Der Aufenthalt von Abdullah Öcalan (genannt Apo = Onkel) in Rom, seine Irrfahrt durch Europa und schließlich seine Entführung aus Kenia hat die Kurdenfrage und die Frage der Haltung zur PKK auf die politischen Tagesordnung in Europa gesetzt. Dies ist eine gute Gelegenheit, die Scheußlichkeiten des „schmutzigen Krieges“ in der von Kurden bewohnten Region in der Türkei ins Gedächtnis zu rufen und die rabiate Repression, wie sie von den türkischen Militärs und den verschiedenen Regierungen ins Werk gesetzt wurde, anzuprangern.
Fuat Orçun
Laut offiziellen Zahlen wurden in den vergangenen 15 Jahren in jener Region über 30 000 Menschen getötet und ca. 3500 Dörfer zerstört und ihre Bewohner vertrieben. Hunderttausende KurdInnen mußten ihre Dörfer und Städte verlassen und ließen sich in den Vorstädten der türkischen Großstädte nieder. Die internationale Solidarität mit dem kurdischen Volk ist heute mehr denn je von brennender Notwendigkeit. Gleichzeitig aber gaben die problematischen Kampfesmethoden und politischen Orientierungen der PKK, aber auch die umstrittene Persönlichkeit ihres Führers Apo, dem türkischen Staat propagandistische Waffen an die Hand und führten zu einem bestimmten „Abstandhalten“ auch unter denjenigen, die den Kampf des kurdischen Volkes unterstützen. Es muß also eine politische Diskussion über die Bilanz jener Organisation geführt werden, um zu einigen Klärungen zu kommen.
Zuerst möchten wir die genaue Bedeutung von einigen in diesem Artikel benutzten Begriffen erklären. Zunächst den der „nationalen Bewegung“. Wenn wir von der (kurdischen) Nationalbewegung sprechen, dann meinen wir nicht nur die PKK (die von Apo geführte kurdische Arbeiterpartei im Untergrund), noch die Hadep (Partei der Volksdemokratie, eine kurdisch-nationalistische Partei, die in der Türkei legal ist). Wir meinen damit alle Bewegungen und Organisationen, die sich für die Forderungen und die Rechte des kurdischen Volkes einsetzen und für sie kämpfen, und zwar auf politischer wie kultureller oder sozialer usw. Ebene. Sogar die PKK, die gerne für sich ein totales Monopol für die Nationalbewegung in Anspruch nimmt, erkennt implizit jene Pluralität der kurdischen Bewegung an, denn sie hat den Plan aufgestellt, einen „kurdischen Nationalkongreß“ einzuberufen, an dem sich auch andere kurdische Kräfte beteiligen sollen.
Wenn wir von den politischen Kräften der kurdischen Nation sprechen, dann müssen wir auch die Parteien mit einbeziehen, die mit dem Regime (in der Türkei) verbunden sind, aber auch die Islamisten, denn diese haben heute die Mehrheit in der Kurdenregion und auch bei „freien“ Wahlen würden sie wohl ihre heutige Stärke mehr oder weniger behalten, wobei sie dann sowohl ihre kurdische wie ihre islamische Identität herausstellen würden. Außer den Islamisten und der Hadep möchten wir die Partei für Demokratie und Frieden (DBP), die ein legaler Arm der Sozialistischen Partei Kurdistans (der im Untergrund tätigen KSP von Kemal Burkay) ist, dann die Demokratische Massenpartei (DKP), die von Seraffettin Elçi, einem früheren Minister unter Ecevit in den siebziger Jahren, der von den Militärs 1980 eingesperrt und verurteilt worden war, weil er sich öffentlich als Kurde bekannt hatte, geführt wird. Es ist von Bedeutung, festzuhalten, daß die Hadep meint, es komme überhaupt „nicht in Frage, mit diesen Parteien ein Bündnis einzugehen“. (Özgür Politika, 5.1.1999) In ihrem Jargon soll das wohl heißen, daß sie meinen, ein Monopol auf die politische Vertretung der KurdInnen zu haben und daß sie sich weigern, anzuerkennen, daß es noch andere Parteien geben könnte, oder anders gesagt: „Man kann mit türkischen Parteien Bündnisse eingehen, aber nicht mit kurdischen Parteien, denn wir sind die einzige kurdische Partei!“
Auch hinsichtlich der Hadep und der PKK möchten wir betonen, daß es sich für uns um zwei unterschiedliche Organisationen handelt, im Gegensatz zur häufig vorkommenden Verkürzung, wonach die Hadep nichts anderes sei als der legale Arm der PKK. Denn man darf keinesfalls vergessen, daß zahlreiche Führungsmitglieder, Strömungen oder auch Mitglieder der Hadep oder ihrer Vorläufer (die HEP und die DEP waren jeweils vom Verfassungsgericht verboten worden) die Führung der PKK sehr heftig angegriffen oder sogar schärfstens kritisiert haben. Bei zahlreichen Gelegenheiten ergaben sich in der Hadep abweichende Stimmen, die fast alle den von der PKK eingeschlagenen Weg kritisiert haben. Die Unterscheidung ist somit wichtig, denn einige politische Strömungen, die sich weigern, mit der PKK in Kontakt zu treten, haben keinerlei Probleme, dies mit der Hadep zu tun, die sie als eine legitime Komponente des politischen Kampfes ansehen. Jener Unterschied existiert auch in den Augen der WählerInnen. Im übrigen sieht sich die Hadep selbst als eine Massenpartei. Sie organisiert also als nationale Partei sehr unterschiedliche soziale Schichten und verkündet vor allem die Harmonie unter ihnen, weniger jedoch ihre Widersprüche, und dies alles im Namen der nationalen Rechte und Interessen. Wir müssen allerdings betonen, daß die Wählerschaft der Hadep vor allem einfache Leute umfaßt.
