Sie zeigten das „demokratische Defizit“ der Union in grellem Licht. In Dänemark hatte bei der Abstimmung über den Amsterdamer Vertrag das Nein obsiegt, gleiches galt für das irische Referendum über den Vertrag von Nizza. Die Höhe der Wahlenthaltungen bei den Europawahlen 1999 lag im Schnitt bei 50,2 Prozent; in Britannien lag sie jedoch bei 76,7% und in den Niederlanden bei 70%. Die äußeren Umstände waren kaum besser: Der Euro fiel gegenüber dem Dollar immer weiter zurück und auf dem Balkan klagte die EU über ihre militärische Unterordnung unter die USA.

Aus diesen Gründen hat die in Nizza eröffnete Diskussion um die Zukunft der Union, trotz anfänglicher Geplänkel über die Frage, ob der Aufbau Europas dem föderalen oder konföderalen (mittels Vereinbarungen der Regierungen) Modell folgen sollte, schnell zu einem Konsens geführt, der sehr weitgehend von Jacques Delors vorgeprägt worden war: Die Ausweitung verlangte nach einer Differenzierung zwischen dem „europäischen Raum“ wie er aus der Ausdehnung des gemeinsamen Marktes entstand, und der „europäischen Macht“, die in jenem Rahmen von denjenigen Mitgliedsstaaten errichtet wurde, die in der Lage waren, zu einer „verstärkten Kooperation“ fortzuschreiten, die den Weg zu einem „gemeinsamen Gesellschaftsmodell“ freimachen sollte, welches allen Mitgliedsländern der Union offen stehen sollte. Dabei ging es nicht um eine Union à la carte mit einer asymmetrischen und variablen Integration, wie sie sich Britannien und Dänemark vorstellen, sondern um ein Einheitsmodell, wenn auch der Beitritt dazu unterschiedlich geregelt sein konnte; jedenfalls bestimmte es über das Zentrum und die Peripherie der Union.

Dieses Schema verlangte klar danach, das „Modell“ zu bestimmen, also die konstituierenden Regeln der „verstärkten Zusammenarbeit“, die Entscheidungsfindung auf den unterschiedlichen Ebenen der „europäischen Macht“ und des „europäischen Raumes“ und schließlich die gemeinsamen Regulierungsmechanismen sowie die Garantien für alle Mitgliedsstaaten. Delors Vorschlag, der im Innern der Kommission von wichtigen Teilen der Bürokratie und von Außen von dem grünen Außenminister Joschka Fischer unterstützt wurde, orientierte auf eine „Föderation der Mitgliedsstaaten“ mit einer starken Rolle der Kommission, deren Kompetenzen im Hinblick auf den Binnenmarkt gestärkt werden sollten, die aber strategisch dem Ministerrat untergeordnet blieb, von dem die Entwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik abhängen sollte, für die man Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen finden wollte.

Die von Prodi geführte Kommission schlug ihrerseits vor, die Diskussion um die Verfassung in drei Etappen zu führen: 1. sollte es eine „Periode offener Reflexion“ geben; 2. eine „strukturierte Reflexion“ mit Einberufung eines konsultativen Konvents, der einen Verfassungsentwurf vorbereiten sollte, wobei er sich von der Diskussionsmethode inspirieren lassen sollte, die bereits bei der Abfassung der Grundrechte-Charta zur Anwendung gelangt und die schließlich auf dem Gipfel in Nizza angenommen worden war; 3. eine endgültige Diskussion auf einer Konferenz der Regierungschefs im Jahr 2004.

Die erste Etappe glänzte durch Abwesenheit, obwohl die Kommission viel Geld dafür ausgab, denn die Regierungen der Mitgliedsstaaten wollten nicht, dass die Diskussion über die Zirkel der Bürokratie und der Experten hinausginge. Die fehlenden Diskussion und ihre Blockierung durch die Mitgliedsstaaten und die Erfahrung der Abfassung der Grundrechte-Charta brachten die belgische Präsidentschaft dazu, eine „Kommission der Weisen“ einzurichten, die aus Delors, Dehaene, Amato und Geremek bestand, und die in der „Erklärung von Laeken“, die im Dezember 2001 vom europäischen Gipfel bestätigt wurde, das Funktionieren des Konventes festlegen sollte.


DER KONVENT 2002-2003


Die zweite Etappe wurde durch die Errichtung eines Konventes konkretisiert, der – wiewohl sein Name revolutionäre Ursprünge hat – über keinerlei Repräsentativität verfügte. Es handelte sich um eine Reihe von Arbeitskommissionen und ein Plenum, welches von 105 Parlamentariern des europäischen und der nationalen Parlamente, von Vertretern der Regierungen der 25 Mitgliedsländer und der Europäischen Kommission, sowie von 102 Ersatzmitgliedern, die alle nach nicht nachvollziehbaren Regeln aufgestellt wurden, zusammengesetzt war. Der Vorsitz war einer alten Ikone der französischen Rechten, dem früheren Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing zugeschanzt worden, der von Dehaene und Amato unterstützt wurde. Von Beginn an wurden die Diskussionen im Präsidium von der VertreterInnen der Regierungen und Giscard dominiert, der das eigenartige Verfahren durchsetzte, im Konvent niemals abstimmen zu lassen und den jeweils erreichten Konsens zu interpretieren.

Obwohl der Konvent seine Arbeiten in zehn Gruppen organisierte, hatten acht Monate später, im Oktober 2002, erst zwei von ihnen ihre Berichte fertig und die Aufgabe schien unlösbar. Doch das Präsidium arbeitete seit Juli diskret an dem, was Giscard das „Skelett“ nannte und am 28. Oktober verteilt wurde. Jenes Dokument bestimmte die Struktur der Institutionen und der Verfassung, markierte die allgemeinen Linien des Handelns und Vorgehens und die allgemeinen Klauseln der Anwendung, der Ratifizierung und der Veränderung des Verfassungsvertrages.