Man kann das komplexe Beziehungsgefüge nicht begreifen, wenn man sich von Simplifizierungen vereinnahmen läßt. Oder anders gesagt – und dies auch jenseits der Frage „bürgerliche Legalität“ – ein Wahlbündnis mit der Hadep ist natürlich was anderes als ein Bündnis mit der PKK. In der sozialistischen Bewegung gibt es hinsichtlich der PKK sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Haltungen. Was uns betrifft – wir haben immer wieder die größten Vorbehalte geäußert, und nicht nur hinsichtlich der „Kampfmethoden“, sondern auch im Hinblick auf die allgemeinen politischen Orientierungen der PKK. Wir haben bereits betont, daß es sich bei der PKK um eine sektiererische nationalistische Organisation stalinistischen Ursprungs handelt, die eine demokratische Frage (die nationale Frage) mit undemokratischen Mitteln zu regeln versucht; im übrigen praktiziert sie um ihren wichtigsten Führer, „Apo“ Abdullah Öcalan, einen bis in die Karikatur gesteigerten Führerkult. Wir haben schon erklärt, daß die PKK für sich das Monopol für die kurdische Nationalbewegung in Anspruch nimmt und daß zur Konkretisierung jener Linie sie – teilweise mit äußerst brutalen Methoden – jede abweichende Meinung unterdrückt. „Die PKK zögert nicht, zu physischer Gewalt zu greifen, um politischen Streit in der Nationalbewegung und mit der türkischen politischen Linken zu entscheiden. Sie tut dies auch gegenüber ihren eigenen Mitgliedern, ja sogar gegenüber Teilen des Volkes, die in Gegnerschaft zu ihr stehen.“ (Inprecor, Nr. 307, Mai 1990)
In dieser Haltung zur Massenbewegung und zu anderen politischen Strömungen zeigen sich vor allem ihre stalinistischen Ursprünge (die Moskauer Prozesse dienten ihr explizit als Vorbild zur physischen Liquidierung von Oppositionellen). Wir haben auch Themenstellungen eines übersteigerten, ja religiösen Nationalismus kritisiert, die das Gerüst ihrer Propaganda bilden. Wir haben ihre Kampfesmethoden verurteilt, besonders die blinden Attentate gegen unbeteiligte Zivilisten, sowie Massaker an Frauen und Kindern in kurdischen Dörfern, die eher auf Seiten der Regierung standen. Wir haben den Opportunismus ihrer politischen Linie angeprangert, vor allem die Versuche, vor den Wahlen von 1991 mit Özal oder mit den Islamisten zu einem Kompromiß zu kommen. Und wir haben die zweifelhaften internationalen Verbindungen mit Regimen oder politischen Strömungen, die noch viel weniger demokratisch sind als die in der Türkei, kritisiert, besonders jene mit dem Iran und Syrien, aber auch mit der griechischen und russischen extremen Rechten. (Fuat Orçun: Das Frühlingssyndrom, Inprekorr Nr. 248/249 (Juni/Juli 1992))
Die nationale Frage in der Türkei, anders gesagt die Kurdenfrage, ist im übrigen eine komplexe und besondere Frage, die man nicht begreifen kann, wenn man vereinfachende Analogien mit Algerien oder Vietnam aufstellt. Man kann die Legitimität der nationalen Forderungen des kurdischen Volkes nicht bestreiten, doch wäre es ein schwerer Irrtum, zu glauben, es gäbe in der Türkei „einen Krieg zwischen den beiden Nationen“. Die Leute auf der Straße sehen die Dinge nicht so, und die „einfachen Leute“ – Kurden und Türken – prügeln sich nicht. Von besonderer Bedeutung ist, daß etwa die Hälfte der Kurden in der Türkei in den Städten im Westen, also außerhalb des traditionellen Siedlungsgebiet im Südosten wohnt und daß es zahllose Mischehen gibt. (In religiöser Hinsicht gibt es keine Unterschiede zwischen Türken und Kurden und die „ethnischen“ Unterschiede sind äußerlich nicht wahrnehmbar.) Wenn der türkische Staat den Kurden auch jede Anerkennung ihrer kollektiven Rechte verweigert, so besitzen sie doch die gleichen politischen und Bürgerrechte (richtiger gesagt: Sie sind denselben undemokratischen Praktiken unterworfen) wie die Türken. (Darauf geht der türkische Staat in seiner Propaganda vor allem ein: So seien über ein Viertel der Abgeordneten im türkischen Parlament Kurden, die sich auf alle Parteien des Regimes von rechts bis „links“ und auf die Islamisten verteilten). Natürlich gibt es dagegen eine fürchterliche Repression in den Kampfzonen und der Staat wendet in aller Deutlichkeit eine Politik der „verbrannten Erde“ und der „Deportation“ der kurdischen Bevölkerung an, indem er die Dörfer vernichtet.
Aus diesen Gründen hat die kurdische Frage im Osten und im Westen ein völlig anderes Gesicht; die Repression findet vor allen Dingen im Osten statt und die soziale Frage stellt sich besonders im Westen. Das bedeutet auch, daß selbst nach dem Tag, an dem es ein „unabhängiges Kurdistan“ geben sollte, im türkischen Landesteil die kurdische Frage weiterbestehen würde, sofern nicht auf beiden Seiten zur Methode der „Homogenisierung“ durch „Bevölkerungsaustausch“ gegriffen würde (nach dem Modell Griechenlands und Bulgariens zu Beginn dieses Jahrhunderts, oder, noch schlimmer, nach dem Modell der „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien und im Kaukasus).
Die gegenwärtigen Beziehungen zwischen der kurdischen Nationalbewegung und der sozialistischen Bewegung sind zu weiten Teilen eine Erbschaft der sechziger und siebziger Jahre, also des Zeitraums vor dem Staatsstreich 1980. Die dominierende Kraft in der kurdischen Region vor 1980 waren insbesondere die auf Moskau orientierten stalinistischen Bewegungen, wohingegen Dev-Yol (die größte Strömung der sozialistischen Bewegung im Rest des Landes) dort fast völlig fehlte. Wir möchten in Erinnerung rufen, daß damals Mehdi Zana, ein Mitglied der KSP, Bürgermeister von Diyarbakir war und daß diese Bewegung in der von ihr kontrollierten Zone alle Aktivitäten der PKK (damals eine kleine Minderheit) „verboten“ hatte. Man darf nicht vergessen, daß die kurdische Nationalbewegung ihrerseits selbst aus der sozialistischen Bewegung hervorgegangen ist, selbst wenn sie sich heute differenziert hat, und daß sie dieselben politischen und ideologischen Spaltungen mitgemacht hat (mit scharfen inneren Konflikten).