Von diesem Moment an änderte sich die Dynamik des Konventes. Trotz ihrer anfänglichen Vorwürfe gegen Ana de Palacio, der spanischen Außenministerin, der man ursprünglich vorgeworfen hatte, ihre Aufgabe und ihren Posten zu verhöhnen, weil sie dem Konvent beigetreten war, schickten nun Deutschland und Frankreich ebenfalls ihre Außenminister Fischer und Villepin dorthin. Auch bei den Vertretern der Niederlande, Portugals und Irlands gab es bedeutsame Veränderungen.

Giscards Vorschlag enthielt eine deutliche Referenz an die „föderale Ausführung gewisser gemeinsamer Kompetenzen“. Er ließ auch eine eventuelle Namensänderung der Union offen. Er nahm den Text der Charta der Grundrechte auf, obwohl es dazu auf dem Gipfel von Nizza Einwendungen gegeben hatte. Er grenzte die drei Kompetenzbereiche (der Union, der Staaten und die gemischten) ab, jedoch im Rahmen eines einheitlichen institutionellen Systems, der den drei „traditionellen Pfeilern“, wie sie noch im Maastricht-Vertrag stehen, ein Ende setzte. Er gab dem Europäischen Parlament die Möglichkeit, die Kommission zu überstimmen und brachte einen Kongress der Völker Europas ein – eine Versammlung von Repräsentanten der nationalen Parlamente. Er enthielt bereits auch die zentralen Elemente einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, darunter den Stabilitätspakt und die Autonomie der europäischen Zentralbank. Jedoch ging er nicht auf die wichtige Diskussion um die Stimmenverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten ein, wie sie auf dem Gipfel in Nizza beschieden worden war, noch auf die Frage der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Anfang Dezember veröffentlichte die (europäische) Kommission ihren eigenen Vorschlag, oder genauer gesagt ihre Vorschläge. Denn zu ihrer großen Verwunderung, aber auch der von außenstehenden BeobachterInnen gab es neben einem mit „Frieden, Freiheit, Solidarität“ überschriebenen Text auch einen weiteren, der Zeitung Le Monde zugespielten Entwurf, der auf Bitten von Prodi von einer Gruppe hoher Funktionäre, die Delors anhängen, verfasst und von Fran_ois Lamoureux koordiniert worden war und von den Delors zugeneigten KommissarInnen Lamy, Busquen, Schreyer und Damantopoulou unterstützt wurde. Dieser Entwurf geriet erheblich föderaler; er wurde „Penelope“-Entwurf genannt.

Tatsächlich hatte Prodi Giscard einige Tage zuvor eine Kopie von „Penelope“ übergeben, was Giscard wohl als offizielle Sichtweise der Kommission verstand. Doch auf der nächsten Sitzung der Kommission setzte sich Kinnock an die Spitze der Kritiker von Prodi und forderte die sofortige Richtigstellung. Prodi musste dem Parlament und dem Konvent also die offizielle Sprachregelung darstellen. Giscard machte sich diese Angelegenheit zunutze, um die „Deloristen“ zu demütigen, indem er verkündete, die Präambel von „Penelope“, die vom Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl inspiriert war und dem Föderalismus der Gründerväter huldigte, sei ein alter Hut ohne Bedeutung für die Gegenwart und Nutzen für die Zukunft. Die offizielle Sichtweise der Kommission ignorierte Giscard einfach.

Auch wenn im inneren Machtspiel im Konvent Giscard einige Punkte machte, so sollte ein Teil der Vorschläge des offiziellen Kommissions-Berichtes und von „Penelope“ von den kleinen gegen die großen Mitgliedsstaaten aufgegriffen werden, aber auch von Gruppen mit föderalistischeren Ansichten. Die Kommission war gegen die Wahl eines länger amtierenden Präsidenten des Rates; sie wollte die gemeinschaftlichen Kompetenzen auf alle Bereiche, darunter auch die Außenund Sicherheitspolitik durch die Ernennung eines Außenministers der Gemeinschaft erweitern, sowie die doppelte einfache Mehrheit (der Länder und der Bevölkerungen) und die Mitbestimmung des Europäischen Parlamentes und des Ministerrates in den üblichen Mechanismus des zukünftigen Funktionierens der Union umwandeln.

Doch die Mitgliedsstaaten griffen rasch ein, um in dieser politischen Diskussion die politische Initiative zu übernehmen. Blair machte seine Haltung am 28. November auf einer Konferenz in Cardiff bekannt. Seine Sicht der Zukunft der Union griff weitgehend auf ein von Alan Dashwood, Professor in Cambridge ausgearbeitetes Konzept eines Vertrages zwischen den Regierungen zurück. Es beruhte auf einem doppelten Gleichgewicht zwischen der Macht des Ministerrates und der Kommission, mit einer doppelten und unterschiedlichen Legitimität und Verantwortlichkeit („accountability“). Er könnte die Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Europäische Parlament statt seiner Bestimmung durch den Rat hinnehmen, sofern diese Wahl „den politischen Kämpfen entzogen bliebe, die ihn zum Gefangenen der Mehrheit im Parlament“ machen würden. In anderen Worten, er müsste mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Im Gegensatz dazu sollte laut Blair der Ratspräsident stabil sein, man sollte also die turnusmäßige Rotation alle sechs Monate zwischen den Mitgliedsstaaten beenden. Dazu sollte der Präsident für einen Zeitraum von mehreren Jahren aus den früheren Ratspräsidenten gewählt und von Vorsitzenden der verschiedenen Bereiche unterstützt werden, die sich auch in den Händen der großen Staaten befinden. Dieser Vorschlag lief auf eine Art „Direktorium“ der großen Mitgliedsstaaten hinaus, deren „verstärkte Zusammenarbeit“ damit auch noch institutionell legitimiert werden sollte. Dieser Vorschlag wurde anfänglich auch von Aznar und Chirac unterstützt.