Heute ergibt sich der Unterschied vor allem aus der Tatsache, daß es der Nationalbewegung gelungen ist, einen Massenanhang zu bekommen, der weit größer ist als der der sozialistischen Bewegung, die sich gerade erst wieder von den ihr durch die Militärdiktatur zugefügten Schlägen erholt. Die Diskussion in der sozialistischen Bewegung über die Kurdenfrage ist deswegen kaum vorangekommen. Im großen und ganzen gibt es zwei unterschiedliche Linien, die die Tendenzen der Entwicklung der Bewegung unterschiedlich einschätzen: Einige – die aber in den letzten Jahren weniger wurden – behaupten, es gäbe in ihr eine revolutionäre Dynamik, während andere glauben, es handle sich nur um eine der zu regelnden Fragen der Demokratie, wenn auch natürlich um eine der wichtigsten. Aber auch die Natur von Bündnissen mit der Nationalbewegung wird verschieden gesehen.
Nach dem Staatsstreich waren es vor allem die Wahlen von 1991, in deren Vorbereitung Beziehungen zwischen der Nationalbewegung und der sozialistischen Bewegung erneut hergestellt wurden. Die Arbeiterpartei (IP, maoistisch, Peking-orientiert), die auf nationaler Ebene zwischen 60 000 und 100 000 Stimmen erhielt, hatte zu Beginn der neunziger Jahre hervorragende Beziehungen zur PKK. Ihr Führer, Perinçek, hatte sogar zusammen mit Apo eine Truppenparade im Bekaa-Tal (in Syrien) abgenommen. Doch inzwischen hat sich diese Partei völlig auf die Seite des türkischen Staates geschlagen und behauptet nun, die kurdische Nationalbewegung sei „eine Stütze des Imperialismus“ und es gelte heute, „die Errungenschaften der nationalen Unabhängigkeit des türkischen Staates angesichts der imperialistischen Aggression zu verteidigen“. Die Partei der Arbeit (EP), die das Erbe der früher auf Albanien orientierten Maoisten angetreten hat, hat den Beschluß gefaßt, ihre Organisation ins Kurdengebiet auszuweiten. Eine weitere kleine stalinistische Gruppe, die Partei für die Macht des Sozialismus (SIP), die 1995 ein Bündnis mit der Hadep eingegangen war, hat neulich beschlossen, sich ebenfalls im Kurdengebiet aufzubauen.
Im Rahmen der Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP), die eine pluralistische Organisation ist (und in deren Reihen auch die Mitglieder der türkischen Sektion der IV. Internationale arbeiten), gibt es sehr unterschiedliche Meinungen, welche Haltung man zur Nationalbewegung einnehmen soll, abgesehen natürlich von der grundlegenden programmatischen Übereinstimmung. Diese Art von Meinungsverschiedenheiten gab es schon zur Zeit der BSP (aus der durch den Zusammenschluß mit Dev-Yol dann die ÖDP hervorgegangen ist). Auch der von der BSP gemeinsam getragene Beschluß, keine Aufbauarbeit im Kurdengebiet zu machen, war von den beteiligten Kräften unterschiedlich begründet worden: Einige Gruppen, (darunter Kurtulus), glaubten, Kurdistan sei ein besonderes Land und es sei nicht Aufgabe einer türkischen Linken, sich dort zu organisieren (wir müssen allerdings hinzufügen, daß diese GenossInnen im umgekehrten Sinn auch glaubten, die kurdische Bewegung sollte auf eine Aufbauarbeit im türkischen Teil verzichten und bei Wahlen sollten sich dann die beiden Bewegungen außerhalb ihres jeweiligen Wirkungsgebietes gegenseitig unterstützen.) Für andere war diese Entscheidung aus den konkreten politischen Bedingungen erwachsen, die man als ungünstig einschätzte (Kriegszustand, Polarisierung zwischen Armee und PKK, Mangel an politischem Raum und Kräften).
Zum Zeitpunkt der Gründung der ÖDP wurde dieses delikate Thema zurückgestellt. Aber die ÖDP hat sich auch in einigen kurdischen Bezirken aufgebaut, weil die Mitglieder vor Ort es so wollten. Das Parlament der Partei, das im Januar 1999 zusammentrat, hat beschlossen, bei den Wahlen unter eigener Flagge im gesamten Land zu kandidieren, wobei zugestanden wurde, daß es eventuell Ausnahmen geben könne, die allerdings auf einige Bezirke beschränkt sein müßten. In der ÖDP sind diejenigen, die meinen, die ÖDP sei keine „türkische Partei“, sondern eine „Partei von türkischen und kurdischen ArbeiterInnen“, klar in der Mehrheit. Die Strömungen, die denken, man müßte die gesamte Kurdenregion zugunsten von Hadep und der Nationalbewegung aufgeben, sind in der Minderheit. Diese Minderheitenposition hat um so größere Schwierigkeiten, weil es kein „kurdisches Gegenüber“ zur ÖDP in der Kurdenregion gibt. Oder anders gesagt, die SozialistInnen (auch die kurdischen) in jener Region, die sich nicht in den Begrenzungen der Nationalbewegung ausdrücken möchten, hätten dann überhaupt keine Ausdrucksmöglichkeiten mehr, denn es ist nicht möglich, dies im Rahmen der Hadep zu tun. Gleichermaßen wäre es genauso unvernünftig, von der kurdischen Nationalbewegung zu verlangen, sie solle darauf verzichten, sich im türkischen Teil zu organisieren, angesichts der Tatsache, daß fast die Hälfte der KurdInnen in den westlichen Metropolen der Türkei (also der „türkischen Region“) leben.
Bislang hatten diese Debatten aufgrund der Schwäche der sozialistischen Bewegung wenig Gewicht. Da sich nun aber das Kräfteverhältnis zwischen der Nationalbewegung und der sozialistischen Bewegung tendenziell mehr und mehr ausgleicht, gewinnt diese Diskussion an Bedeutung, auch auf Wahlebene. Die Bestandteile der BSP (die ÖDP gab's noch nicht) hatten 1994 an den Kommunalwahlen teilgenommen (die von den kurdischen Nationalisten und anderen Teilen der sozialistischen Bewegung boykottiert wurden) und waren unter dem Zeichen „Vereinigte sozialistische Alternative“ (BSA) aufgetreten. Das hatte ihnen heftigste Kritik eingetragen, bis zur Behauptung, „im Solde des türkischen Generalstabs“ zu stehen. Doch hatte die BSA ihre Kampagne um die Kurdenfrage herum aufgebaut … Bei den Parlamentswahlen von 1995 ging die BSP ein Bündnis mit der Nationalbewegung ein und akzeptierte, die eigenen KandidatInnen unter der Flagge der Hadep auftreten zu lassen. Es war dies ein Bündnis mit drei Achsen: Arbeit, Frieden und Freiheit. Doch in der Praxis hat sich die Hadep nur für eine Achse eingesetzt, nämlich den Frieden – damit hat sie auf nationaler Ebene 4,2 Prozent der Stimmen erreicht. In den Städten, in denen die Hadep völlig fehlte, wo also nur die BSP die Kampagne durchführte, erhielt die gemeinsame Liste im Schnitt ein Prozent der Stimmen. In Istanbul, wo etwa ein Viertel der neun Millionen EinwohnerInnen Kurden sind, hat die Hadep trotz beträchtlicher Unterstützung durch die BSP nur 2,5 % der Stimmen erzielt. Die Schätzungen für die kommenden Wahlen 1999 liegen zwischen zwei und drei Prozent für die ÖDP und um die fünf Prozent für die Hadep.