Die kleinen Mitgliedsländer unter Führung von Holland, Belgien und Luxemburg haben im Dezember ihre Vorschläge veröffentlicht, in denen die Angst enthalten war, dass die Kommission (die traditioneller Weise ihre Rechte beschützte) in dieser Diskussion an den Rand gedrängt werden könnte. „Die Union braucht starke Gemeinschaftsinstitutionen, mit einer Ausweitung der gemeinschaftlichen Methode und einer Stärkung ihrer Institutionen, die die gemeinsamen Interessen vertreten“, konnte man da lesen. Für diese Staatengruppe musste der Präsident der Kommission vom Parlament mit einer Mehrheit von zwei Dritteln gewählt und vom Ministerrat bestätigt werden, also in einem gerade umgekehrten Verfahren wie heute. Gleichzeitig wandten sie sich entschlossen gegen die Wahl eines Präsidenten des Rates, was der heutigen Praxis der Rotation ein Ende setzen würde.

Diese Debatte wurde in großen Teilen durch die Ergebnisse des deutschfanzösischen Gipfels beschlossen, der anlässlich des vierzigsten Jahrestages des Freundschaftsvertrages zwischen den beiden Ländern (Elysée-Vertrag) Mitte Januar 2003 stattfand. Chirac und Schröder betonten die Bedeutung der Achse Berlin-Paris als eigentlicher Motor der EU und stellten ein Schema für die Verfassung auf, welches sich schließlich durchsetzte. Deutschland akzeptierte die Idee, wonach es in Zukunft einen für zweieinhalb Jahre gewählten Ratspräsidenten geben sollte und Frankreich, dass der Kommissionspräsident zukünftig durch das europäische Parlament gewählt würde. Der Außenminister der Union sollte gemäß diesem Schema vom Rat bestimmt werden, sollte jedoch gleichzeitig Vizepräsident der Kommission sein und sollte in ihrem Rahmen arbeiten, soweit Kompetenzen der Gemeinschaft betroffen wären; darüber hinaus sollte er sich um die Außen- und Sicherheitspolitik kümmern, die jedoch im Entscheidungsbereich der Regierungen verblieben. Der Verfassungsvertrag sollte auch die Möglichkeit von „asymmetrischen Kooperationen“ einschließen, die Bereiche gemeinsamer Entscheidungsbefugnis zwischen Parlament und Rat sollten ausgeweitet werden und vor allem wurde die Notwendigkeit einer europäischen „Solidaritätsklausel“ gegen den Terrorismus unabhängig von der NATO und die einer europäischen Militärstreitmacht mit weltweiten Eingreifmöglichkeiten betont.


LETZTE DISKUSSIONEN UND DURCHGESETZTER KONSENS


Die Übereinstimmung zwischen Deutschland und Frankreich veränderte die Diskussion im Konvent und machte eine ganze Reihe von Vorschlägen überflüssig, etwa den von Giscard nach einem Kongress der Völker. Trotz der Bedeutung der institutionellen Fragen setzte der Konvent keine weiteren Arbeitsgruppen mehr ein und die vorbereitenden Diskussionen wurden auf das Präsidium beschränkt.

Am 22. April 2003 verteilte Giscard sein Projekt mit 15 Artikeln über die Institutionen, das zu einer Union mit einem aus dem Europäischen Rat kommenden „Direktorium“ mit einem auf längere Zeit gewählten Präsidenten führen würde, „der höchsten Autorität in der Union“, der über dem Ministerrat, dem Parlament und der Kommission stehen würde. Dieses Direktorium sollte sich viermal jährlich treffen und der Ratspräsident von einem Vizepräsidenten und zwei Regierungschefs, die nach einer jährlich stattfindenden Rotation gewählt würden, unterstützt werden; hinzu kämen der Außenminister der Union sowie die Präsidenten des ECOFIN (Rat der Wirtschafts- und Finanzminister) und des Rates der Justiz- und Innenminister. Der nun mit dieser dauerhaften Struktur ausgestattete Europäische Rat würde sich in eine authentische europäische Regierung verwandeln, der die Kommission untergeordnet wäre, auch weil ihre Legitimität aus dem Parlament kommt. Der Ministerrat würde so sowohl legislative wie exekutive Funktionen behalten. Somit integrierten Giscards Vorschläge in die deutsch-französischen Vorschläge die britische Sicht eines parallelen institutionellen Systems mit einer doppelten und gegensätzlichen Legitimität. Das Projekt von Giscard schloss außerdem eine Ausweitung des Prinzips der doppelten Mehrheit (der Mitgliedsstaaten und Bevölkerungen) als übliche Methode der Entscheidungsfindung in der Union ein, wodurch es mit der komplexen Macht- und Stimmenverteilung brach, um zu eine qualifizierten Mehrheit und zu Minderheiten, die blockieren konnten, wie sie auf dem europäischen Gipfel in Nizza beschlossen worden waren, zu kommen.

In der Vollversammlung des Konventes am 30. und 31. Mai sah sich Giscard einer deutlichen Verweigerungsfront gegenüber, die von der Vertretern der spanischen und dänischen Regierung (Dastis und Christopherson) gestellt wurde, und die aus ganz unterschiedlichen Interessenlagen von Großbritannien, Polen, Österreich, Irland, Litauen und Zypern unterstützt wurde. Diese Front verlangte die genaue Beachtung der Nizzaer Beschlüsse über die Institutionen. Indem sie das Funktionieren des Präsidiums blockierte, zwang diese Ablehnungsfront mit Unterstützung von Dehaene und Amato Giscard, seinen eigenen Bündnisblock zu schmieden und Großbritannien voll in den deutsch-französischen Konsens zu integrieren; dazu musste er alle „roten Linien“ seines Vertreters Peter Hain schlucken: Die Steuer- und Sicherheitskompetenzen sollten in nationaler Hand verbleiben und die Versuche zu ihrer Harmonisierung abgeblasen werden; die Idee eines legislativen Funktionierens des Rates auf der Grundlage einer doppelten Mehrheit wurde aufgegeben und sein Charakter als Organ zwischen den Regierungen gewahrt; kein Aspekt der Außen- und Sicherheitspolitik soll nun auf die Gemeinschaft übertragen werden; schließlich soll der Text der Europäischen Grundrechtecharta nur aufgenommen werden, wenn ein Erklärungskapitel eingefügt wird, in dem der Vorrang der nationalen Rechtsprechung in diesen Bereichen festgelegt und jede Ausweitung von sozialen Rechten mittels Gesetze der Gemeinschaft verhindert würde.