Die kurdische Nationalbewegung leistet seit zehn Jahren Widerstand und hält ihre Aktivitäten aufrecht, und zwar ziemlich unabhängig von den Wechselfällen des Kampfes zwischen Armee und PKK. Einige der kurdischen Abgeordneten, die Mitglieder der SHP waren, der kemalistischen und sozialdemokratischen Partei (und Mitglied in der Sozialistischen Internationale), wurden aus dieser Partei ausgeschlossen, weil sie an der kurdischen Konferenz in Paris teilgenommen hatten, die 1989 auf Initiative von France Libertés veranstaltet worden war. Sie haben sodann die Partei des arbeitenden Volkes (HEP) gegründet, eine Vorläuferin der Hadep, und zwar zusammen mit Gewerkschaftern der DISK (linker Dachverband). Diese Partei hat zunächst mit Özal (dem damaligen Präsidenten der Republik) verhandelt, dann hat sie ein Wahlbündnis mit den Islamisten angestrebt, das jedoch in die Brüche gegangen ist, denn die beiden Parteien konnten sich nicht über die Aufstellung der Listen und die Aufteilung der Abgeordneten einigen. Die HEP hat sich dann wieder mit der SHP verbündet und auf deren Listen an den Wahlen von 1991 teilgenommen. In der Zwischenzeit hatten die Islamisten mit den Faschisten von der MHP ein Bündnis abgeschlossen, also mit den „Grauen Wölfen“ (dies ist ein schönes Zeichen für die Politikvorstellungen sowohl der einen wie der andern!) Im Verlauf dieser Wahlen konnte die SHP ihren Stimmenanteil regelmäßig erhöhen, besonders in den Kurdengebieten, wo die WählerInnen davon überzeugt waren, jene Partei könnte eine wichtige Rolle spielen, die Kurdenfrage ins Parlament zu bringen. So wurden 22 Abgeordnete kurdischer Nationalität auf den Listen jener Partei gewählt, und sie haben bei der Abstimmung über die Regierung alle Demirel/Inönü (der Koalition zwischen der konservativen Rechten und den Sozialdemokraten) das Vertrauen ausgesprochen. Diese beiden Führer der Regierung, die damals über eine erhebliche Unterstützung aus dem Volk verfügten, haben sich zusammen mit dem Chef des Generalstabs in die Kurdenregion begeben und offiziell angekündigt, „die Türkei werde nun die kurdische Realität anerkennen“. Sie haben sich sogar für eine „spanische Lösung“ (mit bezug auf die Baskenfrage) ausgesprochen. Doch all dies blieb nur leeres Gewäsch. In dieser Zeit war die PKK auf ihrem Höhepunkt. Während der Feiern des kurdischen Neujahrsfestes Newroz konnte man sogar den Beginn eines Volksaufstandes beobachten, bei dem sich Szenen in der Art der „Intifada“ abspielten.
Einige kurdische Abgeordnete versuchten während der Diskussion über die Regierungserklärung im Parlament auf kurdisch zu der Versammlung zu sprechen, aber sie wurden weggedrängt und zum Schweigen gebracht. Dieser Zwischenfall bedeutete auch ihren Ausschluß aus dem politischen System. Sie haben im übrigen nach ein paar Monaten die SHP verlassen und sich der HEP angeschlossen. Diese Partei wurde 1993 vom Verfassungsgericht verboten und mußte durch die Partei der Demokratie (DEP) ersetzt werden. Ein Jahr später wurde die DEP ihrerseits verboten, und zwar auf Initiative von Tansu Ciller, die als Ministerpräsidentin an die Stelle von Demirel getreten war (dieser war nach dem Tod von Özal 1993 selbst zum Staatspräsidenten gewählt worden). [1] Die Abgeordneten wurden aus dem Parlament ausgeschlossen, verhaftet und wegen „Komplizenschaft mit der PKK“ verurteilt.
Bei den Kommunalwahlen von 1994, die von der kurdischen Nationalbewegung unter dem Vorwand, die „politische Atmosphäre sei nicht demokratisch“ (doch wann wäre sie dies jemals gewesen?), boykottiert worden waren, wurden die Islamisten, die bei den Wahlen 1989 noch auf Platz drei rangiert hatten, zur stärksten Kraft und konnten sich in fast allen Stadtverwaltungen der Region durchsetzen. Die Sozialdemokraten, die 1989 die Nase vorne gehabt hatten, fielen auf den vierten Platz zurück und wurden sogar von den Rechtsparteien überrundet. So ging im Unterschied zu den siebziger Jahren die Mehrheit der kurdischen Wählerschaft zu den Islamisten über und verließ die Linke. Oder anders gesagt – wiewohl die Kader der Nationalbewegung aus der Linken kamen, verstärkte sich das islamistische Fieber bei ihren WählerInnen. Die Islamisten bekamen ihre Stimmen, weil sie die einzige Partei im System waren, die ihre Propaganda nicht auf den türkischen Nationalismus gründete.
Am Vorabend der Parlamentswahlen vom Dezember 1995 war die Hadep, die nach der Auflösung der DEP gegründet worden war, überzeugt, 16 Prozent der Wählerstimmen zu erreichen und dadurch problemlos die 10-Prozent-Hürde zu überschreiten (nur dadurch kommt man zu Abgeordneten). Doch die Wirklichkeit hielt sich nicht an die Prognosen. Trotz guter Ergebnisse in einigen Städten wie Diyarbakir (über 50 Prozent der Stimmen) und einem Schnitt von 16 Prozent in den Kurdengebieten, mußte sich die Hadep auf nationaler Ebene mit 4,2 Prozent zufriedengeben und bekam dadurch keinen Abgeordnetensitz. Die Nationalisten versuchten, diesen Mißerfolg mit den zahllosen, nicht eingeschriebenen WählerInnen und mit dem politischen Druck, der auf den Wahlen lastete, zu erklären. Doch wenn in diesen Argumenten sicherlich ein Körnchen Wahrheit liegt, so können sie nicht alles erklären. Denn tatsächlich hat die Hadep gerade in den Wahlkreisen, in denen die Repression am härtesten wütete, die besten Resultate erzielt, in den großen Städten hingegen, in denen es fast keine Repression gab, fielen die Resultate besonders mager aus. In den Arbeiterstädten mit starken kurdischen Minderheiten, wie Istanbul oder Kocaeli, lag sie noch unter ihrem nationalen Durchschnitt. Selbst in ihrer Hochburg Diyarbakir blieb ihr Ergebnis hinter dem zurück, was sie in der Listenverbindung mit der SHP 1991 erreicht hatte. Und in der Tat führt die Massenmigration in die Großstädte zu neuen sozialen Problemen, auf die der nationalistische Diskurs allein keine Antworten weiß.
Seit ihrer Gründung hat die ÖDP eine Reihe von Aktivitäten zusammen mit der Hadep durchgeführt. Unter den wichtigsten und massivsten waren die Kampagne der Feierlichkeiten für den Frieden, die Demonstrationen gegen die Mafia, die Demo „Weder Armee noch Islamisten“ (die in Istanbul immerhin 35 000 Leute auf die Beine brachte!). Einige Sektoren sehen in der Hadep eine „Bruderpartei“, aber in der Realität beschränkt sich die Übereinstimmung fast ausschließlich auf die Frage des Kampfes für den Frieden (also den „schmutzigen Krieg“ in den Kurdenregionen). Ansonsten gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten, die von der Einschätzung der islamistischen Partei bis zur sozialen Frage reichen. Wenn die ÖDP auch zum ultrajakobinischen Laizismus des Staates auf Distanz geht und darauf beharrt, daß man Glaubensmeinungen respektieren müsse, so geht die Hadep weit darüber hinaus und schmeichelt den islamistischen Sensibilitäten ihrer Basis. (Übrigens hat auch die PKK die „Freiheit der Religion“ in ihre sieben wichtigsten Forderungen aufgenommen). Sie meint, die islamische Welt insgesamt gehöre zum „fortschrittlichen Teil der Menschheit“.
Als 1997 die Armee die „fundamentalistische Bedrohung“ in den ersten Rang der „Bedrohungen der Republik“ aufnahm (also noch vor der „separatistischen Gefahr“) und sie sogar einen „verfassungsgemäßen“ Staatsstreich vornahm, um die islamisch-nationalistische Regierung von Erbakan und Ciller zu zwingen, ihren Rücktritt zu erklären, kamen in der Umgebung der PKK Illusionen auf, die Armee würde sich an die Stelle der Zivilisten setzen und erfolgreich jene Frage aufgreifen, bei der die Zivilisten versagt hatten, die Lösung der Kurdenfrage nämlich. Sechs Monate nach dem Sturz der Regierung Erbakan erklärte Apo in der kurdischen Zeitung Ülküde Gündem (vom 1.2.1998), die militärischen Kader, die den Krieg führen, hätten eine neue politische Linie entwickelt. Auch in Rom hat er kürzlich erklärt, es hätte indirekte Kontakte mit den Oberbefehlshabern gegeben, und zwar über die Vermittlung von Offizieren und türkischen Journalisten (Özgür Politika, 5.1.1999).
Die kurdische Nationalbewegung legt den kommenden Wahlen vom 18. April großes Gewicht bei. Auch wenn die Hadep in ihren öffentlichen Erklärungen beteuert, sie hätte keine Schwierigkeit, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden, so scheint doch klar, daß ihr wirkliches Ziel darin liegt, möglichst viele Stadtverwaltungen in der Kurdenregion zu gewinnen. (Die Wahl der Bürgermeister geschieht in einem Wahlgang mit der relativen Mehrheit; es kann also reichen, gut 25 % der Stimmen zu bekommen; auf diese Weise hatten die Islamisten Ankara und Istanbul erobert, denn sie konnten von der Zersplitterung der Parteienlandschaft profitieren.) So hofft die Hadep, die durch den Wahlboykott 1994 an die Islamisten verlorenen bzw. ihnen überlassenen Stadtverwaltungen zurückgewinnen zu können. Das Ziel ist, in der Kurden-Region eine Legitimität auf institutioneller und gesetzlicher Ebene zu gewinnen, um daraus einen Hebel für den politischen Kampf zu machen und eine machtvolle Botschaft an die internationale öffentliche Meinung zu senden.
Die PKK ihrerseits hofft stark auf den diplomatischen Druck gegen die Türkei. In den Kreisen, die der PKK nahestehen, wurde die durch den Abflug von Apo aus Damaskus neu geschaffene Lage als eine neue Öffnung dargestellt, die zu einer Lösung führen könnte. Nach diesem Szenario würde sich der militärische Sieg der türkischen Armee vor Ort in eine diplomatische Niederlage und einen diplomatischen Sieg der PKK auf internationaler Ebene verwandeln. Aber dieses Szenario hat keinerlei Chancen auf Verwirklichung. Die Tatsache, daß kein westliches Land Apo politisches Asyl gewähren und die PKK zum offiziellen Unterhändler machen wollte, ist dafür ein klarer Beweis.
Dennoch ist es nicht unmöglich, daß die Nationalbewegung politisch in die Offensive kommen kann, auch wenn sie militärisch zurückweichen mußte. Doch darüber können nur die Massen vor Ort entscheiden und nicht irgendwelcher Druck auf den türkischen Staat, wie er vielleicht von den imperialistischen Mächten Italien, Deutschland oder den USA kommt. Die Beispiele Irak, Iran und Serbien (und, in anderem Zusammenhang, Kuba) zeigen genau die Beschränktheit des imperialistischen Drucks (sogar bei den extremsten Maßnahmen wie wirtschaftlichem oder diplomatischem Embargo, die sogar mit militärischen Angriffen verbunden sein können), die inneren politischen Entwicklungen in Ländern zu beeinflussen, die noch schwächer sind als die Türkei.
Im übrigen sollten wir nicht vergessen, daß die imperialistischen Länder in solchen Dingen immer eine monströse Heuchelei an den Tag legen: Sie kritisieren die Türkei zwar in der Presse wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen und lassen im Europäischen Parlament großspurige Resolutionen über die Kurdenfrage abstimmen, doch reißen sie sich bei den türkischen Regierungsstellen um lukrative Aufträge wirtschaftlichen und vor allem militärischen Inhalts (ganz besonders möchten sie Hubschrauber verkaufen, die im Kampf gegen die Guerilla am meisten ausrichten!).