Die folgenden Schritte bestanden nun darin, um die Zustimmung der kleineren Staaten und der Kommission selbst zu werben, indem nach einem neuen Gleichgewicht in der Aufteilung der nationalen und institutionellen Kompetenzen gesucht wurde. So soll das Parlament zwar aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, jedoch nicht nach dem Kriterium der Bevölkerungszahl besetzt sein, sondern dem einer „abnehmenden Proportionalität“, damit die kleinen Staaten begünstigt würden. So würde die Zahl der Abgeordneten von den 700 des ersten Vorschlages auf 736 ansteigen. Diese Parlament würde dann den Kommissionspräsidenten nicht mit qualifizierter, sondern mit einfacher Mehrheit wählen. Jener würde wiederum aus den Vorschlägen der Mitgliedsländer nach dem Rotationsprinzip drei Kommissare aussuchen und den Außenminister „akzeptieren“, der vom europäischen Rat gewählt würde, wobei die so bestimmte Europäische Kommission noch der Vertrauensabstimmung des Parlamentes unterläge. Der Europäische Rat wäre kein Rivale der Kommission, die über keine permanente Struktur mehr verfügte, jedoch einen Präsidenten hätte, der nach der Prozedur der doppelten qualifizierten Mehrheit gewählt wäre, also eine Mehrheit von zwei Dritteln der Staaten und drei Fünfteln der Bevölkerung hinter sich hätte.

Dank dieser Zugeständnisse und mittels der Unterstützung der großen Staaten und der drei größten im Europäischen Parlament vertreten Gruppen konnte Giscard im Verlauf der beiden ersten Juni-Wochen die Verweigerungsfront auflösen, ohne jedoch in der Frage der Revision der Nizzaer Verträge Zugeständnisse zu machen; Spanien und Polen wurden dabei völlig isoliert. Der „Konsens“ wurde schließlich am 13. Juni 2003 durchgesetzt, wobei man sich mit Champagner zuprostete und die „Ode an die Freude“ von Beethoven erklang.

"Da ihr ja, ohne darauf einzugehen, was dem Recht und der Vernunft entspricht, wollt, dass wir davon reden, was unter den gegenwärtigen Umständen zu unserem Besten zu tun ist, so ist es nur gerecht und vernünftig, dass wir erhalten wollen, was unser gemeinsames Gut ist, nämlich unsere Freiheit."
(Thukydides, Der Peloponnesische Krieg)
 

Am 19. und 20. Juni akzeptierte der Europäische Rat (der Regierungschefs) das Projekt des Konventes als „gute Basis“ für die Regierungskonferenz. Er bedankte sich bei Giscard, Dehaene und Amato und allen Mitgliedern und Ersatzmitgliedern für ihre Arbeit und dafür, die Nützlichkeit des Konvents als „Forum des demokratischen Dialogs“ bewiesen zu haben – welche Ironie.


DAS RESULTAT: EIN NEOLIBERALER VERFASSUNGSVERTRAG FÜR EINE EUROPÄISCHE MACHT


Das vom Konvent vorgelegte Projekt löst mitnichten das „demokratische Defizit“, das die Europäische Union seit ihrer Gründung begleitet; nein, es verschärft jenes noch. Sofern es die Grundrechtecharta [1] aufnimmt, so begrenzt es diese Rechte unter Abschnitt VII auf die in Europa angenommenen Gesetze und bestimmt, dass jene keinesfalls den Vorrang der auf nationaler Ebene bestehenden Gesetze brechen. Diese von der Blair-Regierung durchgesetzte „rote Linie“ liegt als Hypothek auf jedem zukünftigen Versuch, die weitest gehendsten demokratischen und sozialen Rechte der fortschrittlichsten Mitgliedsstaaten auf die Ebene der Gemeinschaft auszuweiten. Die EU wird auch weiterhin hinsichtlich der Rechte und Freiheiten asymmetrisch ausgebaut sein. Es ist kein Zufall, dass der Begriff „Föderation“ schon in den ersten Sitzungen des Konventes aus dem Artikel 1 verschwunden ist. Der Bezug auf den Willen „der Bürger und der Staaten“ des Artikel I-1-1 kann nicht verbergen, dass sich die Kompetenzen der Union aus der „Zuteilung“ durch die Mitgliedsstaaten ergeben, weil nur sie im Konstitutionsprozess über solche verfügen (Artikel I-9-2). Der Bezug auf iz3w .Zeitschrift zwischen Nord und Süd die „Völker“ Europas, wie er im ersten vom Konvent geprüften Vorschlag noch auftauchte, ist aus der Schlussversion verschwunden; damit verschwand auch jegliche Möglichkeit, das Recht auf Selbstbestimmung anzuerkennen, wie es in der Charta der Vereinten Nationen und anderen grundlegenden Texten des Völkerrechts auftaucht. Man erkennt den BürgerInnen noch nicht einmal das Recht zu, im Rahmen der EU frei über ihre Identität zu entscheiden, denn der Artikel I-8-1 bestimmt ohne Wahlmöglichkeit eine doppelte „Nationalität“ der gegenwärtigen Mitgliedsstaaten und der Union.

Das Verfassungsprojekt des Konvents bestimmt auf klare Weise die Funktionen der Mitgliedsstaaten, reduziert aber ihre Verpflichtungen gegenüber den BürgerInnen auf die Grundelemente der liberalen Konzeption: Aufrechterhaltung des Gesetzes und der Ordnung, innere Sicherheit und Verteidigung des Staatsgebietes (Art. I-5-1). Jeder Bezug auf das „europäische Sozialmodell“ oder die „fortgeschrittene soziale Demokratie“ -– wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Konsequenz des Widerstandes gegen den Faschismus in vielen Verfassungen auftauchten --, die in der ersten Fassung aufgrund des Drucks des Europäischen Gewerkschaftsbundes noch enthalten waren, wurden durch das Veto des europäischen Unternehmerverbandes (UNICE), der forderte, diese müssten durch eine „hohe Wettbewerbsfähigkeit“ bestimmt sein, entstellt.