Darüber hinaus gibt es zwischen dem Herangehen der EU und der Vereinigten Staaten kleinere Unterschiede. Vor den vergangenen Bombardierungen des Irak haben die USA einmal mehr versucht, die irakischen Kurden zu einigen, denen es „nicht gelungen ist, einen Nationalstaat zu gründen, trotz des politischen Vakuums, wie er im Nordirak bestand“. (Kendal, „Le Malheur kurde“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996). Sie wollten die UPK und die DKP von Bazani und Talabani (mit eingeschränkter Unterstützung der Türkei!) zusammenführen. Doch die Amerikaner benützen die gleiche Sprache wie die offizielle Türkei, wenn sie von der PKK sprechen, die sie für eine „terroristische Organisation“ halten. Und tatsächlich verteidigen sie das Aufoktroyieren von kulturellen Rechten an die Kurden und setzen sich auch für die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen ein. Es scheint auch, daß die USA ein Aus-der-Kontrolle-geraten der Situation fürchten, wenn Apo ausgeschaltet würde. Die EU unterscheidet sich zwar in ihrer Politik dem Irak gegenüber, doch tritt auch sie ganz und gar nicht für eine Veränderung der Grenzen ein und wünscht ebenfalls, daß die Kurdenfrage unter dem Gesichtspunkt kultureller und nationaler Minderheitenrechte abgehandelt wird.
Einige US-amerikanische Stellungnahmen wurden in den oberen Kreisen des türkischen Staates ziemlich schlecht aufgenommen, so als der stellvertretende Außenminister Talbott im vergangenen Oktober erklärte: „Wie viele Türken meinen wir, daß die Probleme im Südosten des Landes nicht einfach mit militärischen Mitteln gelöst werden können. Eine dauerhafte Lösung der Kurdenfrage in der Türkei ist an den Willen der türkischen Regierung gebunden, der gesamten Bevölkerung die Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren“. Eine andere wichtige Stellungnahme, auch wenn sie nur halboffiziell abgegeben wurde, ist die von Alan Makovsky: „Es ist eher unwahrscheinlich, daß eines Tages auf einem Teil des jetzigen Staatsgebietes der Türkei ein Kurdenstaat gegründet werden kann. Was jedoch möglich wäre, ist, eine politische Lösung zu finden, die es der Türkei ermöglichen würde, mehr kulturelle und sprachliche Rechte und größere politische Ausdrucksmöglichkeiten einzuräumen. Doch dies erforderte ein neues Selbstverständnis des Regimes, das dann den Pluralismus, oder, was weniger wahrscheinlich ist, den Binationalismus zulassen müßte. Doch dies wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern.“
In diesem Punkt gibt es mit der PKK wenig Meinungsverschiedenheiten. Es ist auch interessant, herauszustreichen, daß das „Dokument der nationalen Politik“, wie es vor kurzem vom nationalen Sicherheitsrat (der höchsten Instanz des türkischen Staates, in dem unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik paritätisch die wichtigsten Minister und die wichtigsten Generäle zusammensitzen) angenommen wurde, sagt, man müsse „Maßnahmen ergreifen, um die regionalen und kulturellen Besonderheiten zu entwickeln, solange dies nicht den öffentlichen Bereich beeinträchtigt“. Der Präsident der Republik, Demirel, hat sich (wohl mit Zustimmung der Militärs) ebenfalls zum Anhänger des Übergangs zu einem weniger zentralistischen System im Rahmen der „allgemeinen Staatsreform“ gemacht (nach dem Modell der französischen V. Republik).
Die wesentlichen Unterschiede betreffen das Problem, so wie dies Öcalan bei seiner Ankunft in Rom am 26. November 1998 auch erklärt hat, daß die PKK einen politischen Dialog unter Leitung der EU und der UNO und mit internationaler Unterstützung haben möchte. Doch wie könnte es zu einem solchen Dialog unter Leitung von EU und UNO kommen, wenn die Türkei ihm nicht zustimmt? Wie soll man ihn gegen sie durchsetzen? Es genügt, die voluntaristische und zupackende Außenpolitik der Türkei in den vergangenen Jahren, die trotz der aufeinanderfolgenden Regierungskrisen entwickelt wurde, zu betrachten, um zu begreifen, daß eine Lösung jener Fragen allein aufgrund internationalen Drucks unmöglich ist. [2] Insbesondere auch deswegen, weil sich diese Art von Druck sogar eher als kontraproduktiv erweisen könnte und die reaktionärsten und chauvinistischen Kreise in Bevölkerung und Staat stärken könnte, weil dadurch bei den Türken die Vorstellung hochkochen könnte, „eine unterdrückte Nation“ zu sein.
Um dieses Phänomen zu verstehen, muß man zu den Gründungsmythen der türkischen Republik und dem Vertrag von Sèvres zurückgehen. Dieser Vertrag, der auch die mögliche Gründung eines unabhängigen Kurdenstaates und eines armenischen Staates im Osten, auf dem Boden der heutigen Türkei vorsah, aber auch die Besetzung der Ägais durch die Griechen und der östlichen Mittelmeerregion durch Frankreich und Italien, des Schwarzen Meeres durch die Engländer, sowie die Kontrolle von Istanbul und der Dardanellen durch die Alliierten sanktionierte, war dem Osmanischen Reich zu Ende des auch von ihm verlorenen Ersten Weltkriegs durch die siegreichen imperialistischen Mächte aufgezwungen worden. (Dies geschah zur gleichen Zeit wie der Vertrag von Versailles.) Die neue Türkei wurde durch einen nationalen Kampf, der von den Truppen von Mustafa Kemal (mit Unterstützung der jungen Sowjetmacht) gegen diesen Vertrag geführt wurde, um die Unabhängigkeit und nationale Souveränität zu erkämpfen, gegründet. Mit dem Vertrag von Lausanne (1924) wurde beides erreicht. Zu jener Zeit waren die Kurden Verbündete der Kemalisten, aber sie brachen mit ihnen 1925, als sie sahen, daß ein türkischer Nationalstaat im Entstehen war, der zu allem Überfluß auch noch die jakobinische Trennung von Staat und Religion durchsetzte, die die Macht der islamischen kurdischen Scheichs untergrub. Die verschiedenen kurdischen Revolten, die 1925 und 1936 ausbrachen, wurden von der kemalistischen Staatsmacht in Blutbädern erstickt. Diese verbot damals die Parteien und die Gewerkschaften der Linken gleich mit.
Aus diesen Gründen rührt die Idee eines „vom Westen durchgesetzten unabhängigen Kurdistan“ bei weiten Teilen der türkischen Bevölkerung (auch bei der sozialdemokratischen und kemalistischen Linken) an diesen Gründungsmythos vom „nationalen Kampf gegen die imperialistischen Mächte“. Der Staat und die türkischen Nationalisten machen im übrigen daraus ihr Schlachtroß und sprechen vom „Kampf gegen eine Neuauflage von Sèvres“. Dabei nützen sie die gegen Europa gerichteten Frustrationen der Bevölkerung aus, die meint, sie werde vom christlichen, imperialistischen und arroganten Europa aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgewiesen. Diese nationalistische Propaganda des türkischen Staates wirkt umso mehr in die Bevölkerung hinein, als wichtige europäische Medien (vor allem die sehr ernstzunehmende Le Monde) sich auf Sèvres beziehen, wenn sie von einer Lösung der Kurdenfrage sprechen. In Kreisen der kurdischen Diaspora in Europa macht man sich manchmal den Spaß und feiert den „Jahrestag des Vertrags von Sèvres“. Sogar Öcalan sah sich herausgefordert, darauf einzugehen: „Die Türkei darf sich nicht darüber beklagen, daß man Sèvres wieder aufleben lassen möchte. Das, was wir möchten, steht im Einklang mit dem Vertrag von Lausanne. Wir möchten nur Lausanne weiterentwickeln.“ (In seinem Bemühen, ein respektables Gesicht zu zeigen, ist Apo sogar so weit gegangen, die schlimmsten öffentlichen Beschimpfungen gegen militärische Kader seiner Partei auszubringen; damit wollte er die Verantwortung für all die unverantwortlichen Taten der PKK auf seine Kommis abladen.) [3] Doch auch mit diesen Korrekturen darf man nicht glauben, die Bevölkerung warte ungeduldig darauf, daß man ihr von außen „ein neues Lausanne“ auferlege. Nur von innen wird man die Verhältnisse wirklich ändern können, und zwar durch den gemeinsamen Kampf von türkischen und kurdischen ArbeiterInnen, die durch die internationale Solidarität von Arbeitenden der ganzen Welt unterstützt werden (und nicht von den imperialistischen Regierungen).
Die verschiedenen Meinungsumfragen in der Türkei, die auch in der bürgerlichen Presse veröffentlicht werden, zeigen, daß es keinerlei wirkliche Feindschaft von einfachen Leuten auf der Straße gegen kulturelle Rechte für die KurdInnen und für ein Ende des Krieges gibt. Sogar die wichtigsten Unternehmerorganisationen (der großen und mittleren Bourgeoisie) und ein beträchtlicher Teil der bürgerlichen Presse haben sich zugunsten von demokratischen Reformen auf diesem Gebiet ausgesprochen. Doch diese Meinungen führen nicht zu einer politischen Lösung. Die bescheidenen Reformversuche, die sogar rechtsgerichtete Politiker wie die früheren Ministerpräsidenten Çiller und Yilmaz (die beide Lösungen nach spanischen Vorbild und eine Liberalisierung der anti-demokratischen Gesetze versucht hatten), sind schnell auf die Sabotage der „Kriegslobby“, also der Drogen- und Waffenhändler, die vom Kriegszustand im Osten leben (die Mafia, korrupte Polizisten, ein Teil der Armee, die von ihnen abhängigen Politiker und die Faschisten) gestoßen. Daraufhin kamen die „Reformbemühungen“ der Politiker der Rechten ins Stocken und versandeten in den Realitäten des politischen Alltags.
Die beiden Parteien ANAP und DYP, die in tödlichem Kampf um die Vorherrschaft auf der Rechten begriffen sind, haben noch jedesmal der schlimmsten nationalistischen Demagogie nachgegeben, um die Stimmen der faschistischen Wählerschaft zu bekommen, um also ein oder zwei Prozent zusätzliche Stimmen einzuheimsen, die vielleicht für die jeweilige Vorherrschaft entscheidend sein könnten. Sie sind im übrigen mit der Mafia versippt und verschwägert. Was nun die linken Parteien anbetrifft, so ist die Partei des gegenwärtigen Ministerpräsidenten Ecevit eine populistisch-chauvinistische Gruppierung (vergleichbar der PASOK in Griechenland), die für ihre kurdenfeindlichen Stellungnahmen bekannt ist; die kemalistischen Sozialdemokraten von der CHP (der Nachfolgerin der SHP) hingegen, die einige Reformvorschläge ausgearbeitet haben, liegen heute auf stark rechter Linie: Sie tun alles, um nur ja nicht irgendwelchen Militärs auf die Füße zu treten (denn sie versuchen, ihre Gunst im „Kampf gegen den Fundamentalismus zu gewinnen“). Die Islamisten schmeicheln ihrer kurdischen Wählerschaft im Osten und in den Großstädten, im anatolischen Hochland aber bewegen sie sich im Jagdgebiet der Faschisten. Und im übrigen haben sie nicht gezögert, 1993 für die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten zu stimmen. Die Regierung Erbakan hat sich dem Verlangen der Armee in der Kurdenfrage in den Jahren 1996/97 vollständig gebeugt. Oder anders gesagt: die Militärs sind in dieser Frage nicht unbedingt die radikaleren „Falken“ als die bürgerlichen Politiker! Daher gibt es ein Mißverhältnis zwischen den Wünschen der Bevölkerung (auch der Bourgeoisie und der bürgerlichen Intelligenz) und der von den Parteien betriebenen Politik, die wiederum Unterschiede zu den Vorstellungen der Militärs aufweist.
Wie kann unter solchen Bedingungen die internationale Solidarität aussehen? Offensichtlich machen „politische Shows“ wie jene einiger europäischer Abgeordneter oder Journalisten, die während der Newroz-Feierlichkeiten Bildposter von Öcalan nach Diyarbakir gebracht haben, auf politischer Ebene keinen Sinn. Aktionen solcher Art befriedigen nur die Abenteuer- und Sensationsgier von Medien und schaden der Sache, denn sie untergraben die Entwicklung einer Friedensbewegung in der Türkei. Und die Festlichkeiten für den Frieden, die sich nach und nach seit einigen Jahren entwickelten, waren letztes Jahr auf die Gegenwart von ausländischen Delegationen wie derjenigen in Diyarbakir reduziert: Plötzlich nahm die einheimische Bevölkerung kaum noch daran teil, was eine schwere Hypothek für die kommenden Bemühungen darstellt.