In der Tat möchte das Verfassungsprojekt das ganze Programm der neoliberalen Konter-Reformen, welches im Namen des „Geistes von Lissabon“ verkündet wurde und gegen das Hunderttausende von Menschen und GewerkschafterInnen in ganz Europa protestiert haben, die globale Gerechtigkeit forderten, zum Gesetz machen. Der Artikel I-3-2 spricht von einem einheitlichen Markt, in dem „freie und unverzerrte Konkurrenz“ herrschen soll; Artikel I-3-4 garantiert den Freihandel; Artikel I-4-1 den freien Personenverkehr, vor allem aber den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und die freie Gründung von Unternehmen. Während Artikel I-11-3 der Kommission Kompetenzen zuspricht, die Wirtschaftspolitik zu koordinieren und zu befördern, verfügt sie in der Sozialpolitik über wenig Möglichkeiten, denn dort verbleiben die Kompetenzen bei den Mitgliedsländern und ihrem guten Willen, etwas zu tun. Der Artikel I-29-3 gewährt der Europäischen Zentralbank absolute Autonomie bei der Durchführung ihrer Währungspolitik, die so von den BürgerInnen überhaupt nicht kontrolliert werden kann; der Artikel I-53-2 stellt das Gesetz des ausgeglichenen Haushalts und des Null-Fehl-Budgets auf, weil er der EU untersagt, sich in irgendeiner Form zu verschulden, wobei der Umfang des europäischen Haushalts ohne Mitwirkung des Europäischen Parlaments von den Mitgliedsländern festgelegt wird.

Durch strikte Beibehaltung der Kompetenzen der Mitgliedsländer in der Außen- und Verteidigungspolitik der Union führt das Verfassungsprojekt des Konvents die EU in die „bewaffnete Globalisierung“ ein. Außerdem unterwirft es mittels der NATO (Art. I-40-2) die Außen- und Verteidigungspolitik der EU der Hegemonie der USA. Es schafft eine europäische Armee mit „operationellen Fähigkeiten“ im Einklang mit den „Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“. Doch jene Prinzipien wurden von Bush, Blair und Aznar angeführt, um ihren Angriff auf den Irak der rechtfertigen, der den Artikel 51 jener Charta verletzte, der auf eindeutige Weise die allgemeine Kompetenz und den Vorrang des Sicherheitsrates in den Fragen von Krieg und Frieden festlegt. Das Projekt geht noch weiter und formuliert in Artikel I-42 in einer Klausel der Solidarität in der Gemeinschaft ein Gesetz der Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus, das ähnlich aussieht wie die Verpflichtungen in der NATO.

Der institutionelle Rahmen der EU – der im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik die europäische Militärmacht, gegenüber den ImmigrantInnen die Festung Europa und gegenüber den Arbeitenden das neoliberale Europa herauskehrt – wird im Projekt des Konvents einem Rat der Regierungschefs bzw. der Minister unterworfen, die gleichzeitig mit legislativer und exekutiver Macht ausgestattet sind und im „Direktorium“ eine Funktionsweise etablieren, die von den Interessen der Großmächte geprägt ist. Die Gleichheit der Mitgliedsländer wird nicht nur im Bereich der neuen Präsidentschaft des Rates, der von den Staats- und Regierungschefs unter den früheren KollegInnen ausgesucht wird, geopfert, sondern auch im Bereich der Kommission, in der bisher jene Gleichheit garantiert war. Das Projekt verschafft außerdem jenen „verstärkten Kooperationen“ zwischen einigen Mitgliedsländern der Union eine legale Basis und schafft so eine asymmetrische Union mit mehreren Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Rechten. Die „Gemeinschaftsmethode“, die auf dem Gleichgewicht der Institutionen beruhte, wie sie durch den Vertrag von Rom 1957 geschaffen worden waren, ist das erste Opfer der „hohen Wettbewerbsfähigkeit“.


EINE DEMOKRATISCHE UND SOZIALE NEUGRÜNDUNG EUROPAS IST MÖGLICH!


Das Projekt des Konventes – an dessen Abfassung konservative, liberale, sozialdemokratische und grüne Parteien beteiligt waren – ist in seiner gegenwärtigen Form nicht akzeptabel.

Die kommenden Monate verlangen von der europäischen radikalen Linken, den Gewerkschaften, den Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), den Organisationen der einfachen Leute und den sozialen Bewegungen besondere Anstrengungen zur Verteidigung ihrer Forderungen und zu einer demokratischen und sozialen Neugründung Europas. In der Verfassung, die von einer Konferenz der Regierungschefs der Mitglieds- und Beitrittsländer der EU gebilligt werden soll, wird das Projekt des Konvents wohl in seinen wesentlichen Zügen beibehalten werden und somit die Interessen der in Europa herrschenden Klassen verteidigen und jene der Arbeitenden und der einfachen Leute negieren. Wie die riesigen Demonstrationen der GlobalisierungskritikerInnen wie auch der Widerstand der Arbeitenden und ihrer Gewerkschaften gegen den Abbau ihrer Rechte, ihrer Renten und zur Verteidigung der öffentlichen Dienste im Verlauf der vergangenen Jahre gezeigt haben, ist ein anderes Europa möglich und notwendig.


GEGEN DIE „EUROPÄISCHE MILITÄRMACHT“


Jede europäische Verfassung müsste in den ersten Artikeln „die Ablehnung des Krieges als Aggressionsinstrument gegen die Freiheit und Unabhängigkeit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte“ enthalten. Gleichermaßen müsste sie das Prinzip der einseitigen Abrüstung bei den Massenvernichtungswaffen auf dem Gebiet der EU beinhalten und einen von der UNO zu kontrollierenden Prozess internationaler Abrüstung verlangen. Europa muss sich gemäß einer strikten Auslegung des Artikels 51 der Charta der UNO für die Auflösung der Blöcke und Militärbündnisse einsetzen. Außerdem muss die EU in die Ziele ihrer internationalen Politik einen neuen „weltweiten Konstitutionalismus“ aufnehmen, mit einem demokratischen Vertrag der Völker und der Staaten mit dem Ziel des Abschlusses von internationalen Verträgen über die Umwelt, den Klimawandel, die Sicherstellung der Ernährung und den Kampf gegen ansteckende Krankheiten und Epidemien.


GEGEN DAS EUROPA DES „DEMOKRATISCHEN DEFIZITS“


Eine europäische Verfassung müsste auf der Souveränität der Völker beruhen und die Macht alle gemeinsamen Themen einschließen, ohne sich an die engen Grenzen der bestehenden Staaten zu halten. Die europäische Verfassung muss in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht das Prinzip der Selbstbestimmung anerkennen, auf dessen Grundlage nach dem ersten Weltkrieg zahlreiche Staaten gegründet wurden. Sie muss die juristische Gleichstellung aller Sprachen in Europa bekräftigen, ohne die Möglichkeit zu verwehren, dass eine oder mehrere Sprachen zum inneren Funktionieren seiner Institutionen Verwendung finden.

Die europäische Verfassung muss die Legislative ausschließlich dem Europäischen Parlament und einem Kongress der europäischen Völker, der aus den VertreterInnen der Parlamente der Einzelstaaten, der Nationen und der Regionen der EU besteht, zuerkennen. Die Parlamente der Einzelstaaten, der Nationen und Regionen müssen über ein Vetorecht verfügen, das auf einer qualifizierten Mehrheit gegründet ist, soweit die Umsetzung von Maßnahmen und Gesetzen der Gemeinschaft auf ihrem Territorium berührt ist. Dies würde automatisch zur Festlegung eines Schiedsverfahrens in der Verfassung führen.

Die Kommission muss jederzeit dem Europäischen Parlament, das volle Machtbefugnisse bekommen muss, gegenüber verantwortlich sein; dieses muss den Präsidenten und jede/n Kommissar/ in jederzeit durch ein Misstrauensvotum stürzen können. Der europäische Rat kann wie die Kommission das Recht der Gesetzesinitiative bekommen, darf aber in keinem Fall über legislative Befugnisse verfügen. Seine Aufgabe muss in der Koordinierung der Anwendungen der gemeinsamen Direktiven in den Mitgliedsländern liegen.


GEGEN DAS EUROPA DER UNGLEICHEN RECHTE


Der Absatz VII, der die Grundrechtscharta eingrenzt und interpretiert, und der europäische BürgerInnen der ersten und zweiten Zone ohne Rechtsgleichheit für alle schafft, muss gestrichen werden. Den ausländischen BürgerInnen, die in der Union wohnen, müssen nach fünf Jahren Aufenthalt die vollen Rechte, auch die Bürgerrechte, gewährt und ihre Integration abgesichert werden. Alle auf der Grundlage der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes etablierten Rechte müssen in die Grundrechtecharta aufgenommen werden. Zur völligen Gleichstellung der Frauen muss die europäische Verfassung die Norm der Geschlechtergleichstellung in allen legislativen und exekutiven Organen der Gemeinschaft einfügen.


GEGEN DAS NEOLIBERALE EUROPA DES „GEISTES VON LISSABON“


Die europäische Verfassung muss einen neuen Gesellschafts- und BürgerInnenvertrag verabschieden, der die allgemeine Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der EuropäerInnen mittels öffentlicher Dienste wie Sozialversicherung, Gesundheitswesen, Erziehung, Justiz, Energie, Wasser, Telekommunikation und Wohnung sichert. Auch wenn die Verantwortung in diesen Bereichen bei den Mitgliedsländern liegt, muss die Verfassung der Union die Verpflichtung der Union absichern, in diesen Bereichen eingreifen zu können, wenn die Mitgliedsstaaten die grundlegenden Rechte für alle europäischen BürgerInnen nicht sichern können; sie müssen ihre vollen Bürgerrechte wahrnehmen können, gleich wo sie wohnen.

Zu diesem Zweck muss die EU zu einer Politik der Umverteilung zugunsten der Bevölkerung in den am meisten benachteiligten Regionen kommen. Das Parlament und der Kongress der europäischen Völker müssen im Rahmen von 5 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes der EU, finanziert aus Zuwendungen der Staaten und der Einrichtung von europäischen Steuern, ein Budget aufstellen, das diesen Verpflichtungen nachkommt. Solche Steuern könnten auf nicht-erneuerbare Energien, auf den Verkauf von Wertpapieren, auf internationale Kapitaltransaktionen und auf den Devisenhandel erhoben werden. Die Europäische Zentralbank muss vom Europäischen Parlament kontrolliert werden, welches über die von der Kommission vorgelegten wirtschaftlichen Direktiven zu entscheiden hat; über die strategischen wirtschaftlichen- und sozialen Orientierungen findet alle fünf Jahre ein Referendum statt, damit eine möglichst große Beteiligung der BürgerInnen an den Haushaltsplänen gewährleistet werden kann.

Der sogenannte Stabilitätspakt, der heute die europäische Wirtschaft ertränkt und die Auswirkungen der Rezession auf die Arbeitenden abzuwälzen sucht, wird durch einen Pakt der Solidarität und Vollbeschäftigung ersetzt, der die Verfassung von den künstlichen Beschränkungen des Verschuldungsverbotes befreit und dem Parlament und dem europäischen Kongress ermöglicht, die Kontrolle über die europäische Wirtschaft zu übernehmen, um ein wirkliches „europäisches Sozialmodell“ garantieren zu können. Dazu muss ein europäischer Solidaritätsfond gegründet werden, der automatisch als Stabilisator gegen Krisen und Rezessionen funktionieren würde, wenn in ihn max. ein Prozent des BIP der Union eingezahlt würden. Schließlich muss die europäische Verfassung die 35 Stundenwoche und das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit einführen.