Eine kohärente und konsequente Initiative für die direkte Solidarität mit der lokalen Bevölkerung, vor allem im Bereich der Menschenrechte, aufzubauen, verlangt sicherlich einiges mehr an Anstrengungen, als ein Poster von Apo zu entfalten; und sicherlich wäre eine solche Initiative, die diskreter ablaufen müßte und weniger aufregend wäre, weit effizienter. Außerdem müßte es möglich sein, eine gemeinsame Aktion durchzuführen, die gemeinsam mit den zivilen Initiativen im türkischen Teil auflaufen müßte. Doch all jene, die sich an die Stelle der politischen Bewegungen setzen wollen (oder meinen, ihr Gegenstück zu sein) und die, wie ein Gutteil der Nicht-Regierungsorganisationen, sich amüsieren, päpstlicher als der Papst zu sein, reduzieren den Raum der politischen Bewegungen vor Ort nur noch weiter und bestärken den Staat in seiner Propaganda über die internationale Einmischung und die internationalen Komplotte.
Zunächst möchten wir betonen, daß die Nationalbewegung in den vergangenen 15 Jahren ein unerwartet hohes Niveau erreicht hat, besonders beim Entstehen eines nationalen Bewußtseins, welches durch die Diskriminierungspolitik des Staates noch verstärkt wurde.
Darüber darf man aber nicht vergessen, daß die Nationalbewegung, die sich gleichzeitig als „zum Vorderen Orient, zur Türkei und zu Europa“ gehörig definiert, kaum Chancen hat, in einer politischen Konstellation von so weitreichenden Konsequenzen unabhängig zu agieren. Die kurdische Nationalbewegung ist sicherlich nicht einfach Produkt der Kräfteverhältnisse im Vorderen Orient oder gar die fünfte Kolonne einer ausländischen Macht (wie das der türkische Staat behauptet). Aber es steht außer Frage, daß sie von jenem prekären Gleichgewicht eher profitiert hat, als daß sie ihr Opfer gewesen wäre. Ihre Versuche, mit dem türkischen Staat zu einem Ausgleich zu kommen, vor allem zur Zeit Özals, sind völlig gescheitert. Was die Forderungen anbetrifft, die heute von der PKK gestellt werden (vielleicht abgesehen von der „Autonomie“), so braucht der türkische Staat keinen Ansprechpartner, um sie umzusetzen.
In den 15 Jahren des Kampfes hat es sicherlich Erfolge in einer ganzen Reihe von Bereichen gegeben. Doch im Gegensatz zu dem, was allgemein geglaubt wird, fand keine Akkumulation der nötigen Kräfte statt, um zu „einer politischen und demokratischen Lösung“ zu kommen. Im westlichen Landesteil hat es keine besonderen Fortschritte gegeben, nicht nur nicht bei den Türken, sondern auch bei den Kurden, die hier leben (und die fast die Hälfte der kurdischen Bevölkerung insgesamt darstellen).
Im übrigen war die Nationalbewegung (und vor allem die PKK) immer auf der Suche nach einer Verhandlungslösung mit der Regierung (und besonders mit den Militärs). Daher legt sie keinen besonderen Wert auf die Entwicklung einer Friedensbewegung im westlichen Teil des Landes (höchstens als Hilfskraft oder Wurmfortsatz, der ihr treu ergeben ist). Ihre Politik hat sich in dieser Hinsicht auf die sogenannten „Aktionseinheiten“ beschränkt, die ausschließlich mit Gruppen durchgeführt wurden, die ihre Hegemonie akzeptieren und deren Propaganda nur auf die eigenen Propagandazirkel ausgerichtet war.
Die sozialistische Bewegung hingegen ist dabei, ihre Kräfte zu sammeln. Die Kurdenfrage, aber auch der Kampf gegen den Fundamentalismus, stehen im Zentrum der politischen Aktualitäten. Es ist jedoch klar, daß ein vereinter Kampf gegen den Fundamentalismus und die Gefahr eines Staatsstreichs der Militärs, wobei darin eine politische und demokratische Lösung der Kurdenfrage vertreten wird, auf wirksame Weise nur geführt werden kann, wenn man die großen Massen der Arbeitenden dafür gewinnt. Und die Unterstützung der Arbeitenden kann man nur gewinnen, wenn man von ihren eigenen Problemen und Forderungen ausgeht.
Wenn man das bestehende Kräfteverhältnis ändern will, um über die gegenwärtige Sackgasse hinauszukommen, dann muß man vor allem aufhören, mit Einpunktprogrammen zu operieren, gleich ob diese sich auf den Frieden, den Laizismus oder die Demokratie beschränken. Man muß eben eine solide Brücke zwischen dem demokratischen und dem sozialen Kampf schaffen, um dadurch neue Schichten in die Kämpfe hineinzuziehen, indem man eine globale politische Aktivität entwickelt.
Die bekannten Probleme in den Beziehungen zwischen der sozialistischen und der Nationalbewegung werden in dem Maße noch offensichtlicher, wie die sozialistische Bewegung sich entwickelt. Wenn aus der sozialistischen Bewegung ein einfacher Satellit der kurdischen Nationalbewegung würde, würde sie nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit untergraben, sondern sich auch unfähig machen, ihren eigenständigen Beitrag zum Kampf für den Frieden zu leisten.
Die Nationalbewegung, und in erster Linie die PKK, die sicherlich ein nicht zu übergehender Faktor bei der Lösung der nationalen Frage darstellt, nimmt sich bisweilen das Recht heraus, willkürliche Kritiken, ja gar Beschimpfungen gegen die sozialistische Bewegung zu äußern. Angesichts dieses Sachverhalts muß die sozialistische Bewegung in ihrer Kritik der Nationalbewegung genauso radikal sein, wie in ihrem Kampf für die nationalen Rechte des kurdischen Volkes, wobei sie die Einheit aller Arbeitenden aller Nationen verteidigen muß. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen einer „bürgerlich-demokratischen“ (der der PKK) und einer wahrhaft internationalistischen Linie.
Istanbul, den 23. Januar 1999 Der Artikel entstand noch vor der Entführung Öcalans aus Kenia. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 330 (April 1999). | Startseite | Impressum | Datenschutz