GEGEN DAS EUROPA DER KATASTROPHEN (S. DIE „PRESTIGE“) UND DER ÖKOLOGISCHEN KRISE


Die europäische Verfassung muss einen Vertrag zwischen den Generationen hinsichtlich der Produktion und Verteilung von Energie aufnehmen, in den auch die Schließung aller Kernkraftwerke in der Union aufzunehmen ist, und dies in Verbindung mit einem europäischen Plan der Ersetzung und der Sicherheit im Energiebereich. Sie muss eine neue Wasserkultur mit dem Ziel des Gleichgewichtes und der rationellen Verwendung sowie der Erneuerung der wasserführenden Erdspeicher gelangen. Sie muss für die strikte Umsetzung des Kyoto-Protokolls und der Reduzierung des Ausstoßes von Schadstoffen in die Luft kommen.


EINE „SHAYS-REVOLTE“ IN DER EUROPÄISCHEN UNION?


Von Beginn an wiesen die Diskussionen im Konvent große Ähnlichkeiten mit dem Konvent von Philadelphia 1787 auf, der die Verfassung der USA abgefasst hat. Wir möchten den historischen Kontext kurz schildern.

Das Prinzip der Gleichheit der BürgerInnen vor dem Gesetz und die liberale Sicht der Gewaltenteilung sowie die des Staates von der Zivilgesellschaft verdeckte damals die Verteidigung einer über den Einzelstaaten stehenden Regierung, die stark genug war, den neuen amerikanischen Markt mit protektionistischen Barrieren zu schützen, die Deckung der öffentlichen und privaten Schulden, wie sie sich im Verlauf des Unabhängigkeitskrieges ergeben hatten, zu garantieren, sowie die Steuereinnahmen zu sichern, um eine stehende Armee zu unterhalten, die in der Lage war, die Länder der Indianer zu enteignen und die Sklaverei beizubehalten.

Ab 1786 organisierten sich die Kriegsveteranen des Unabhängigkeitskrieges in den Milizen in diversen Bauernrevolten, um sich gegen die Einziehung ihres Eigentums wegen ihrer Verschuldung zu wehren; sie forderten von den Parlamenten der Einzelstaaten (die nach einem Zensuswahlrecht aus den örtlichen Oligarchien gewählt wurden), Papiergeld zu drucken. Die Unterdrückung dieser Revolten, und der Versuch, in Massachusetts ihre Führer zu richten, führte zu einer raschen Ausdehnung der Rebellion, die von Daniel Shays angeführt wurde, bis sie schließlich von der Armee im Feuer und Blut erstickt wurde. Diese Shays-Rebellion hat den Konvent von Philadelphia so tief beeindruckt, dass er, um eine solche in der Zukunft zu verhindern, beschloss, die Wahlen zur Repräsentantenkammer durch Wahlgesetze, die in jedem Einzelstaat von den dortigen Parlamenten ausgearbeitet wurden, zu beschränken; diese Parlamente bestimmen die SenatorInnen und die Wahlmänner bei der Wahl des Präsidenten und der Richter des Obersten Gerichtshofes.

Die Verabschiedung der Philadelphiaer Verfassung stieß im Volk auf immensen Widerstand, besonders in New York. Zu ihrer Verteidigung haben Madison, Hamilton und Jay in der Presse eine Artikelserie veröffentlicht, die als „föderalistische Prinzipen“ bekannt geworden sind und in denen sie betonten, die Rolle der Bundesregierung bestehe in der Sicherung des Friedens in einer Zivilgesellschaft, die von Konflikten durchzogen wird, die durch „die unterschiedliche und ungleiche Verteilung des Eigentums“ hervorgerufen sind. „Die Eigentümer und die Nicht-Eigentümer“, so fuhren sie fort, „haben in der Gesellschaft immer unterschiedliche Interessen gehabt (...) In einer großen Republik ist es umso schwieriger, dass diejenigen, die dies erkennen, ihre Macht entdecken und solidarisch handeln“.

Die Notwendigkeit, die aus der Unabhängigkeit hervorgegangene Verfassung mit einer Legitimation durch das Volk zu versehen, hatte 1791 zur Annahme einer Reihe von Zusätzen geführt, die als Charta der Rechte bekannt sind. Es ist jedoch kein Zufall, dass die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung – „das Recht auf Leben, auf Freiheit und die Suche nach Glück“ – in der Philadelphiaer Verfassung in „das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum“ verändert worden sind.

Seit dem Streik im Öffentlichen Dienst in Frankreich 1995 hat es in Europa in den Mobilisierungen gegen die Treffen des Rates der Regierungschefs, die als eine besondere Form der kapitalistischen Globalisierung begriffen wurden, eine europäische „Shays-Revolte“ gegeben. Auch die Gewerkschaften haben gegen die neoliberalen Gegenreformen, die zunächst im Namen des Stabilitätspaktes, dann im Namen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Kürzungsmaßnahmen in den Rentenversicherungen von Brüssel vorgegeben wurden, Widerstand geleistet. Unter dem Titel „Die Gefahren eines politischen Europa“ hat (die britische Zeitschrift) The Economist jener gesellschaftlichen Revolte, die den Hintergrund für die Beratungen des Konventes abgab, einen Artikel gewidmet: „Trotz der sie begleitenden Gewalt und dem inkohärenten Charakter der Klagen haben die DemonstrantInnen ein nachvollziehbares Vorhaben. Wie es ihre Schilder ausdrücken, sind sie gegen das „Europa des Kapitals“ und für ein „soziales Europa“. (...) Wenn auch viele die DemonstrantInnen als Bande von Drogenabhängigen und Anarchisten verachten, so zeigen die Meinungsumfragen, dass die Forderung nach einem „sozialeren Europa“ über breite Unterstützung verfügt. Laut eines kürzlich erschienenen „Eurobarometers“ glauben 90 Prozent der europäischen BürgerInnen, dass „der Kampf gegen die Armut und den Ausschluss aus der Gesellschaft“ die erste Priorität der Union sein müsste, gegenüber 63%, die meinen, erste Priorität müsste „der Erfolg der Einheitswährung“ haben oder 31% Prozent, für die dies die Erweiterung der EU ist. Was wird passieren, wenn die WählerInnen einmal nicht mehr glauben, die von der EU verkündeten Reformen seien technokratische Übungen für das europäische Gemeinwohl und in ihnen sehr politische Entscheidungen sehen, über die sie nur eine sehr geringe demokratische Kontrolle ausüben können? (...) Es gibt einige Hinweise, dass genau dieses sich abzeichnet. Zu Beginn der neunziger Jahre dachten 72% der europäischen BürgerInnen, die Zugehörigkeit ihres Landes zur EU sei „etwas Gutes“; heute glauben dies nur noch 54 Prozent“. [2]

Damit diese konfuse Revolte zusammenwachsen und sich mit einem eigenen unabhängigen Programm ins europäische politische Leben einbringen kann, muss eine ideologische Kette durchbrochen werden, mit der erhebliche Teile der europäischen Gewerkschaftsbewegung zunächst an die Europäischen Gemeinschaften und später die Union angekettet wurden. Das schwächste Glied in dieser Kette ist der Mythos vom „europäischen Sozialstaatsmodell“, das auf einem Bündnis mit und der Mitbestimmung der großen Gewerkschaften und des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) beruht; das Modell soll angeblich eine im Vergleich zu den USA und Japan viel größere Einkommensumverteilung gewährleisten. Die strategische Schlussfolgerung dieses Mythos -– dessen historischer Ursprung im nach den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges gegen den Faschismus im Verlauf der fünfziger Jahre, sowie den großen Massenkämpfen in den sechziger und siebziger Jahre, entwickelten Kräfteverhältnis liegt --, lautet, dass man neue gesellschaftliche Reformen erreichen könne, wenn man nur sozialen Druck und Lobbyarbeit bei den Institutionen der Union verbinde, dass es also gut sei, die sozialen Fragen gleich den wirtschaftlichen auf die EU-Ebene zu heben und die EU als Maschine zu benutzen, um die sozialen Errungenschaften in Europa voranzubringen.

Die Überzeugung, dass diese reformistische Strategie eines „europäischen Gewerkschaftertums“ gescheitert und eine Sackgasse ist, beginnt sich angesichts der Schläge der neoliberalen Konterreformen, wie sie von der Europäischen Kommission vorangetrieben werden, zu verbreiten. Sie haben zu einer Reihe von Generalstreiks in bestimmten Sektoren und Ländern in vielen Mitgliedsstaaten geführt. Die gegenwärtige Diskussion in der IG Metall, der größten Gewerkschaft in der EU, nach dem Scheitern des Streiks für eine Übertragung der 35-Stunden-Woche auf die Länder der früheren DDR, ist dafür durchaus symbolisch. Denn zur Durchsetzung der neoliberalen Konterreformen im „Geist von Lissabon“ brauchen die Regierungen – gleich ob konservativ oder sozialdemokratisch und grün geführt – eine Spaltung der Gewerkschaftsbewegung und die Mitwirkung eines erheblichen Teiles der Gewerkschaftsbürokratie, um eine Verallgemeinerung des Widerstandes zu verhindern. Die Schwierigkeiten von Schröder mit dieser Politik sind bekannt. Doch auch Blair musste in den letzten Jahren in Großbritannien zusehen, wie Gewerkschaftsführungen abgelöst und auf den folgenden Kongressen durch VertreterInnen linker Strömungen ersetzt wurden. In Österreich gab es den ersten Generalstreik seit 50 Jahren, nicht zu reden von Italien, Spanien oder Frankreich.

Das Verfassungsprojekt des Konvents schließt definitiv alle Türen für die Hoffnung, die Strategie des „europäischen Gewerkschaftertums“ könnte Erfolg haben, denn es erhebt das neoliberale Modell in den Rang eines europäischen Grundgesetzes und verweist die sozialen Fragen in die Zuständigkeit der Einzelstaaten. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund Belgiens (FGTB) hat diesen Charakter der europäischen Verfassung bereits angeprangert und einen Aufruf zur Verteidigung der sozialen und demokratischen Rechte der ArbeiterInnen Europas lanciert.

Die europäischen Fragen als solche fehlten bisher weitgehend in den Themen der globalisierungskritischen Bewegung, wenn sie gegen die kapitalistische Globalisierung mobilisierte. Aber in den kommenden Monaten werden die europäischen BürgerInnen wegen der Propaganda in den Massenkommunikationsmitteln, die von den Mitgliedsländern der EU subventioniert wird, unvermeidlich mit den politischen Debatten um die Verfassung konfrontiert werden. Anfang Oktober eröffnet Berlusconi in Rom die Konferenz der EU-Regierungschefs, im Mai 2004 wird die EU zehn neue Mitgliedsländer aus Osteuropa aufnehmen und einige Tage vorher sollen die Beratungen der Regierungschefs über die Verfassung abgeschlossen sein. Im Juni finden die Wahlen zum neuen Europäischen Parlament statt und in einer Reihe von Mitgliedsländern wird es Volksabstimmungen über die neue Verfassung geben.

Die Widerstandbewegung hat ihr erstes großes Treffen im November 2003 auf dem Europäischen Sozialforum in Saint-Denis und Paris, das als Katalysator für eine gemeinsame Sicht eines anderen möglichen Europas als Alternative zur neoliberalen EU dienen soll. Die Aufgabe der europäischen radikalen Linken ist es, diese Diskussionen voranzutreiben und einen Beitrag zur Zusammenführung der Widerstandskämpfe der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften gegen das Europa des Kapitals zu leisten, damit die Grundlagen für ein Europa der Arbeitenden und der Völker gelegt werden.

18. Juli 2003
Übersetzung: Paul B. Kleiser



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 384/385 (November/Dezember 2003).


[1] Es sei daran erinnert, dass jene Charta einen Rückschritt im Vergleich zu den meisten Verfassungen der Mitgliedsstaaten der EU darstellt, vor allem aber mit der Universellen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Vgl. Marie-Paule Connan, « Les droits sociaux fondamentaux en péril », in : Inprecor Nr. 452, November 2000 (nicht auf deutsch).
[2] Vgl. The Economist, 28. Juni 2003